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Freitag, 6. Mai 1994

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Den ganzen Tag hindurch begleiteten mich Zweifel. Wer war sie, was wollte sie von mir, wenn sie bereits in einer Beziehung lebte, und was erwartete ich von ihr?

Ich sah Susanne erst am späten Nachmittag. Ich begegnete ihr auf der Sor Angela de la Cruz, als ich in Richtung Hauptstraße zum Kiosk lief. Susanne lächelte schon von weitem. Ein wenig verlegen wegen der letzten Nacht, war ich schon. Susanne bemerkte meine Unsicherheit, hob ihre Sonnenbrille, küßte mich auf die Nase und sagte: »Es ist doch nicht so schlimm, dann versuchen wir es heute nacht eben noch einmal.«

Es klang, als sei es das Normalste der Welt, ohne jede Komplikation. Was für ein Mensch. Susanne schien heiter und lebensfroh zu sein, ein Kind der Sonne.

Abends lösten wir uns früh von der Gruppe. Susanne bewohnte in der Residenz ein Doppelzimmer für sich alleine, und so zog ich kurzerhand bei ihr ein. Wir legten einfach die Matratzen nebeneinander auf den Boden und schufen dadurch eine große Spielwiese. Wir stimmten uns ein, küßten, streichelten und umarmten uns.

Plötzlich ließ Susanne von mir ab.

»Stefan, was ist denn mit dir los?«

Ich begriff nicht, was sie meinte. Ich mußte ziemlich verwundert drein geschaut haben.

»Ich spüre einen Widerstand gegen mich«, sagte sie mit ernster Stimme.

»Ich verstehe nicht, was du meinst, ehrlich.«

»Doch, ich spüre es ganz deutlich, sag mir, was du hast!«

Hatte sie meine Unsicherheit bemerkt? Wie konnte das sein? Ich war ein Meister des Schauspiels und in der Lage, mich gut in Gegenwart anderer zu verstellen. Nie würde ein Außenstehender bemerken, was in mir vorging, wenn ich es nicht wollte. Ich hatte lediglich ein wenig an Susanne gezweifelt, wie konnte sie derart feine Schwingungen spüren?

Ich fühlte mich ertappt und hatte den Eindruck, sie wisse mehr als ich, so als habe sie mit einer Art Röntgenblick in mein Inneres geschaut. Die Beklemmung, die ich anfangs spürte, steigerte sich zur Angst, der ich allein und hilflos gegenüberstand. Mittlerweile hatte sich Susanne aufgerichtet und schaute mich an. Nie zuvor hatte mich jemand mit so einem Blick förmlich durchbohrt.

»Sag es mir bitte, Stefan, was ist mit dir los?«

Was sollte ich Susanne sagen? Sie wartete auf eine plausible Antwort, ein Verharmlosen oder Beschwichtigen war unmöglich geworden. Susanne hatte mich in die Enge getrieben. Die seit Tagen empfundenen widersprüchlichen Gefühle drängten nach oben. Es war etwas, was in grauer Vorzeit lag, ein Schmerz über nie Gehabtes, etwas, was unwiederbringlich verlorengegangen war. Ich wollte die Erinnerung an das Leid nicht wecken, hatte ich es doch so mühevoll in mir vergraben. Auf der anderen Seite regte sich der Wunsch, mich Susanne hinzugeben, mich fallenzulassen. Erinnerungen wurden wachgerufen, Geborgenheit, Nähe und Wärme zu spüren, wie die lebenslange Spur eines Kindheitstraumes, die zum Trauma wurde. Diese Gefühlszustände waren in ihrer Tiefe nie von mir gelebt worden. Sie hämmerten jetzt von innen gegen die Mauer, hinter der ich sie eingeschlossen hatte. Dieser Zwiespalt drohte mich zu zerreißen.

Am liebsten wäre ich aufgestanden, hätte fluchtartig das Weite gesucht und mich heulend in meinem Zimmer eingesperrt, mit einem Schild an der Tür: »Vorsicht, verletzte Seele!«

Susanne war mir jetzt sehr nahe gekommen, und ich hätte sie bitten sollen, von mir abzulassen. Ich hatte Angst vor Nähe, auch im Denken. Noch könnte ich aufstehen und gehen. Gab es einen Grund, hier und jetzt meine Karten offen auf den Tisch zu legen und Susanne tiefere Einblicke in mein Innerstes zu geben, ihr meine Achillesferse zu präsentieren?

»Wovor hast du Angst?«

Diese Frage knallte wie ein Peitschenschlag in meine aufgewühlten Gefühle. Sie traf mich so hart, daß es mir fast die Luft zum Atmen raubte, aber Susannes Gegenwart strahlte ein Vertrauen aus, dem ich nicht widerstehen konnte.

Susanne legte den Arm um meine Schulter und schaute mich dabei an. Durch diese einfache und weiche Berührung schien Energie in meinen Körper zu fließen. Langsam wurde ich gefaßter und ruhiger. Ich wußte, daß es jetzt kein Zurück mehr gab.

Dennoch spürte ich eine Hemmung in mir, eine Grenze, an die ich früher oft gestoßen war. Mir wurde schlagartig bewußt, daß ich jetzt, wenn ich weiterginge, einen anderen Raum betreten würde, emotionales Neuland, das ich nie zuvor durchschritten hatte. Ich war von dieser tiefen Einsicht total verwirrt. Obwohl Susanne und ich uns erst seit vier Tagen kannten, wurde in mir das Verlangen geboren, ihr blind zu vertrauen.

