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Das erste Leben (1909 bis 1931) Revolution in Schivelbein
ОглавлениеDie Schneereste auf den Wiesen um Schivelbein glänzten stumpf. Zwei Knaben versuchten, aus der nassen und schmutzigen Masse zwischen den knorrigen Apfelbäumen etwas zu formen, was ein Schneemann werden sollte. Der knapp zehnjährige Karl und sein zwei Jahre jüngerer Bruder Heinz zitterten am ganzen Leib. Die kalte Luft verwandelte ihre nassen Kleider in Eishüllen. Man hätte denken können, der in Hinterpommern gefürchtete Wind aus dem Osten komme an diesem Januartag des Jahres 1919 direkt vom Roten Platz in Moskau.
„Kinder, kommt sofort ins Haus!“
Die klare und melodiöse Stimme trug weit. Elsbeth Kuntze wäre gerne Sängerin geworden, aber einen solchen Wunsch hätte sie in ihrer Familie nie äußern dürfen. Ihr Vater Richard Schröder hätte bestenfalls gelacht und darauf aufmerksam gemacht, dass Mädchen keine höhere Ausbildung bräuchten und schon gar nicht in Musik. Ihre Bestimmung sei es, einen anständigen Mann zu finden und zu heiraten.
Sie musste sich an der Haustüre festhalten. Seit dem langen Krankenhausaufenthalt verursachte jede Anstrengung einen leichten Schwindel. Sie war zwar erst 35 Jahre alt, wirkte aber älter, ja, fast ein wenig verbraucht. Auf ihrem breiten Gesicht unter den leicht gewellten kurzen Haaren bildete sich ein dünner Schweißfilm. Sie fröstelte.
„Kinder, wo seid ihr? Kommt bitte schnell. Wir müssen euch etwas sagen.“
Die beiden Kuntze-Söhne waren froh, ihre Aktivitäten beenden zu können. Karl, ergriff die Hand von Heinz.
„Wir dürfen Mutter nicht warten lassen. Komm mit, wir machen morgen weiter!“
Im Wohnzimmer des Eisenbahnerhäuschens erwartete sie eine Überraschung. Der Bruder ihrer Mutter saß mit Vater am Tisch. Er stand auf, als die Beiden in den Raum gestolpert kamen. Unter den buschigen Augenbrauen fixierte er seine beiden Neffen.
„Na, ihr Beiden, habt ihr noch Schnee gefunden?“
Sein sonst so gepflegter Schnauzbart wirkte etwas zerzaust und lange Haarsträhnen hingen in sein Gesicht.
„Onkel Karl, das ist ja schön, dass du uns besuchst!“
Waldemar Kuntze, der noch die grauschwarze Eisenbahnerkluft trug, kratzte sich die hohe Stirn, die unter den beiden Geheimratsecken strenge Falten zeigte.
„Jetzt hört bitte zu! Euer Onkel wird ein paar Wochen bei uns wohnen.“
Karl strahlte über das ganze Gesicht, das ähnlich dem seines Vaters breit und rechteckig geformt war.
„Au fein, dann kannst du mit uns Schlittschuh laufen gehen.“
Waldemar griff nach der auf dem Tisch platzierten Schnapsflasche und füllte die bereits benützten Gläschen.
„Draus wird nichts! Niemand darf wissen, dass Onkel Karl bei uns lebt. Ihr seid schon große Jungens und ich bin mir sicher, dass ihr ein Geheimnis für euch behalten könnt.“
Elsbeth, die inzwischen das Zimmer betreten hatte, blickte missbilligend auf die Flasche.
„Mein Bruder muss sich hier vor bösen Menschen verstecken.“
„Aber warum? Was wollen die bösen Menschen von ihm?“
Karl Schröder leerte das Glas in einem Zug.
„Das ist nichts für kleine Jungens. Ihr versprecht mir auf die Hand, dass ihr niemandem erzählt, dass ich hier bin. Ist das klar?“
Er streckte seine rechte Hand aus. Karl schlug mit seiner darauf.
„Klar, Onkel, aber was ist mit dem Schlittschuh laufen?“
„Daraus wird diesmal nichts.“
Enttäuscht gingen die beiden Knaben am Abend ins Bett.
„Das ist richtig gemein von den Erwachsenen, dass sie uns nichts sagen. Wir würden bestimmt nichts verraten.“
Karl beschloss, in der nächsten Zeit seinen Onkel so lange zu löchern, bis er irgendetwas von dem offenbar schrecklichen Geheimnis herausrückte. Nach acht Tagen hatte er einen kleinen Erfolg. Er kam von der Klavierstunde nach Hause und traf seinen Onkel, der beim Geräteschuppen stand und versuchte, eine Pfeife anzuzünden.
