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Ein Szenenwechsel
ОглавлениеSchröder brachte seinen Neffen und dessen Pappkoffer zum Anhalter Bahnhof und verabschiedete den Studienanfänger in der riesigen Halle, wo er auf den Zug nach Frankfurt am Main warten musste.
„Denk immer dran, Karlchen, wir müssen die Köpfe sein. Wenn du in zwei Jahren als Lehrer wiederkommst, kannst du mit uns die Revolution vorbereiten.“
„Ich werde mich anstrengen.“
„Und vergiss nicht, dich bei der SPD in Frankfurt zu melden. Wir müssen die Proletarier da abholen, wo sie sind.“
Etwas unbeholfen nahm er seinen Neffen in die Arme, der dabei fast seinen Koffer fallen ließ und drückte ihm ein in Zeitungspapier eigewickeltes Päckchen in die Hand.
„Damit dir die Fahrt nicht zu lang wird. Und wenn du nach Berlin kommst, schau bei mir vorbei.“
Karl winkte ihm nach, bis er durch das riesige Portal verschwunden war und sah sich um. Auf einem der Gleise an der Seite stand einer der luxuriösen Salonwagen der MITROPA, die gerade erst entwickelt und in Dienst gestellt worden waren. Er war fasziniert von dem sichtbaren Luxus und gleichzeitig musste er daran denken, wer es sich wohl leisten konnte, einen solchen Wagen wirklich zu benützen.
Er freute sich, dass er in dem D-Zug einen Sitzplatz ergattern konnte und wickelte sofort das Päckchen aus. Der Onkel hatte ihm sein neuestes Werk, den 1928 erschienenen Roman „Die Geschichte Jan Beeks“, als Geschenk mitgegeben. Sofort begann er zu lesen und konnte damit bis Frankfurt nicht aufhören.
Er brauchte nicht lange, bis er begriff, dass Schröder in diesem Buch das eigene Leben als Revolutionär hinter der Person des Proletariers Jan Beek reflektierte. Dessen inständiger Wunsch, den revolutionären Kampf möglichst sofort zu beginnen und aus dem Generalstreik vom März 1920 direkt in den Kampf um die Herrschaft der Arbeiterklasse überzugehen, war offenbar auch der seines Onkels gewesen.
Es muss für Schröder ein prägendes Erlebnis gewesen sein, als durch einen flächendeckenden Generalstreik das komplette öffentliche Leben in Berlin vom Verkehr bis zur Gas-, Elektrizitäts- und Wasserversorgung stillgelegt wurde und eine vereinigte Arbeiterschaft die putschende Brigade Ehrhardt und ihren General von Lüttwitz nach fünf Tagen zum Aufgeben zwang. Bereits am 17. März, vier Tage nachdem die meuternden Soldaten mit den weißen Hakenkreuzen auf ihren Stahlhelmen das Brandenburger Tor durchschritten hatten, floh der von den Putschisten zum Reichskanzler ernannte Verwaltungsbeamte Wolfgang Kapp nach Schweden.
Als SPD und Gewerkschaften nach Zugeständnissen der nach Stuttgart geflohenen Reichsregierung den Streik für beendet erklärten und zur Wiederaufnahme der Arbeit aufriefen, versuchten Anhänger von KPD und USPD, den Kampf fortzusetzen. Das schildert der Roman anhand des Schicksals von Jan Beek.
Eher zufällig kommt dieser Mann über eine der Großdemonstrationen zum bewaffneten Kampf. Er vernachlässigt Frau und Kinder, um sich der revolutionären Bewegung anzuschließen. Als er die Nachrichten aus dem Ruhrgebiet hört, ist er überzeugt, dass die reale Möglichkeit für die kämpfenden Arbeiter bestehe, die Macht zu übernehmen. Was die Proletarier im Ruhrgebiet mit der Bildung der „Roten Ruhrarmee“ geschafft hatten, müsste doch in ganz Deutschland möglich sein. Jan Beek, der Kommunist geworden war, kämpfte in Berlin-Lichtenberg gegen die Truppen der Freikorps. Nach der Niederlage der Arbeiter musste er fliehen und traf in Polzin den Lokomotivführer Wal Kuntze mit seinem Heizer Martin, die den Streik unterstützten.
Es muss eigenartig gewesen sein, den eigenen Vater hier als literarische Figur verewigt zu sehen. Noch seltsamer fühlte es sich aber an, als im weiteren Verlauf der Geschichte Jan Beek die beiden Eisenbahner wegen der Wiederaufnahme der Arbeit beschimpft und schließlich allein und ohne Rückhalt einer Partei einen Anschlag auf die Bahnlinie verübt, bei dem er selber umkommt und der Zug ins Verderben rast, wie es der Autor formuliert. Diese Passage konnte man nur so verstehen, dass Schröder seinen Schwager Waldemar Kuntze literarisch getötet hatte.
