Читать книгу Suicide - Stefan Lange - Страница 11
Montag, 2. Mai 1994
ОглавлениеIch wurde von Georgs lautem Lachen geweckt. Müde drehte ich mich in meinem Bett um und schaute auf den Wecker. Dreizehn Uhr. Der Tag flutete durch die Jalousien meines Fensters und schnitt schwarz-weiße Streifen an die Wand. Mit dem Licht kroch auch die Hitze ins Zimmer.
Ich stand auf und spürte ein Druckgefühl im Magen. Ein starker Durst machte sich breit und der Kopf hämmerte wie wild. Ich ging zur Küche, mich leicht wankend im Schatten haltend. Georg saß mit einem blonden Geschöpf an einem Tisch auf der Dachterrasse. Verkatert grüßte ich, als ich die Küche betrat.
»Hi Georg, moin Siri.«
Sofort böllerte Georg mit seinem schallenden Lachen los, während ich meinen Durst in kräftigen Zügen mit eisgekühlter Cola löschte.
»He, Stefan, das ist doch nicht Siri. Komm mal her, wir haben einen Neuzugang!«
Schon wieder jemand Neues!? Fast jede Woche mußte man sich in der Residenz an andere Gesichter gewöhnen. Ich trat mit zusammengekniffenen Augen auf die Terrasse, um mich vor der gleißenden Sonne zu schützen und ließ mich in einen Stuhl fallen.
»Das ist Susanne«, sagte Georg.
Es dauerte eine Weile, bis ich mich an die Helligkeit gewöhnt hatte. Ich musterte sie. Ihr hübscher Mund war mir gleich aufgefallen. Das glatte blonde Haar reichte ihr bis zu den Schultern. Es war sonnengebleicht und der gebräunte Teint verriet, daß sie bereits ausgiebig Sonne genossen hatte.
»Angenehm, Stefan«, brachte ich müde hervor.
Ich fischte mir, ohne Susanne zu fragen, eine ihrer Fortuna Zigaretten, zündete sie an und blies den gräulichen Qualm in den wolkenlos blauen Himmel. Susanne erinnerte mich an jemanden, nur kam mir nicht in den Sinn, wer das sein könnte. Wir redeten über Nebensächlichkeiten, über die Schule und die Bewohner der Residenz. Aber ich hörte nur mit halbem Ohr zu; ich war zu sehr mit dem dröhnenden Kopfschmerz beschäftigt.
»Woher kommst du denn?« fragte ich, um ein wenig Interesse zu bekunden.
»Aus der Schweiz.«
»Oh Gott!« entfuhr es mir und Susanne schaute mich verdutzt an.
»Wie so denn das?« fragte sie.
»Nun, Schweizer haben bei mir gleich dreitausend Minuspunkte.«
Georg lachte auf, und ich versuchte Susanne zu beruhigen, daß dies nur ein Scherz sei. Leider war ich nach der durchzechten Nacht zu keiner sinnigen Konversation fähig. Georg fragte nach meinem Wochenende, und ich erzählte ihm ausführlich von dem Spaß, den Brian, Andrew und ich gehabt hatten. Nach einiger Zeit stand Susanne auf und verabschiedete sich mit einem »bis später«. Kaum war sie verschwunden, beugte sich Georg vor und flüsterte mir zu, wie toll sie sei, und daß es immer dasselbe wäre, kaum hatte er eine Freundin, liefen ihm die tollsten Frauen über den Weg. Georg war seit zwei Wochen mit einer Sevillanerin, einem echten Heißblut, wie er meinte, zusammen. Ich dachte kurz über seine Worte nach. Ich fand, daß Susanne eine attraktive Erscheinung war, aber so umwerfend fand ich sie nun auch nicht. Rein äußerlich erinnerte sie mich entfernt an die Schauspielerin Goldie Hawn zu ihren besten Zeiten.
An Hausaufgaben war angesichts der Hitze nicht zu denken. Ich beschloß erst einmal in die Stadt zu gehen, um meine trinkbaren Vorräte aufzufüllen.