„Wovor musst du dich verstecken? Ich werde niemandem etwas sagen. Großes Indianerehrenwort!“
Karl Schröder lächelte und entzündete ein neues Streichholz. „Ach, Karlchen, das ist eine sehr komplizierte Sache.“
„Ich bin kein Baby mehr und ich weiß auch schon viele Sachen.“
Eine dicke Rauchwolke quoll aus dem Pfeifenkopf.
„Du bist ein kluges Kerlchen. Also, hör zu, es ist so: Die wollen mich totschießen.“
Karl erschauerte und erinnerte sich an die Kampfgeschichten, die er in dem dicken Indianerbuch, dem ‚Lederstrumpf‘, gelesen hatte.“
„Wer will dich umbringen?“
„Böse Soldaten, die Arbeiter und ihre Freunde töten.“
„Aber warum denn?“
„Mein lieber Junge, wir haben die Revolution begonnen in Berlin.“
„Die Revolution? Was ist das denn?“
„Weißt du, meine Freunde und ich, wir hatten im Dezember das Deutsche Reich fast gewonnen, aber dann haben die Sozialdemokraten alles kaputt gemacht und Wahlen angesetzt. Die haben nichts begriffen! Im Januar mussten wir deshalb kämpfen und dann hat die SPD doch tatsächlich böse Freikorpssoldaten auf uns Spartakisten losgelassen.“
„Was sagst du, Sozialdemokraten, Spartakisten, Freikorpssoldaten? Das verstehe ich nicht.“
„Wie bitte? Entschuldige, Karlchen, das musst du auch nicht. Vergiss das alles und erzähle bitte niemandem etwas, auch nicht deinen Eltern.“
„Versprochen.“ Verwirrt sah Karl den Rauchkringeln nach, die sich aus dem Mund des Onkels in die kalte Januarluft kräuselten. Sie gingen miteinander ins Haus.
Karl Schröder hatte bei den Januaraufständen in Berlin-Lichtenberg gekämpft, was er Jahre später in seinem Roman ‚Die Geschichte Jan Beeks‘ literarisch verarbeitete. Bevor er am Tempelhofer Feld mit anderen Genossen zu Tode gekommen wäre, hatte er Berlin verlassen. Die Häscher der Brigade Berlin und vor allem die Schlächter aus den Freikorps unter Gustav Noske waren hinter allen her, die an den Aufständen teilgenommen hatten. Über 150 Revolutionäre kamen in diesen Januartagen zu Tode. Schlimmer noch waren die Gewaltexzesse nach der Besetzung Berlins durch die Freikorpssoldaten.
Der Lärm der Novemberrevolution war bis nach Hinterpommern gedrungen und man hatte von den Januarereignissen und dem Spartakusaufstand in Berlin gehört. Waldemar Kuntze, der schon vor einiger Zeit in die SPD eingetreten war, war nicht erfreut über diesen Gast, aber bei aller politischen Differenz blieb die familiäre Solidarität heilig.
Also durfte der Revolutionär bleiben. Vielleicht spürte Waldemar ein schlechtes Gewissen, weil die Einheit der Arbeiterklasse schon bei einer ersten Bewährungsprobe in Blut und Tränen zerstoben war. Friedrich Ebert, der sozialdemokratische Führer einer Räteregierung, des Rates der Volksbeauftragten, hatte die nicht in die staatliche Organisation einbezogenen Freikorpssoldaten auf die Aufständischen in Berlin marschieren lassen und damit die Revolution und den Aufbau des Sozialismus, den so viele erträumten, verhindert. Mit ihren aus dem Krieg mitgeführten schweren Waffen hatten die Freikorps leichtes Spiel mit den Angehörigen der am 1. Januar gegründeten Kommunistischen Partei Deutschlands, die die Macht in den Betrieben und damit auch im Staat erobern wollten. Es wurde ein Blutbad, dessen Spuren überall in Deutschland sichtbar wurden.
Schröder, der politische Freund von Rosa Luxemburg und Karl Liebknecht, gehörte zu den Gründern der revolutionären Partei, die den Parlamentarismus ablehnte und über die Herrschaft in den Fabriken die Diktatur des Proletariats und schließlich die klassenlose Gesellschaft errichten wollte.
