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Neue Perspektiven
ОглавлениеKarl Schröder verbreitete in diesen Jahren die Einschätzung der politischen Lage und seine Ideen zur Errichtung der Räteherrschaft, die den Kapitalismus schließlich überwinden werde, bei Vortrags- und Diskussionsabenden der Jungsozialisten und der sozialistischen Arbeiterjugend. Hier waren junge Leute anzutreffen, die mit dem Kurs der Mutterpartei SPD unzufrieden waren.
Was er wirklich dachte, als er mit seinem Neffen sprach, ist nicht bekannt. Es war eigentlich offensichtlich, dass die revolutionäre Situation in Deutschland vorüber und die beschworene Einheit der Arbeiterklasse nicht erreicht war. Jedenfalls begann er damals mit der Beschränkung seiner Absichten auf die Schulung von Menschen, die die sozialistischen Gedanken bewahren und in einer ferneren Zukunft verwirklichen sollten. Das war Ziel der aus seinen Vorträgen und einer damit zusammenhängenden Sozialwissenschaftlichen Vereinigung (SWV) hervorgegangenen Organisation der „Roten Kämpfer“.
Karl besuchte in den folgenden knapp zwei Jahren oft die Veranstaltungen der SWV, musste dies in der Schule aber irgendwie kaschieren. Er sei immer heimlich hingegangen, schrieb er. Andererseits heißt es weiter, im Schlafraum des Internats, den er mit fünf anderen Jungen teilte, habe es „am Abend die heftigsten politischen Diskussionen“ gegeben. Sein Mitschüler Johannes Schröter schlug sich meist auf seine Seite und manchmal kam er zu den Vorträgen mit.
Die Schule wurde unmittelbar nach der Machtergreifung der Nationalsozialisten geschlossen und in eine Eliteschule für den Nazinachwuchs, eine nationalpolitische Erziehungsanstalt (Napola), umgewandelt. Das Lehrpersonal in der Zeit davor spiegelte – so schreibt Karl –die politische Landschaft wider. Es gab also darunter Sozialdemokraten und andere Linke. Das war für die neuen Machthaber im Jahr 1933 zu viel der Vielfalt.
Karl verbrachte nach dem Besuch bei seinem Onkel eine unruhige Nacht. Er hat nie etwas über seine Klassenkameraden berichtet, obwohl ein paar Jungen aus Pommern mit ihm nach Berlin gekommen waren. Den Johannes traf er 1934 in Ostpreußen und 1935 als Mitangeklagten im Gerichtssaal wieder.
Daher ist nicht bekannt, was er von seinem kommunistischen Onkel und dessen Vorträgen erzählt hat. Ob ihm in den Träumen der Nacht vor dem ersten Besuch bei der SWV das von seinem Onkel beschworene Bild des Leichnams aus dem Landwehrkanal erschienen ist, bleibt im Dunkel.
Den Nachmittag vor dem Vortragsabend hätte Karl nach Schulschluss in der neu eröffneten Galerie Neumann-Nierendorf in der Lützowstraße verbringen können. Vielleicht hätte ihm jemand vorher in der Nähe die Stelle im Landwehrkanal zeigen mögen, an der der übel zugerichtete Leichnam Rosa Luxemburgs im Mai 1919 gefunden worden war.
Die Eröffnungsausstellung der Galerie mit dem Titel „Werke lebender Künstler“ zeigte auch Arbeiten von Otto Dix. Dessen schonungslose Darstellung der Wirklichkeit und der Folgen des 1. Weltkriegs hätten dem pommerschen Jungen die Auswirkungen des Kapitalismus und der nationalistischen Politik plastisch vor Augen geführt.
Vorstellen kann man sich, wie er vor der Prozession der vier menschlichen Wracks steht, die der Maler in dem Gemälde „Die Kriegskrüppel“ von 1920 festgehalten hat. Man sieht entstellte und amputierte Körper, zu Fratzen verzerrte Gesichter und vom rechten Bildrand her einen herrischen, ausgestreckten, weißen Arm, der die armseligen Gestalten quasi aus dem Bild hinauszuweisen scheint. Mit Sicherheit hat er dieses Bild und andere – etwa von George Grosz –in Berlin zu Gesicht bekommen und war tief beeindruckt von ihnen.