Ich lief zum Kaufhaus corte inglés. Die Weißglut unseres Zentralgestirns wirkte wie ein Vorschlaghammer. Ein stinkheißer Nachmittag. Es mochten gut und gerne fünfunddreißig Grad sein. Ich lief im Schatten, den mir die Häuser boten. Mir war schwindelig, die Hitze lastete drückend über der Stadt und es regte sich nicht der Hauch eines Luftzuges.
Bepackt mit Wasser und Cola, ging ich zu Brian. Seit kurzem wohnte er zusammen mit Andrew in einem Appartement in der Nähe der Residenz. Die im Erdgeschoß liegende Wohnung hatte den Vorteil, während der Nachmittagsstunden angenehm kühl zu sein. Ich holte Brian aus den Federn, der mich benommen mit einem »oh tío« begrüßte. Wir verplauderten den Nachmittag bei Kaffee und Zigaretten, bis es sich draußen etwas abgekühlt hatte.
Mein schlechtes Gewissen, noch nichts für die Schule erledigt zu haben, bewog mich, zur Residenz zurückzukehren. Auf der Terrasse tummelten sich allerhand neue Gesichter. Ich ging zunächst in die Küche und bereitete mir einen Kaffee zu. Als ich mein Zimmer betrat, war an Schularbeiten nicht zu denken. Die Hitze des Tages hatte sich in dem kleinen Raum angestaut. Statt Hausaufgaben abzuarbeiten, setzte ich mich zu Georg an den Tisch, der mit freiem Oberkörper und einem über dem Kopf zusammengebundenen Handtuch auf der Terrasse in der Sonne saß und lernte.
Es geschah an diesem warmen Spätnachmittag. Die Sonne neigte sich dem Horizont entgegen und tauchte die Szenerie in orangefarbenes Licht.
Ich erblickte Susanne, die zusammen mit zwei Frauen auf einer Holzbank am Ende der Terrasse hockte. Sie hob ihre Sonnenbrille und schaute herüber. In diesem kurzen Blick, der eine Ewigkeit zu dauern schien, lag eine ganze Wahrheit, eine Welt, die ich bereits zu kennen glaubte. Wie ein Déjà-vu-Erlebnis, das mich zusammenzucken ließ. Meinte sie wirklich mich? Auffällig drehte ich mich zuerst nach links, nach rechts und richtete dann den Finger auf meine Brust, so als wollte ich Susanne fragen, ob ihr Blick mir galt. Sie deutete meine Gestik richtig, lächelte, hob die Hand, winkte mir zu und schuf somit eine Verbindung. Ein wunderbares Kribbeln durchzog meinen ganzen Körper. Dieser Blick und das Lächeln hatten mich einfach umgehauen. Ich wollte Georg gerade von diesem berauschenden Erlebnis erzählen, doch er winkte ab. Er war ins Lernen vertieft und murmelte unablässig Vokabeln vor sich hin. »Streber«, dachte ich.
So erging es mir immer, wenn ich jemandem begegnete, dessen Blick mich fesselte, oder dessen Lächeln seltsame Empfindungen in mir auslöste. Ich wollte nicht nur wissen, wie dieser Mensch hieß, woher er kam, sondern ich wollte wissen, was er dachte oder fühlte, wie er liebte und ob er ein Geheimnis in sich trug. Das, was aus diesem Blick geboren wurde, war die Neugierde, mehr über Susanne in Erfahrung zu bringen.
Ein kleiner Junge, der offenbar zu den beiden anderen Frauen gehörte, spielte mit einem Plastikball. Ich stand auf und kickte ein bißchen mit ihm. Georgs Lerndrang war augenblicklich verflogen, und so spielten wir uns den Ball zur Freude des Kleinen zu. Durch Georgs Fehlberechnung zwischen Ein- und Ausfallswinkel prallte der Ball von der Hauswand des angrenzenden Gebäudes ab und hüpfte über die Balustrade zwei Stockwerke tiefer in den Innenhof. Während sich Georg aufmachte, den Ball zurückzuholen, nutzte ich die Gelegenheit, mich neben Susanne auf die Bank zu setzen.
»Kann man bei dir überhaupt auf einen positiven Kontostand kommen?« fragte sie mit hochgezogenen Augenbrauen. Ich schaute Susanne verdutzt an und wunderte mich, daß sie sich noch an die blödsinnige Kontostandsnummer vom Mittag erinnern konnte.