Nach den von der SPD durchgesetzten und von der KPD konsequenterweise vehement abgelehnten Reichstagswahlen vom 19. Januar wüteten die Freikorpssoldaten im ganzen Reich bis etwa Mai 1919 und töteten alle, die sie für Kommunisten hielten. Schröder hatte Berlin sofort verlassen, als er erfuhr, dass eine sogenannte Bürgerwehr seine beiden Freunde verhaftet und ins Eden-Hotel verfrachtet hatte. Alle wussten, dass dort der Stab der Garde-Kavallerie-Schützen-Division residierte, der Spartakisten folterte und tötete.
“Einfach totgeschlagen haben sie sie, die Rosa und den Karl, und dann weggeworfen wie ein Stück Dreck!“
Viel diskutiert wurde im Hause Kuntze nicht. Erst viel später brachte Karl den Namen Rosa Luxemburg mit seinem Onkel in Verbindung. Er selber konnte sich im Alter nur daran erinnern, dass damals um die Umstände ein großes Geheimnis gemacht worden war, was seine Neugier erst recht geweckt hatte.
„Karlchen, du musst viel lernen. Wir brauchen gut ausgebildete Menschen, die eine sozialistische Zukunft bauen können. Streng dich an in der Schule!“
„Mach ich, Onkel Karl. Ich will mit dir die Welt besser machen.“
Als er abreiste, nahm der Onkel das Geheimnis und den Hauch von großer Geschichte mit sich in die große, ferne Stadt Berlin und Karl widmete sich wieder seinem Leben als Jugendlicher in der Provinz Pommern. Seit seiner Geburt am 5. April 1909 als Sohn des Lokomotivführers Waldemar und seiner zeitlebens kränklichen Frau Elsbeth lebte er in der Kleinstadt Schivelbein.
Das Städtchen gehörte zu Westpommern, auch Hinterpommern genannt, und ist seit dem Ende des Zweiten Weltkrieges ein Teil von Polen. Ein Grab der Eltern Kuntze und Schröder oder ein sonstiger Platz, an dem Karl ihrer hätte gedenken können, existiert nicht. Eine Reise nach Polen war nach dem Kriegsende und vor den Warschauer Verträgen von 1970 nicht im Bereich seiner Möglichkeiten. So blieb seine Herkunft aus Hinterpommern für die Familie von einem gewissen Geheimnis umwittert.
Er trug selber dazu bei, dass auch etwas Lächerliches damit verbunden war, wenn er gelegentlich folgende Anekdote erzählte: Bei einem Besuch des Kaisers in Schivelbein war der Lehrer mit den unteren Klassen angetreten, um dem Monarchen ein selber verfasstes Gedicht im Chor vortragen zu lassen.
„Ein Gruß soll dir aus Vorderpommern
Und aus dem hintern entgegendonnern!“
Noch als alter Mann fand er die Geschichte komisch und lachte meist selber, bevor er die Pointe erklärte.
Ein paar alte Ansichtskarten vermitteln nur einen schwachen Eindruck davon, was man sich unter diesem Ort vorstellen kann. Postkartenbilder mögen zwar wichtige Einblicke geben, die Realität kommt jedoch staubiger und weniger idyllisch daher als es diese glänzenden Reproduktionen glauben machen. Dennoch verschaffen die Fotografien eine kleine Vorstellung, auch wenn alles darauf so herausgeputzt aussieht, dass man es fast nicht glauben mag.
Verlässt man die Stadt in Richtung Osten, umschließen bewaldete Hügel eine längliche Wasserfläche, deren Verlauf das Urstromtal ahnen lässt, welches diese Landschaft vor Jahrmillionen geformt hat. Eine Allee aus Laubbäumen begleitet das linke Ufer eines Gewässers, das Fünfsee heißt. Es gehört zu einem Landstrich, den man wegen seiner Endmoränenhügel ‚pommersche Schweiz‘ nennt. Im linken Vordergrund des Fotos erkennt man eine Scheune in Fachwerkausführung.
In der Mitte der Stadt imponiert der mächtige Turm der Marienkirche. Er ist bis in große Höhe so breit angelegt, dass er einer einzigen, riesigen Backsteinfassade mit einem winzigen Deckel von Dach gleicht. Drei Reihen gotischer Fensteröffnungen verleihen dem Bauwerk Würde und Ruhe.
Ganz in der Nähe der Kirche befand sich der Marktplatz. Man sieht auf der Postkarte mehrere Pferdegespanne, die verloren auf dem von Häusern umschlossenen, menschenleeren und ungepflasterten Platz stehen. An einer barocken Fassade prangt eine schwarze Tafel, auf der man „Kaiser’s“ lesen kann, den Hinweis auf das im Erdgeschoss hinter großen Fenstern befindliche Kolonialwarengeschäft. Auf einem weiteren Foto erkennt man im Hintergrund sogar ein Automobil.