Noch mehr hat ihn das berührt, was er im Verlauf der nächsten Monate in den Vorträgen seines Onkels und anderer intellektueller Köpfe zu hören bekam. Sehr schnell begriff er, dass es darum ging, einerseits Einfluss auf Mitglieder der SPD zu nehmen und andererseits, den falschen Weg der Bolschewisten in Russland und der KPD zu erkennen und zu vermeiden.
„Die Weltgeschichte war plötzlich für mich völlig klar. So einfach war das für einen jungen Menschen.“, schrieb er im Jahr 1987 in seinen Erinnerungen. Die Beschäftigung mit dem historischen Materialismus lieferte Erklärungen und Handlungsanleitungen. Wenn man die Methode richtig verstand und anwendete, wurde alles einfach.
Einer der Referenten im Dienste der SPD war Bernhard Reichenbach, der die Erfahrungen seines bis dahin bewegten politischen Lebens an die Jugend weitergeben wollte. Blättert man in Texten Reichenbachs aus den Zwanzigerjahren, fällt sofort die Radikalität der Gedanken und die Schärfe der Argumentation auf.
Das liest sich z.B. so: Die Entwicklung der Deutschen Revolution „stand unter dem Einfluss der Tatsache, dass, als das deutsche Proletariat zum ersten Mal in den Zustand aktiv-revolutionärer Massenbewegung hineingeriet, die Diktatur der Bourgeoisie mit noch nicht dagewesenen Mitteln des durch den Krieg schon jahrelang herrschenden Belagerungszustandes, schärfster Rede-, Presse- und Versammlungsknebelung, eine klärende Auseinandersetzung unmöglich machte.“
Nachdem Karl diesen Satz zweimal gelesen hatte, dämmerte ihm der Inhalt. Es ging offenbar um die „klärende Auseinandersetzung“, das heißt eigentlich die politische Diskussion. Man muss sich fragen, ob Reichenbach und die vielen aus dem Umfeld dieser Linkssozialisten auch den bewaffneten Kampf gemeint haben. Sie hatten alle die revolutionäre Situation am Ende des Krieges bewusst erlebt, aber dass sie nach den sieben ohne wirkliche Veränderung der Macht- und der Eigentumsverhältnisse vergangenen Jahren noch an die unmittelbar bevorstehende proletarische Revolution glaubten, ist schwer nachvollziehbar. Doch äußerten sie sich in diesem Sinne.
Was sie verband war die marxistische Grundüberzeugung, dass die Geschichte nach Gesetzmäßigkeiten ablaufe und dass man mit der Methode des historischen Materialismus zu richtigen Einschätzungen und damit zum richtigen Handeln gelangen könne. Sie lehnten den Parlamentarismus als bürgerliches Herrschaftsinstrument des Kapitals ab und strebten eine Machtübernahme in den Betrieben im Sinne einer Räteherrschaft an.
Anfang der Sechzigerjahre des 20. Jahrhunderts habe ich Reichenbach persönlich kennengelernt. Damals war ich etwa so alt, wie Karl im Jahr 1925. Zunächst war es nur die Stimme aus dem Radio, da er beim Süddeutschen Rundfunk als Englandkorrespondent arbeitete. Er besuchte meine Familie aber auch in Stuttgart und brachte die von allen geliebte Cadbury-Schokolade mit.