»Ja, das ist möglich. Aber dafür mußt du dich schon ein wenig anstrengen.«
Susanne drehte den Kopf zur Seite und blinzelte mich an. Sie hatte Grübchen, wenn ein Lächeln ihren Mund umspielte. Ich war wie verzaubert. Meinen ersten Eindruck vom Vormittag mußte ich revidieren. Selten hatte ich ein so strahlendes und wunderbares Geschöpf gesehen. Sie hatte grüne Augen. Wir tauschten Informationen über die Herkunft und anderes Wissenswertes aus. Susanne trank Weißwein und aß dazu Oliven. Als sie mir eine Olive anbot, belohnte ich Susanne mit einem Pluspunkt. Sie dankte es mir mit einem zufriedenen Lächeln. Wir redeten über allerhand Belanglosigkeiten, aber ich hörte ihr gar nicht richtig zu. Susanne hatte mich längst in ihren Bann gezogen. Unsere Gesten und Blicke tauschten Botschaften aus, die nur für uns bestimmt waren. Es war nicht nur harmloses Geplauder, denn das, was tiefer in meine Bewußtseinsebene eindrang, waren Fragen, die ich Susanne stellte: Ist es schön, mit dir zusammen zu sein, bist du jemand, der mich aus meiner Isolation retten kann? Stillschweigend erhielt ich Antworten darauf. Viele solcher Fragen schoß ich in ihre Richtung ab, während wir heftig miteinander flirteten. Über uns legte sich ein Hauch von Vertrautheit.
Janet kam auf die Dachterrasse. Ausgerechnet jetzt! Ich hatte ihr versprochen, sie mit Nastassia zum Bahnhof zu begleiten. Eigentlich hätte Janet bereits seit zwei Tagen in Holland sein müssen, doch ein Dieb hatte ihr die gesamte Barschaft gestohlen, weswegen sich Janets Abreise verzögert hatte. Ich verfluchte den Dieb. Mir blieb nichts anderes übrig, als mein Versprechen einzulösen. Widerwillig ließ ich Susanne alleine.
Die Abfahrt des Zuges verzögerte sich. Ich war seltsam aufgewühlt und nervös. Diese Unruhe ließ mich nicht los. Ich war mir sicher, daß noch etwas anderes dahinter steckte, was aber nicht deutlich genug an die Oberfläche gelangte. War es Angst? Einige Male war ich dem Problem begegnet, daß ich meine Stabilität verlor, wenn mich jemand faszinierte. Ich wußte nur, daß es mich zu Susanne zurückzog, eine Macht, die niederzukämpfen sinnlos gewesen wäre. Während Nastassia vorschlug, einen gemütlichen Bummel vom Bahnhof zur Residenz zu machen, bestand ich auf einem Taxi. Ich durfte keine Zeit verlieren.
Als ich wieder auf der Dachterrasse erschien, saß niemand mehr auf den Bänken. Ich traf Susanne in der Küche beim Abwaschen.
»Heute schon was vor? Ich könnte dir Sevilla bei Nacht zeigen.« Sie musterte mich.