Den Nachruf auf den einsamen Kämpfer Jan Beek darf im Roman ein holländischer Kommunist namens Hemskerk sprechen: „Ein Mensch hat sein Schicksal erfüllt, h a n d e l n d sein Schicksal erfüllt. Aber nicht nur das eigene Schicksal, auch ein Stück des Schicksals einer ganzen Klasse. Ob es recht war? Ob es unrecht war? … In dieser Gesellschaft ist Recht nicht zu trennen vom Unrecht. … Und doch: sein Tod ist Leben und Zukunft.“
Karl war verwirrt, als der Zug in Frankfurt ankam. War sein Onkel von dem Festhalten des Helden an der Gewalt überzeugt? Wollte das Buch, das Ereignisse von 1920 beschreibt, auch im Jahr 1929 noch eine beachtenswerte Wahrheit enthalten? Er würde seinen Onkel bei Gelegenheit danach fragen müssen.
Jetzt suchte er in der fremden Stadt die pädagogische Akademie, die erst zwei Jahre zuvor gegründet worden war. Artikel 143 und 146 der Weimarer Reichsverfassung bildeten die Grundlage für neue Bildungswege. Sie waren Ergebnis einer – wie häufig im Bereich der Bildung – intensiven und heftigen Debatte. Herausgekommen aus diesem Schulkampf nach dem ersten Weltkrieg war ein Kompromiss, der im Ergebnis das Schulwesen zur öffentlichen, das heißt staatlichen oder kommunalen Aufgabe machte und Bekenntnisschulen nur auf Antrag der Erziehungsberechtigen als Ausnahme zuließ. Außerdem regelte er den dreigliedrigen Aufbau des Schulwesens.
Um die erste Stufe, den Volksschulbereich, mit qualifizierten und nicht religiös ausgebildeten und gebundenen Pädagogen zu versorgen, bestimmte Artikel 143 Absatz 2 der Verfassung, dass die Lehrerbildung akademisiert werden müsse und für das Reich einheitlich zu regeln sei. Außerdem wurde der staatliche Charakter der Schulbildung dadurch unterstrichen, dass Lehrer an öffentlichen Schulen zu Staatsbeamten gemacht wurden.
In Frankfurt am Main existierte seit kurzem eine Pädagogische Akademie, die das mit seiner Landesverfassung von 1920 modernisierte und an die Reichsverfassung angepasste Land Preußen, zu dessen Rheinprovinz Frankfurt gehörte, um die einzige Akademie ohne konfessionelle Bindung bereicherte. Diese Besonderheit wurde mit dem Begriff „simultan“ beschrieben.
Die Absolventen sollten in einem zweijährigen akademischen Studium in den Beruf des Volksschullehrers geführt werden. Dieses Studium setzte im Gegensatz zur früheren seminaristischen Ausbildung in den Schulen ein Abitur voraus und wurde in die Hände von Akademien und damit weg von den Schulen gelegt. Simultan hieß bei dieser speziellen Einrichtung, dass sie Lehramtsanwärtern evangelischen, katholischen und auch jüdischen Glaubens sowie Agnostikern offenstand. Auch in Preußen hatten sich die großen Kirchen den Einfluss auf diese Sparte bewahrt und konfessionsgebundene Akademien durchgesetzt. Diese Tatsache stand zwar im Gegensatz zur beabsichtigten Neutralität des Schulwesens und bereitete die zukünftigen Lehrer eher auf Bekenntnisschulen vor, entsprach aber den gesellschaftlichen Realitäten.
In der feierlichen Rede des preußischen Kultusministers zur Eröffnung der Frankfurter Akademie am 10. Mai 1927 war der Aspekt der Simultaneität, der auch Voraussetzung für ein politisches Zusammenwirken der gesellschaftlichen Kräfte in Deutschland sei, besonders hervorgehoben worden. Das werde auch helfen, den „urdeutschen“ Parteienhader zu überwinden, der dazu neige, Meinungsverschiedenheiten durch organisatorische Verfestigungen zu gesellschaftlichen Unterschieden zu machen.
Die Feierstunde in dem ehemaligen Volksschulgebäude in der Textorstraße mitten im Stadtteil Sachsenhausen wurde von den katholischen Bischöfen boykottiert. Die aus heutiger Sicht bescheidene Überkonfessionalität der Einrichtung war ihnen zu viel. Ihre Kirche stellte klar, dass Absolventen der Akademie keine Befugnis zum Abhalten des Religionsunterrichts erhalten würden.
Eine konkrete Folge dieser späten Ausprägung des Schulkampfes um die Struktur des Schulwesens in Deutschland war, dass Katholiken in der Frankfurter Akademie nicht zu finden waren. Vielleicht führte die gesamte reformerische Aura der Einrichtung dazu, dass im Lehrkörper nationalsozialistisch denkende Dozenten, wie z.B. Franz Kade oder Ernst Krieck die Ausnahme bildeten.