Seine rhetorische Brillanz und die inhaltlich klare Argumentation beeindruckten genauso wie sein geradezu britischer Humor. Stellt man sich diese Persönlichkeit 30 Jahre jünger und noch voller Hoffnung auf einen Sieg von Vernunft und Sozialismus in Deutschland vor, kann man gut verstehen, dass der wissbegierige und begeisterungsfähige junge Karl ihm an den Lippen hing. Er selber hat dies plastisch formuliert: „Gierig nahm ich die neuen Erkenntnisse in mich auf.“
Gemeinsam war den Männern um Schröder der Glaube an die Möglichkeit einer sozialistischen Gesellschaft, in der allein die wahren Bedürfnisse und die besseren Argumente eine Rolle spielen würden. Rosa Luxemburgs Motto: „Keine Demokratie ohne Sozialismus, aber auch kein Sozialismus ohne Demokratie“ war Fixpunkt ihrer Überzeugungen. Diesen Satz konnte man oft aus dem Mund Karls hören.
Er war 1927, im Alter von 18 Jahren, überzeugt, dass er an dem Kampf für den Sozialismus teilnehmen würde und dass er dies – dem Beispiel seines Onkels folgend – am besten in der großen Arbeiterpartei tun sollte. Er trat der SPD bei, was Vater Waldemar begrüßte, auch weil er von den Hintergründen dieser Entscheidung nichts Näheres wusste.
Die Zersplitterung der politischen Landschaft der Weimarer Republik und insbesondere die geradezu endemische Spalterei im linken Lager war auch Gegenstand der Vorträge, die Karl seit seinem Schulbeginn in Berlin regelmäßig besuchte. Dort begegnete ihm auch der Internationale Sozialistische Kampfbund (ISK).
Auch dessen Anhänger agierten in der Sozialdemokratie, die Josef Stalin bereits 1924 als den Zwillingsbruder des Faschismus bezeichnet hatte. Diese unsägliche Charakterisierung, dass die SPD eine bloße Variante des Faschismus sei, hatten die sowjetisch gesteuerten Parteien auf dem 10. Plenum der Komintern 1929 wieder aufgegriffen und zur offiziellen Doktrin kommunistischer Politik gemacht. Es war nur noch eine Formsache, dass die KPD diese Leitlinie am 16. Juni 1929 per Beschluss bestätigte. Damit war für einen Kommunisten in Deutschland jegliche Einheitsfrontpolitik mit dieser SPD tabu.
Was hätte näher gelegen, als dass sich spätestens jetzt die recht zahlreichen linken Gruppierungen, die den sowjetischen Führungsanspruch nicht anerkannten, zusammengetan hätten? Alexander Schwab und Karl Schröder hatten in diesem Jahr begonnen, eine Kaderorganisation aufzubauen, weil sie angesichts des erstarkenden wirklichen Faschismus der Nationalsozialisten mit einer kommenden Phase der Illegalität aller linken Parteien und Gruppen rechneten. Das war letztlich der Gehalt ihrer Arbeit in der SWV, die schon 1928 allein in Berlin 800 Mitglieder zählte. Eine Parteimitgliedschaft war nicht Voraussetzung der Teilnahme am sozialistischen Diskurs.
Ein Austausch mit Anhängern des ISK fand vereinzelt statt, da man einander bei Veranstaltungen der Jungsozialisten, der Sozialistischen Arbeiterjugend oder eben der SWV innerhalb der SPD oft begegnen konnte.
Karl bekam von den vorsichtigen Anfängen seines Onkels und seiner politischen Freunde, die bald in die Organisation der „Roten Kämpfer“ münden sollten, nichts mit. Anfang 1929 hatte er das Abitur geschafft und musste sich mit der eigenen Zukunft befassen. Er beschloss, Lehrer zu werden, um Wissen und Erkenntnisse weiter zu geben und am Aufbau einer menschlichen Zukunft in Deutschland und der Welt teilzunehmen. Dass die Gesellschaft der Zukunft eine sozialistische sein würde, war selbstverständlich. Diese Erkenntnis musste den Jungen möglichst frühzeitig vermittelt werden. Am besten von Beginn der Schulzeit an, weshalb Volksschullehrer der Beruf seiner Wahl wurde. Außerdem lag ein Universitätsstudium außerhalb der familiären Vorstellungen und finanziellen Möglichkeiten.