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Dienstag, 3. Mai 1994
ОглавлениеHeute morgen sah ich Susanne nur kurz während der Pause. Ich erinnerte sie an unsere Verabredung. Susanne lächelte hintergründig. Brian fragte mich nach dem Unterrichtsschluß, ob wir nicht am Abend ausgehen sollten. Als ich ihm sagte, daß ich bereits verabredet war, entfuhr ihm ein langgezogenes »hey tío«.
Ich war gutgelaunt und erledigte meine Aufgaben am Nachmittag. Es gab viel nachzuholen, aber ich war erstaunt, welches Pensum ich bis zum Abend absolviert hatte.
Gegen neun Uhr machte ich mich für den Ausgang zurecht. Ich duschte ausgiebig und rasierte mich gründlich. Eitel war ich schon, wenn es darum ging, einen guten Eindruck beim anderen Geschlecht zu hinterlassen. Pünktlich um zehn vor zehn stand ich geschniegelt und gestriegelt vor Susannes Zimmertür. Mein Herz schlug schneller als sonst. Ich klopfte vorsichtig, aber nichts rührte sich. Kein Lichtschimmer drang unter der Zimmertür hervor. Ob Susanne wohl schlief? Ich klopfte erneut.
»Susanne?«
Hatte sie unsere Verabredung vergessen und war bereits ausgegangen? Deutlich spürte ich eine Enttäuschung in mir hochkriechen. Resigniert stieg ich die Treppen herab. Möglich, daß Susanne ja doch kein näheres Interesse an mir hatte. Ich verfluchte meine Einbildungskraft. Ich wollte gerade die große schmiedeeiserne Türe aufziehen, als ich hinter mir ihre Stimme hörte.
»Hey, Stefan, warte mal schnell!«
Susanne führte ein Telefongespräch am Apparat in der Eingangshalle. Wie ein Stromschlag durchzuckte mich die Freude darüber, daß Susanne noch nicht ausgegangen war. Ich zeigte auf meine Uhr und wollte ihr damit andeuten, daß sie eigentlich schon viel zu spät dran war. Mit Gesten versuchte mir Susanne klarzumachen, daß ich mich gedulden sollte. Nach dem Telefonat entschuldigte sie sich für die Verspätung, rannte wie von der Tarantel gestochen nach oben, um sich umzuziehen und stand wenig später mit einer Unschuldsmiene vor mir. Wir gingen ins sopa de ganso. Andrew und Brian saßen mit anderen Schülern an einem großen Tisch. Ich stellte Susanne vor.
Mein Interesse galt allein ihr. Während wir uns unterhielten, studierte ich ihr Gesicht und ihren Körper. Ich sinnierte über ihren Charme, dachte daran, wie es wohl wäre, wenn meine Lippen die ihren berühren würden, erst langsam, dann immer leidenschaftlicher. Die Anziehungskraft, die Susanne auf mich ausübte, war magisch. Mich schauderte und deutlich regte sich ein Widerstand in mir, aber der Sog hatte etwas Verführerisches an sich. So ein Geschöpf lief garantiert nicht alleine unter Gottes Sonne herum. Bestimmt hatte sie einen Freund. Dennoch mißfiel mir der Gedanke, daß es noch einen anderen gab, mit dem sie Gemeinsames teilte.
»Nun, gleich wirst du mir erzählen, daß du einen Freund hast«, stellte ich irgendwann zusammenhanglos fest. Sie nickte. Verdammt!
»Aus und vorbei, kein weiteres Interesse«, dachte ich. Obwohl ich diese Antwort erahnt hatte, traf sie mich wie ein Faustschlag. Ich überspielte meine Enttäuschung.
»Danke, das war’s. Ich gebe dir zehntausend Minuspunkte und wir kündigen ihnen hiermit das Konto.«
Sie lachte, ergriff meinen Oberarm und fixierte mich mit ihrem Blick auf eine Art und Weise, die bittend wirkte.
»Dann baggere mich doch mal an!«
Mir verschlug es fast die Sprache. Ich wußte, daß sie es ernst meinte, aber in diesen Worten lag kein Zwang. Es klang eher wie eine Einladung.
