Читать книгу Sieben Leben - Stefan Kuntze - Страница 15

Das zweite Leben (1931 bis 1934) Rote Kämpfer

Оглавление

Karl war nach Berlin zurückgekehrt, und er lebte wieder allein. Seinen 22. Geburtstag hatte er nicht groß feiern können, da er inzwischen berufstätig war. Als Absolvent der staatlichen Akademie hatte er tatsächlich eine Stelle als Schulamtsbewerber bekommen und war angesichts der auf fast 5 Millionen gestiegenen Zahl der Arbeitslosen froh, überhaupt Beschäftigung zu finden. Verlangt wurde eine volle Lehrertätigkeit, was den Berufsanfänger viel Zeit kostete. Mit den gegenüber hauptamtlichen Lehrern geringeren Bezügen, die infolge per Notverordnung angeordneter Kürzung der Beamtengehälter um 6 % noch weiter reduziert ausbezahlt wurden, konnte er sich einen bescheidenen Lebensunterhalt sichern.

Zufrieden mit seiner Situation war er, weil er an der Volksschule der „Karl-Marx-Schule“ eingesetzt wurde, über deren Leiter, Fritz Karsen, er im Studium viel gehört und den er als Ikone der Schulreform begriffen hatte. Die Überwindung der Dreistufigkeit in den öffentlichen Schulen war eines der Anliegen der von Karsen vertretenen Bildungsrichtung. Hier an dieser Schule, so hoffte Karl, werde er viel von dem realisieren können, was er in der Akademie und bei der Exkursion über moderne Erziehung gelernt hatte. In seinen Erinnerungen schreibt er zu dem Klima in der Schule:

„Etwa die Hälfte des Kollegiums war in der SPD und die andere Hälfte in der KPD organisiert. Stundenlange Diskussionen über den richtigen Weg zum Sozialismus und zu einer freieren Erziehung gehörten in den Konferenzen neben der intensiven Schularbeit zum täglichen Brot.“

Karl war inzwischen ein stattlicher Mann. Mit einer Körpergröße von über 1,80 m und der sportlich-schlanken Figur hatte er nicht nur Marianne beeindruckt. Von seinem Vater hatte er die hohe Stirn geerbt, die durch den an beiden Seiten des Kopfes etwas zurückspringenden Haaransatz einen ganz eigenen Schwung ausstrahlte. Die dunklen, fast schwarzen Haare kämmte er meist nach hinten, sodass diese dynamische Linie verstärkt zur Geltung kam.

Seine dunkelbraunen Augen blickten freundlich-zurückhaltend in die Welt. Bei Diskussionen hörte er viel zu, mischte sich aber vehement ein, wenn er Ausführungen anderer skeptisch beurteilte.

Er hätte nach seinem Umzug gerne Marianne wiedergesehen. Eine Adresse hatte sie ihm zwar nicht gegeben, aber er kannte ja die Wohnung der Boses in der Hasenheide, wagte jedoch nicht, sich dort zu melden. Viel Zeit für das erwünschte Privatleben hätte er allerdings nicht gehabt, da ihn die Arbeit voll ausfüllte.

Nach der Ankunft in Berlin hatte er wieder Kontakt mit seinem Onkel aufgenommen. Er bewunderte diesen klugen und eloquenten Mann und war ihm gegenüber zugleich etwas befangen, weil er oft meinte, dessen hohen Ansprüchen nicht genügen zu können. Außerdem schmerzte es ihn trotz aller Hoffnungen auf eine Beziehung zu Marianne, dass Inge Schröder sich einem anderen Mann zugewandt hatte. Sie hatte ihn an der Wohnungstür nur kurz begrüßt. Die inzwischen fünfzehnjährige Ulla empfing ihn mit einem strahlenden Lächeln. Was für ein feiner Kerl sie doch ist, dachte er und schämte sich sofort. Sie war noch ein Kind.

„Grüß dich, Karl. Schön, dass du wieder in Berlin bist. Ich hab leider gar keine Zeit. Vater ist in seinem Arbeitszimmer. Du kennst dich ja aus.“

Nach diesen Worten war sie durch den langen Flur gehuscht und in ihrem Zimmer verschwunden. In ihrem Blick war noch die Enttäuschung zu erahnen, dass der Vetter sich beim letzten Aufenthalt in Polzin vor einem Jahr nur mit ihrer ältesten Schwester beschäftigt hatte. Sie war zwar damals noch sehr jung gewesen, aber was machte das schon? Nie hatte er bemerkt, wie sehr sie ihn bewunderte und liebte, und jetzt war es zu spät. Ulla wollte gern einen Mann heiraten, aber der geliebte Vetter war gedanklich weit weg und mit einer anderen Frau liiert, hieß es. Sie hasste die Unbekannte.