Der Bahnanschluss, der für die Familie große Bedeutung hatte, stellte das Tor zur Welt dar, das heißt in Richtung Norden zur Ostsee und nach Westen in Richtung Stettin. Der Weg nach Osten war seit 1918 durch den polnischen Korridor unterbrochen. Auf dem Foto sind die Schienen für den Fotografen das Wichtigste. Sie verlieren sich vor der im Hintergrund aufragenden Kirche und passieren eine Reihe von Bahnhofsgebäuden, wie sie Ende des 19. Jahrhunderts in Deutschland tausendfach gebaut worden sind.
So muss man sich das Städtchen Schivelbein und seine Umgebung, die pommersche Schweiz, zu Beginn des letzten Jahrhunderts vorstellen. Hier begann Karl sein erstes Leben.
Sein Vater, der als Lokomotivführer im Beamtenstand arbeitete, war zwar ständig unterwegs, kam aber nicht wirklich weiter, da er auf der Strecke zwischen Schivelbein über Polzin nach Dramburg hin und her fuhr. Manchmal wurde er für die Fahrt über Belgard nach Kolberg an der Ostsee eingeteilt. Waldemar liebte seinen Beruf. Mitgliedschaft in der SPD und in der Gewerkschaft waren für ihn selbstverständlich.
Karl war ein aufgewecktes Kind und die Abschiedsworte des Onkels hatten ihn angestachelt, auch wenn er nicht genau wusste, wie die zu bauende Zukunft genau aussehen sollte. Er durfte nach dem Abschluss der Volksschule auf der örtlichen Landwirtschaftsschule weiter lernen, die den Zugang zu höherer Bildung in Gestalt der mittleren Reife eröffnete. Für Waldemar war Bildung auch für die Kinder der Arbeiter und kleinen Leute ein wichtiges Anliegen, weshalb er gerne zustimmte, als die Lehrer ihm von den guten Leistungen seines Sohnes berichteten. „Er soll einmal etwas Besseres werden als ich“, hat er gedacht.
Viehzucht und Ackerbau gehörten neben den Grundfächern zum Lehrplan der Landwirtschaftsschule. Schaden konnte das dabei erworbene Wissen im späteren Leben nicht, wie er seinem Sohn erläuterte. Waldemar unterhielt zur Aufbesserung des mageren Gehalts wie viele kleine Beamte einen Garten zur Versorgung der Familie mit Salat und Gemüse. Da konnte es von Vorteil sein, wenn der Sohn sich ein wenig auskannte.
Von der großen Stadt Berlin, die Schröder als „Metropole“ bezeichnet hatte, blieben dem Neffen Karl nur die Erinnerungen an die Erzählungen des geheimnisvollen Onkels. In der Realität war die Stadt so weit weg, als läge sie auf einem anderen Planeten, aber der Name hatte einen besonderen Klang erhalten.
Zunächst blieb es aber neben der Arbeit im elterlichen Garten und der ohne Mühe absolvierten Schule bei gelegentlichen Ausflügen mit dem Vater, z.B. zum Angeln an den Beustriner See mit seinen stillen Wäldern oder eben nach Fünfsee. Natürlich fuhr man mit dem Fahrrad dort hin.
Ob wirklich Fische gefangen wurden, hat Karl nie erzählt. Aber bei Besuchen in dem Hafenstädtchen Kolberg an der Ostsee gab es Heringe und andere Köstlichkeiten zu essen. Jahrzehnte später, in den Sechzigerjahren des zwanzigsten Jahrhunderts, konnte man erleben, wie Karl auf einer Reise nach Holland ein Matjesfilet durch die geschnittenen Zwiebeln in einem Pergamentpapier zog, seinen Hals nach hinten bog und den Fisch mit einem seligen Gesichtsausdruck in den genüsslich geöffneten Mund führte.