Kurz vor Mitternacht verließen wir das Lokal und gingen schweigend die wenigen Meter zur Residenz. Was sollte ich jetzt tun? Frauen mit Freund waren eigentlich ein Tabu für mich. Schon einmal hatte ich die leidvolle Erfahrung gemacht, daß eine Frau nach einer kurzen Romanze zurück in ihre Gewohnheit gekehrt war. Der Zwiespalt zwischen Wollen und Sich-Wehren rief den Gedanken in mir wach, daß das Ganze hier etwas mit einem Wagnis zu tun hatte. Ich ging wie üblich auf die Dachterrasse, um noch eine Zigarette zu rauchen. Susanne begleitete mich. Ich stammelte irgend etwas vor mich hin.
Du Trottel! Alle Zeichen standen auf Angriff, doch ich kam mir vor wie ein Autofahrer an einer grünen Ampel, der den ersten Gang nicht reinkriegte. Ich entschuldigte mich und holte in der Küche ein Bier. Lange hielt ich die kühle Dose an meine Stirn, in der Hoffnung, daß sich meine Unruhe legen würde. Was sollte ich jetzt tun? Ach, wenn doch nur Mate hier wäre, dann könnte ich ihn fragen. Imaginär saß er in der Küche und trieb mich an: »Los ran, du Idiot! Sie will dich und du willst sie. Stefan, es ist auch dein Urlaub. Nimm sie dir, was hast du denn zu verlieren!?«
Ich setzte mich wieder neben Susanne, und wir tranken schweigend das Bier. Der Kloß war nicht mehr nur im Hals, sondern im ganzen Körper zu spüren. Ich war wie gelähmt.
»Du erwartest von mir, daß ich dich küsse, nicht wahr?«
Susanne nickte und lächelte dabei. Ich beugte mich langsam vor und kam so nah vor ihr Gesicht, daß ich abwechselnd ihre Augen fixierte. Mann, sie hat doch einen Freund! Ich wartete nur darauf, daß sie plötzlich aufschreckte, sich dieser Tatsache bewußt würde und fluchtartig das Weite suchte. Susanne holte mich aus meinen zweifelnden Gedanken.
»Was studierst du?«
Ich sah ihr hübsches Gesicht mit dem halbgeöffneten Mund, in den ich gleich hineinzufallen drohte. Mein Puls lag schätzungsweise bei einhundertvierzig.
Vorsichtig berührten sich unsere Lippen. Ganz weich und sanft. Leise Schauer rieselten in mir herab, so als sei ich in ein elektromagnetisches Feld geraten.
»Haben Schweizerinnen keine Zunge?«
»He, he, du gehst ja ganz schön ran«, hauchte sie zärtlich, als sich unsere Lippen erneut trafen. Ich schloß die Augen, um mich dem Kuß ganz hinzugeben. Ich war unendlich froh, den Sprung ins kalte Wasser gewagt zu haben, und fühlte mich wie ein Fisch in seinem Element. Es folgte eine lange Serie von Küssen, zunächst weich, dann immer fordernder und verlangender. Ich ließ meine Hände über ihren Körper gleiten, ertastete ihre üppigen Brüste und spürte ihren pochenden Herzschlag. Die Frage nach ihrem Freund vermied ich.
Nachdem Susanne zu Bett gegangen war, blieb ich noch eine Weile auf der Terrasse sitzen und blickte in den sternklaren Himmel. Noch vor zwei Tagen hätte ich nicht daran geglaubt, daß es einen Menschen gäbe, zu dem ich mich hingezogen fühlte; vielmehr dachte ich, daß ich dazu verdammt wäre, meine Bahnen so einsam wie der Mond zu ziehen. Tausende von Theorien hätte ich vom Stapel gelassen, und nun war Susanne – mir nichts, dir nichts – in mein Leben getreten.
Anja, meine beste Freundin, hatte sich vor meiner Abreise nach Sevilla brieflich von mir verabschiedet. Sie hatte mir Glück und Erfolg gewünscht und vor allem, daß all meine Träume in Erfüllung gehen sollten. Hatte Anja geahnt, daß es ein Traum von mir war, jemanden zu finden, der mein Interesse wachrief? War es nicht genau das, wonach ich die ganze Zeit gesucht hatte? Selig schlief ich in dieser Nacht ein.