Den Onkel fand Karl in seinem Arbeitszimmer an dem vor dem Erkerfenster stehenden Schreibtisch, der noch voller zu sein schien als vor zwei Jahren. Karl Schröder fuhr sich mit der Hand durch die dichten Haare und holte tief Luft. Er verbarg seine Freude über den Besuch hinter einem intensiven Blick. Unter seinem stattlichen Schnurrbart verzog sich der Mund langsam zu einem Lächeln.

„Na, mein lieber Neffe, kann man dich nun auf die Menschheit loslassen, Du Herr Lehrer? Komm her und lass dich umarmen!“

Er drückte ihn heftig und klopfte väterlich seinen Rücken. Als sie zwei Stühle freigeräumt und sich gesetzt hatten, langte er seine Pfeife vom Fensterbrett und begann, sie zu stopfen.

Karl Schröder, der Sohn des Patriarchen Richard, hatte es bedauert, keinen Sohn gezeugt zu haben. Dies war mit Grund dafür, dass er sich intensiv um seinen Neffen kümmerte. Schröder war ein Spross des 19. Jahrhunderts, und in seiner Familie wurden den Mädchen wie selbstverständlich nicht die gleichen Bildungschancen eingeräumt wie ihm, dem einzigen Sohn. Er hatte studieren dürfen, die zwei Schwestern nicht. Irgendwie muss er diese Einstellung verinnerlicht haben, denn auch seine drei Töchter erhielten keine Unterstützung bei ihren Studienwünschen.

Karl genoss die Aufmerksamkeit dieses Onkels sehr, der so viel mehr zu vermitteln hatte als sein eher schlichter Vater. Schröder verkörperte für ihn seit den Berliner Schülerjahren eine intellektuelle Herausforderung und ein Vorbild an Klarheit.

„Ich habe sogar eine Stelle in der Karl-Marx-Schule.“

„Na, wenn das kein gutes Vorzeichen ist.“

Über den Jan Beek und seinen Anschlag auf den Lokomotivführer Wal Kuntze mochte Karl nicht sprechen. Er hätte nicht gewusst, wie er seine persönliche Betroffenheit in eine sachliche Kritik hätte verpacken können. Das spielte aber keine Rolle, da der Onkel angesichts der Zuspitzung der politischen Situation andere Dinge im Kopf hatte als seine literarischen Reminiszenzen an den Generalstreik von 1920. Er setzte die Pfeife in Gang und begann anschließend zu dozieren.

„Jetzt muss ich dich aber gleich auf das Laufende bringen. Die politische Arbeit duldet keinen Aufschub. Pass einmal auf!“

In den Kreisen der Sozialwissenschaftlichen Vereinigung hatte sich seit der Abreise Karls einiges verändert. Schröder und die anderen führenden Köpfe und KAPD-Aktivisten Reichenbach und Schwab hatten bereits 1929 erkannt, dass der Kapitalismus und die bürgerliche Republik sich in einer entscheidenden Krise befanden. Gleichzeitig war ihnen klar, dass die Arbeiterklasse in ihrer derzeitigen Zersplitterung diese Krise nicht für die eigentlich fällige Revolution nutzen konnte.

Für sie stand fest, dass ein diktatorisches Regime der immer stärker werdenden Nationalsozialisten zu erwarten war und dass dieses keine kurzfristige und sich gewissermaßen von selbst erledigende Angelegenheit werden würde. Dazu genossen die Nazis zu starke Unterstützung durch das Großkapital. Man werde sich auf eine lange Phase der Illegalität einrichten müssen. Hierzu hatten sie akribische Vorbereitungen getroffen.

Der zweiundzwanzigjährige Karl kam in dieser Situation nicht dazu, viel aus dem eigenen Leben zu erzählen, da der Onkel ihm nach der Begrüßung sofort ein Manuskript in die Hand drückte und erklärte, was zu tun sei. Er zitierte hierbei bewusst Lenins bekannte Schrift von 1902, denn schließlich ging es auch ihm um die Bildung einer Organisation der Avantgarde, die die Geschichte vorantreibt.