Höhepunkt des eher beschaulichen Lebens in Pommern waren die Regelübertretungen, zu denen sich der Vater leider selten hinreißen ließ. Als Lokomotivführer und preußischer Beamter achtete er streng auf Einhaltung der Eisenbahnbetriebsordnung und generell der guten Ordnung und Disziplin – aber es gab Ausnahmen. Die Trasse der von ihm bedienten Kleinbahn führte von Schivelbein über Polzin nach Dramburg und wenn in den Sommerferien weniger Fahrgäste zu erwarten waren, durfte sich Karl hinter Polzin auf der dem Bahnsteig abgewandten Seite des Zuges nach vorne zur Lokomotive schleichen. Die Sprossen, die den Zugang zum Führerhaus ermöglichten, waren in großer Höhe angebracht und die Lokomotive stand meistens schon außerhalb des Bahnsteigs. Die Begeisterung und die Hand des Vaters mussten beim Klettern helfen. Für den Rest der Strecke teilte Karl sich mit dem Vater und dem Heizer den engen, lauten und beim Nachfüllen der Brennkammer heißen Fahrerstand. Begeistert ließ er sich Ruß und Wind um die Nase wehen.
In den Jahren während des 1. Weltkrieges mussten Karl und sein Bruder Heinz regelmäßig in dem Garten mitarbeiten, den die Familie als Wohltat der von der Deutschen Reichsbahn geförderten Bewegung der Eisenbahnerlandwirte nutzen durfte. Als Angehörigem der großen Reichsbahnfamilie stand Waldemar ein solches Stückchen Land zu. Die eigene Gemüseproduktion war für das Überleben der Familie von existenzieller Bedeutung.
Nach Kriegsende komplettierte eine Wandervogelgruppe das Freizeitangebot in Schivelbein, der Karl sich trotz gewisser Bedenken der Eltern anschließen durfte. Das distanzierte den Kuntze-Sohn von vielen traditionellen Familien, die den Sozis und diesen Naturburschen ohnehin misstrauisch begegneten. Dieses Misstrauen wurde durch die Wander- und Naturromantik der Gruppe verstärkt. Die Natur war für die Landbevölkerung ein eher feindliches Gegenüber, dem man mühsam den eigenen Lebensunterhalt abringen musste. Für Romantik war da wenig Verständnis und insbesondere für Gruppen, die sich zwar viel in der Natur aufhielten, aber ersichtlich dort nicht wirklich sinnvoll arbeiteten.
Es ist nicht überliefert, welcher der Richtungen und Abspaltungen dieser Jugendbewegung die pommersche Gruppe in Schivelbein angehörte. Sicher haben sie nicht nur das Thema der Alkoholabstinenz (das einen Grund für Spaltungen abgab) oder des gemeinsamen Wanderns von Jungen und Mädchen (das einen weiteren Streitapfel darstellte) diskutiert, sondern vor allem auf den gemeinsamen Ausflügen gesungen.
Ein in Ost- und Westpreußen etwa zu dieser Zeit entstandenes Lied gehörte zum Repertoire aller Richtungen des Wandervogels, eines, das in verschlüsselter Form das Elend und die Folgen des gerade erst beendeten Krieges besingt: „Zogen einst fünf wilde Schwäne, Schwäne leuchtend weiß und schön.“ Jeder wusste, was gemeint war, wenn es weiter heißt: „Sing, sing, was geschah? Keiner ward mehr geseh‘n“ und Karl kannte diesen Text bis ins hohe Alter mit allen vier Strophen, auch der über die „fünf jungen Burschen“, die kühn in den Kampf zogen und nicht heimkehrten.
Die Familie Kuntze lebte am Rande Schivelbeins und wenn seine Mutter es wünschte, zog Karl mit ihr über die breite Kolberger Straße, durch das hohe Backsteintor in den Park, der die grüne Oase um das riesige Deutschordensschloss darstellte, das leicht erhöht auf einem mauerumfassten Gelände stand. Mit dem Backsteinturm und der abgerundeten Fassade des Hauptgebäudes wachte es herrschaftlich über die Umgebung. Elsbeth liebte es, von einer kleinen Anhöhe in die weite Ebene des Rega-Tales zu schauen und sie liebte ihren Sohn Karl. Manchmal, wenn sie besser bei Kräften war, setzte sie sich an das Klavier, das die Familie sich leistete, und sang mit ihrer schönen Stimme anspruchsvolle Lieder.
‚Thomas der Reimer‘, das von Carl Loewe vertonte Fontane-Gedicht hatte es dem jungen Karl besonders angetan. Das Schicksal dieses Poeten, der der schönen Elfenkönigin für sieben Jahre angehören durfte, drückte etwas von der eigenen Hoffnung auf ein interessantes und schönes Leben aus. Er selber brachte sich neben dem Klavierunterricht in dieser Zeit das Gitarrenspiel bei und von einem Freund der Familie erhielt er ein Akkordeon sowie eine Einführung in die Grundtechnik dieses Instruments.
Diese seine Heimat musste Karl bereits 1925 verlassen, um weiter zu kommen.