»Nein danke. Ich bin müde und außerdem muß ich noch Aufgaben erledigen.«
Ich ließ mir die Enttäuschung nicht anmerken und verabschiedete mich. Ich versuchte in meinem stickigen Zimmer einige Hausaufgaben zu erledigen, konnte aber keinen klaren Gedanken fassen. Das lag aber nicht an der angestauten Wärme. Ich hatte nur Susanne vor Augen, ihre Blicke, ihr Lächeln. Nach einer Stunde gab ich entnervt auf. Ich wollte zur Küche gehen, um etwas zu trinken. Durch die Glaspyramide, die als Lichthof für das Treppenhaus diente, drang ein heller Schein aus einem geöffneten Zimmer hinaus auf die Balustrade. Susanne bewohnte das Zimmer Nummer sechsundzwanzig. Es war ihr Zimmer. Ich vernahm Georgs Stimme, der mit Dolores, seiner Freundin, am Geländer in der zweiten Etage stand. Er bewohnte das Zimmer nebenan. Eine gute Gelegenheit, mich in ein Gespräch einzumischen, und einen Vorwand zu haben, zufällig vor Susannes Zimmer herumzulungern. Ich gesellte mich zu den beiden und lugte durch die halbgeöffnete Tür in Susannes Unterkunft. Sie stand leer. Kurz darauf kam Susanne von der Etagentoilette zurück. Leichtfertigerweise stelle ich sie Dolores als meine zukünftige Freundin vor. Ich redete auf spanisch, und Susanne, die noch keine Sprachkenntnisse hatte, wußte nicht genau, worum es ging, sie ahnte aber, daß ich über sie sprach. Kurz darauf zogen sich Georg und Dolores zurück. Nervös und unbeholfen stand ich vor Susanne. Was sollte ich ihr sagen? Ich wollte nicht, daß sie ging. Ich haßte dieses Herumgerede um den heißen Brei. Da war es wieder, dieses mulmige Gefühl, wenn jemand mein Interesse auf sich zog. Ich lud Susanne einfach zu meiner spätabendlichen Philosophiestunde ein. So nannte ich die Zeit, die ich nachts unter klarem Sternenhimmel bei einer Zigarette auf der Dachterrasse verbrachte, während ich allein über alles Mögliche sinnierte.
»Mal schau’n«, war ihre knappe Antwort.
Das genügte mir, zumindest hatte ich mir eine realistische Chance bewahrt. Mühsam erledigte ich die wichtigsten Hausaufgaben für den nächsten Tag. Später setzte ich mich dann auf die Terrasse und wartete. Ich hörte Susannes Stimme. Sie saß mit den beiden Frauen vom Nachmittag im Innenhof und plauderte angeregt mit ihnen. Als gegen Mitternacht die Unterhaltung verstummte, lauschte ich gespannt. Schließlich erschien Susanne auf der Dachterrasse. Mein Herz tat einen Luftsprung vor Freude, aber ich versuchte, ruhig und abgeklärt zu wirken. Wir redeten über das Sprachenlernen und andere Kulturen und Gebräuche. Ich referierte über meine Erfahrungen aus Japan und wußte einige witzige Anekdoten zu erzählen. Dachte ich, mit Japan einen besonderen Aufhänger zu haben, wurde ich schnell eines Besseren belehrt. Susanne berichtete von längeren Reisen durch Thailand, Indonesien, Indien und Nepal, Länder, in denen sie teilweise über Monate gelebt hatte. Dies erlaubte ihr eine spezielle Vereinbarung, die Susanne mit ihrem Arbeitgeber getroffen hatte. Ich bewunderte so viel Mut und Abenteuerlust aber gleichzeitig machte es mich auch stutzig. Ich hatte einmal vom Reisefieber gelesen, das in einen Reisezwang ausartete. Den konnte ich bei mir selbst feststellen. Oft hatte ich den Eindruck, aus dem Alltäglichen und Gewohnten ausbrechen zu müssen. Vielleicht war Sevilla, obwohl ein Wunschaufenthalt, auch ein Weg, dem Bewerbungsdruck und der Realität ein Stück weit zu entkommen. Ich fragte Susanne, wovor sie eigentlich weglaufe. Verwundert zog Susanne die Augenbrauen hoch und setzte eine nachdenkliche Miene auf. Diese Frage schien sie ernsthaft zu beschäftigen und erst nach einer Weile kam ein kleinlautes »ich weiß nicht« hervor. Die Unterhaltung geriet ins Stocken. Ich wechselte das Thema, aber irgend etwas Bedrohliches schien das Wort weglaufen bei Susanne ausgelöst zu haben.
Kurz vor eins verabschiedete sie sich, nicht ohne eine Verabredung für den folgenden Abend mit mir getroffen zu haben. Ich schlug zehn vor zehn vor, weil es mir gerade so in den Sinn gekommen war. Ich blieb noch eine Weile unter dem Sternenhimmel sitzen und dachte über Susanne nach. Was war das für ein Mensch, der solche Empfindungen in mir auslöste, und welches Geheimnis barg er in sich? Ein interessanter Fall, der meine Neugierde auf sie steigerte.