„Also Karlchen, jetzt hör einmal zu! Was tun? Die Zeiten haben sich geändert. Mit Arthur Goldstein und Peter Utzelmann habe ich im letzten Jahr einmal zusammengefasst, worauf es heute ankommt.“

Auf zwei hektographierten Blättern war die Überschrift zu lesen: „Grundlinien für Gruppenarbeit“. Weiter kam er nicht, denn der Onkel fuhr fort:

„Wir müssen einen konspirativen Kern von Menschen bilden, die die Idee des Sozialismus bewahren und weitertragen, bis wieder Zeiten anbrechen, in denen an ihre Umsetzung gegangen werden kann. Dazu müssen wir im ganzen Reich kleine Gruppen bilden.“

„Ja, aber die Proletarier, was ist mit denen?“

Karl war selber überrascht, als er diese Frage gestellt hatte. Sie lag aber durchaus nahe. Nach den in vielen Vorträgen verinnerlichten theoretischen Grundlagen bedurfte es für die Errichtung einer sozialistischen Gesellschaft einer revolutionären Situation und eines Subjekts, diese Situation zu nutzen: das waren die Arbeiter! Ohne die Massen des Proletariats war eine Revolution undenkbar! Dieser Satz gehörte zur Grundüberzeugung der Rätekommunisten, gewissermaßen zu ihrem Glaubensbekenntnis.

„Daran haben wir natürlich gedacht, was glaubst du denn? Hier lies!“

Die Passage, auf die Schröder hinwies, lautet: „Die Gruppen bezwecken die kollektive Zusammenfassung von aktiven, in unserem Sinne oppositionellen Genossen. Unter aktiven Genossen sind in erster Linie solche zu verstehen, die bereits als Einzelne den oppositionellen Kampf innerhalb ihrer Organisation geführt haben und noch führen. Jede Gruppe braucht, abgesehen von unserem Vertrauensmann, wenigstens einen solchen Genossen, um sich ihre Aufgaben stets klar zu stellen. Ihre politische Bedeutung nimmt allein zu mit der Anzahl der aktiven Genossen.“

„Wer, meinst du wohl, sind diese aktiven Genossen?“ Schröder sah seinen Neffen streng an.

„Na ja, ich denke, das sind wir und die anderen von der SWV.“

„Nein, wir stellen die Vertrauensmänner, die den Kern einer revolutionären Organisation bilden. Das ist der Punkt! Wir wollen aber keine Verintellektualisierung der Organisation, sondern werden arbeitende und arbeitslose Proletarier einbeziehen. Die sind mit den aktiven Genossen gemeint. So wird ein Schuh daraus!“

„Aha … und wie sollen die Gruppen heißen?“

„Das wissen wir noch nicht und das ist auch nicht das Wichtigste.“

Karl hatte ein Thema angesprochen, das nicht leicht zu durchdringen war. Es gab nämlich keinen Gründungsparteitag oder ähnliches und auch keine Abstimmung über Namen und Ziele. Irgendwie war die Organisation auf einmal da! Was Karl allerdings nach dieser Begegnung verstanden hatte, war, dass es den großen Denkern nicht um die Gründung einer Partei im traditionellen Sinn ging. Diese Erkenntnis war nicht neu, da man in seinen Berliner Jahren von 1927 bis 1929 immer von der Notwendigkeit einer Machtübernahme in den Betrieben durch Arbeiterräte gesprochen hatte. Der von der SPD unterstützte Parlamentarismus, an dem sich auch die von Moskau ferngesteuerte KPD beteiligte, war ein Machtinstrument der bürgerlichen Klasse zur Verteidigung der kapitalistischen Wirtschaftsordnung. Soviel hatte er begriffen.

Aber jetzt ging es offenbar nicht mehr um die Revolution, jedenfalls nicht heute oder morgen. Sie hatten den Plan einer revolutionären Umwälzung aufgegeben oder zumindest auf Eis gelegt. Es ging ums Überleben der Menschen und der Idee! War die Situation tatsächlich so schlimm? Irgendwie hatte er in der Frankfurter Zeit etwas versäumt oder vielleicht nur nicht aufgepasst.

Die ersten Treffen der neuen und geheimen Berliner Gruppe, die er nach seiner Rückkehr besuchte, fanden in Hinterzimmern von Eckkneipen oder anderen Lokalen statt und waren alles andere als Massenveranstaltungen. Außer Peter Utzelmann und Ernst Fröbel, der als Schneider arbeitete und seit kurzem mit Schröders Tochter Ulla verbunden war, hatte er keine Menschen aus der Arbeitswelt gesehen, die man als Proletarier hätte bezeichnen können.

Irgendetwas ist ihm damals aufgestoßen. Karl hat im Alter bei Gesprächen über die politische Tätigkeit in den Dreißigerjahren zum Ausdruck gebracht, dass das Konzept der Gruppe in gewisser Weise utopistisch gewesen sei und eigentlich nie eine Chance zur Verwirklichung der Grundidee bestanden habe. Damals war er jedoch begeistert.