Karl war wieder an einer modernen Bildungsanstalt gelandet, was ihm nach der Reformschule und der politischen Lehrzeit in Berlin gut gefiel. Voller Enthusiasmus war er nach Frankfurt am Main aufgebrochen. Gleich am zweiten Tag setzte er sich mit der SPD in Verbindung. Die Genossen im Parteibüro wussten mit dem Berliner Studenten, der als Lehramtsbewerber nur zwei Jahre vor Ort sein würde, nicht so recht etwas anzufangen. Aber der Parteisekretär des Ortsvereins freute sich ehrlich über die Grüße aus der Reichshauptstadt.
„Genosse Kuntze, es gibt an der Akademie bis jetzt noch keine Jungsozialistengruppe. Das wäre doch eine lohnende Aufgabe für dich! Es ist übrigens noch einer von uns dort, der Genosse Bruno Laub. Vielleicht tust du dich mit ihm zusammen. Wir brauchen hier jeden Mann. Die Zeiten sind turbulent.“
Diesen Auftrag wollte Karl gewissenhaft erfüllen. Ein wenig bang war ihm vor dem Projekt. Er hatte den historischen Materialismus begriffen, so dachte er jedenfalls, aber in der SPD war der eher verpönt, da man ja – wie sein Onkel scharfsinnig diagnostiziert hatte – auf die Parlamentarismuskarte gesetzt und damit eigentlich den Glauben an die marx‘schen Wirkgesetze der Geschichte aufgegeben hatte. Vater Waldemar hatte allerdings auf die aus Berlin in die Schulferien mitgebrachten Berichte seines Sohnes über seine neuesten politischen Erkenntnisse eher mit Unverständnis reagiert.
Karl fiel es leicht, die Gedanken anderer zu erfassen und wiederzugeben. Schwerer tat er sich, eigene Überlegungen und Ansichten zu entwickeln und zu formulieren. Diese von manchen als Schwäche empfundene Eigenschaft führte im praktischen Leben dazu, dass er gegenüber seinen Mitstudierenden überzeugter auftreten konnte, als er es wirklich war, da er im Wesentlichen Onkel Schröder und dessen Freund Reichenbach zitierte, deren Scharfsinn und Kenntnisse er grenzenlos bewunderte.
Am 2. Mai 1929 begann an der Pädagogischen Akademie in Frankfurt das erste Studienjahr. Die Eingangshalle des ehrwürdigen Schulgebäudes mit der wuchtigen dunklen Eichentreppe vermittelte den jungen Studierenden, die in diesem Jahr etwa 60 an der Zahl waren, den Ernst, der hinter dieser Einrichtung stand. In dem Gemäuer herrschte der in Jahrzehnten durch Schülerschweiß und Reinigungsspäne geprägte charakteristische Geruch einer alten Schule. Da nimmt es nicht Wunder, dass die auswärtigen Studenten gerne in die weitere Umgebung von Frankfurt und in die Natur strebten.
Vor der Feierstunde zum Semesterbeginn erkundete er mit anderen „Neuen“ das nähere städtische Umfeld. Vom Eisernen Steg über den Main betrachteten sie die Silhouette der altehrwürdigen Stadt Frankfurt. Bei dieser Gelegenheit lernte er den zweiten Sozi kennen. Bruno Laub war sieben Jahre älter als die übrigen, weil er eine Zimmermannslehre absolviert und erst danach auf dem zweiten Bildungsweg das Abitur geschafft hatte.
Am Abend des ersten Tages traf man sich am südlichen Mainufer in einer Gartenwirtschaft und kostete zum ersten Mal das den Nord- und Ostdeutschen unbekannte Getränk Äppelwoi. Gegessen hat Karl damals besonders gern die im Ganzen in der Pfanne gebratenen kleinen „Meefischli“, wahrscheinlich die damals noch häufig im Fluss bei Frankfurt anzutreffende Ukelei. Sie waren außerdem auch für einen Studenten bezahlbar.
Unter den vielen Frauen im Semester gab es eine Marianne Bose, die auf ihn großen Eindruck machte. Als damenhafte Großstadtpflanze war sie ihm aber ein wenig unheimlich. Befangen war er sowieso, weil sie eine derart überzeugte Berlinerin gab, die den Umzug nach Frankfurt als Strafversetzung in die Provinz empfand, dass er sich mit seiner Herkunft aus dem Kleinstädtchen in Pommern klein und hässlich vorkam. Auch gluckte sie dauernd mit einer Freundin zusammen, die genau wie sie aus der Reichshauptstadt stammte.
Karl stürzte sich voller Eifer in Studium und politische Aufbauarbeit und war froh, dass er letztere nicht allein bewältigen musste.