In den Vortragsveranstaltungen der Sozialwissenschaftlichen Vereinigung, die sich weiterhin an Jungsozialisten, Sozialistische Arbeiterjugend und andere linke SPD-Mitglieder wandten, traf er viele junge Leute aus der Gewerkschaft und von den Universitäten, die mit der revisionistischen Politik der SPD und insbesondere der Tolerierung des Brüning‘schen Regierens durch Notverordnungen unzufrieden waren. Dennoch galt für alle Teilnehmer, dass man die größte, nicht von der Sowjetunion gegängelte Organisation der Arbeiterklasse, die SPD, nicht rechts liegen lassen könne und deshalb in ihr aktiv sein müsse.

Die durch Stimmenthaltung der SPD im Reichstag am 20. März tolerierte Bewilligung einer ersten Rate für den Bau eines weiteren Panzerkreuzers löste bei den jungen Aktiven Wut und Verbitterung aus. Die Diskussionen in der SWV wurden hitziger, und man erlebte heftige verbale Angriffe gegen die Parteiführung.

„Die schmeißen sich den Bürgerlichen an den Hals und merken nicht, dass sie an dieser Umarmung ersticken werden. Außerdem grenzt das an Verrat der Arbeiterklasse.“

Beifall brandete auf. Der Jungsozialist aus Dresden, der vielen schon in der letzten Woche aufgefallen war, hatte im Anschluss an den Vortrag Schröders über die Notwendigkeit der illegalen Arbeit und des Kampfes in Zeiten wie diesen das Wort ergriffen. Als er an seinen Platz neben Karl zurückkam, wandte der sich an ihn.

„Da hast du aber Recht, Genosse. Es ist wirklich nicht zu glauben, was die SPD in ihrer Blindheit veranstaltet. Wann wachen die endlich auf?“ Und nach einer kurzen Pause: „Wie heißt du eigentlich und wo kommst du her? Ich habe dich hier noch nicht gesehen.“

„Ich komm aus Dresden. Ich bin der Helmut Wagner.“

Jetzt erst fiel Karl die Dialektfärbung seines Nachbarn auf, die er bei dem öffentlichen Redebeitrag nicht erkannt hatte.

„Freut mich, ich bin Karl Kuntze aus Berlin. Ich muss kurz einmal raus. Hier ist die Luft zu stickig.“

„Du ahnst gar nicht, wie Recht du hast. Hier herrscht dicke Luft. Ich komme mit. Viel verspreche ich mir von dieser Diskussion sowieso nicht.“

Sie standen auf dem Hof des Parteilokals und rauchten eine Zigarette miteinander.

„Weißt du eigentlich, was die SPD mit uns jungen Sozialisten vorhat?“

„Was wird das schon sein? Sicher nichts Gutes!“

„Sie nennen es ‚Organisationsreform‘, aber es geht darum, die Jungsozialisten an die Kette zu legen.“

„Wie das?“

„Im letzten November haben wir bei der Kundgebung in den Autohallen unseren jungproletarischen Ordnerdienst eingesetzt, um die Nazis abzuwehren und da haben uns doch tatsächlich die Typen vom Reichsbanner angegriffen. Stell dir das vor: die eigenen Leute!“

Karl hatte von dieser Auseinandersetzung gehört, weil in der Folge die SPD-Führung alle Berliner Ortsgruppen der Jungsozialisten per Dekret aufgelöst hatte. Die Maßnahme wurde damit begründet, sie seien zur Partei in der Partei geworden.

„In Leipzig wird in der nächsten Woche eine Reichskonferenz abgehalten. Da werden wir diesen Anschlag auf die linke Jugend abwehren! Du musst einmal unsere Zeitschrift lesen, den ‚Roten Kämpfer‘, da schreiben alle wirklich Fortschrittlichen, worauf es jetzt ankommt.“

Karl dachte kurz an seine ersten Begegnungen mit dem Onkel und an dessen festen Glauben an die Revolution.

„Meinst du wirklich, wir können die Revolution schaffen, bevor die Faschisten die Macht übernehmen?“

„Aber klar doch! Ja, die Nazis haben bei den Septemberwahlen einen gewissen Erfolg gehabt, aber was sind schon 18 Prozent? Schau dir doch einmal an, wie viele Deutsche links gewählt haben. Das waren fast 40 Prozent. Es wäre doch zum Lachen, wenn wir da nicht weiterkämen.“

Die linke Mehrheit, der Traum aller Fortschrittlichen! Karl war sich nicht sicher, ob er den Optimismus des Genossen teilen konnte, aber er bewunderte die Entschlossenheit des fünf Jahre Älteren.

„Vielleicht hast du ja Recht. Wirst du in Leipzig dabei sein?“

„Das ist klar wie Kloßbrühe. Wir werden die Parteibosse vorführen, das kann ich dir versprechen! Denk dran, wir werden die Roten Kämpfer sein!“

Sieben Leben

Подняться наверх