Ich hatte meinen Lebenslauf in mir gespeichert, den ich, je nach Situation, gefiltert oder geschönt abspulen konnte. Was sollte ich Susanne von mir preisgeben? Wie könnte ich ihr in wenigen prägnanten Worten mein ganzes Leben zusammenfassen, so, daß diese Unsicherheit und Angst für sie nachvollziehbar würde? Ich hatte nicht die Absicht, sie mit meinem Seelenleben zu überfrachten.

»Ich weiß es nicht, es ist …«, begann ich mühsam.

Ich brauchte eine gewisse Zeit, um einen klaren Gedanken durch den Gefühlsbrei hindurchzubringen. Hätte ich mich nicht gezwungen zu reden, hätte ich wahrscheinlich geweint.

Ich begann mit den Ausführungen und Theorien, die ich bereits Franziska vorgetragen hatte. Wer würde mich akzeptieren, wenn ich schon Mühe hatte, mich selbst zu akzeptieren? Ich berichtete ein wenig ausführlicher von mir und der Vergangenheit und verband damit die leise Hoffnung, daß sich Susanne von mir abwenden würde.

Ich gestand ihr, daß sie mich magisch anzog und daß ich vor dieser Kraft Angst hatte, Angst, die Kontrolle zu verlieren. Zudem war sie gebunden, sie hatte einen Freund und ich wußte nicht, was aus uns werden sollte. Der Punkt, an dem unsere Beziehung eine harmlose Sommerliebe für mich darstellte, war längst überschritten.

Im Grunde genommen wollte ich nicht schon wieder etwas verlieren, was gerade erst begonnen hatte, denn zu oft hatte ich in meinem Leben verloren. Dieses Gefühl, der Zweite zu sein, oder treffender, zweitrangig, verfolgte mich seit meiner Kindheit.

Mein Bruder war der Erstgeborene in der Familie. Ihm galt die ganze Aufmerksamkeit und der Stolz meines Vaters, was in mir tiefe Neidgefühle gegenüber meinem Bruder auslöste. Mein Vater brachte ihm vieles bei, während meine Neugierde im Keim erstickt wurde. Ich wurde immer nur abgewiesen. »Würstchen« war der Lieblingsausdruck meines Vaters. Er war extrem jähzornig und aggressiv. Wie oft hatte er mich und meinen Bruder grundlos geschlagen. Dieses Gefühl der Ohnmacht, wenn mir klar wurde, daß es keinen Sinn hatte zu flüchten, weil ich gleich ohne Ende durchgedroschen wurde. Meine Mutter hatte sich nie eingemischt, wenn er auf uns losging. Selbst wenn sie dazwischen gegangen wäre, hätte sie kaum eine Chance gehabt.

Bis heute verfolgte mich der Traum, in dem ich meinem Vater plötzlich ebenbürtig war und ihm mit meinen eigenen Händen die Fresse einschlug, bis er blutüberströmt zusammenbrach. Dann beugte ich mich über ihn und sagte, er solle mich nie wieder anrühren, denn beim nächsten Mal würde ich ihn töten.

Jahrelang kämpfte ich verzweifelt bei meiner Mutter um die Anerkennung, daß ich als Kind unsägliche Zurückweisungen und Qualen erlitten hatte, eine Anerkennung, die mir bis heute verweigert wurde. Die Gefühle meiner Kindheit waren Angst, Haß und Kälte. Noch Jahre später war ich nicht in der Lage, positive Gefühle in mir zu finden, weil mich nie ein Mensch auf einer tieferen Ebene berührt hatte. Meine Sehnsucht nach Geborgenheit hatte ich durch Selbstmitleid oder mit Drogen- und Alkoholexzessen gestillt.

Meine Lage besserte sich erst, als ich mich aus dem alten Umfeld löste und mein Studium begann. Ich lernte andere Menschen mit neuen Idealen kennen, und das übte einen positiven Einfluß auf mich aus. Obwohl ich auf dem richtigen Weg zu sein schien, tat sich frauentechnisch wenig: Zwei längere Beziehungen und danach immer nur kurze Affären ohne Tiefgang. Die letzten beiden Liebschaften, sofern man diesen Begriff überhaupt dafür verwenden konnte, waren tragisch auf ihre Art und Weise. Während ich meine Diplomarbeit schrieb, verliebte ich mich in eine Jurastudentin, Sybille, die ich im Coco Loco kennengelernt hatte. Ich freute mich, daß es mal wieder jemand in meinem Leben gab, der Interesse an mir bekundete. Als Sybille die Liaison überraschend abbrach, wurde ich extrem wütend und ausfallend ihr gegenüber. Noch heute erinnere ich mich mit Schrecken daran. Kurz darauf lernte ich Constanza kennen, als ich mich in einer Phase tiefsten Selbstmitleids befand. Sie nahm sich meiner an und kümmerte sich um mein Seelenleben. Constanza war mir sehr nahe gekommen, aber als ich ihr nahe kommen wollte, war ihr Aufenthalt in Münster zu Ende. Sie kehrte zurück nach Spanien und verschwand im Schweigen.

Ich glaubte, daß sich alle Menschen, die mir nicht nur auf einer freundschaftlichen Ebene begegneten, sondern denen ich einen tieferen Einblick in mein Seelenleben gab, von mir abwendeten. Vielleicht war das einzige, was ich im Leben zustande brachte, Abneigung hervorzurufen. Aber es ging mir nie darum, Mitgefühl zu ernten, dafür bemitleidete ich mich schon selbst viel zu sehr, es ging mir eigentlich nur darum, anerkannt zu werden, denn in mir gab es eine ungestillte Sehnsucht nach einem Verstandenwerden und Aufgehobensein. Genau deshalb hatte ich mir eine Fassade der Undurchdringbarkeit zugelegt, damit niemand mein wahres Ich enthüllte.

Ich flüchtete vor tieferen Gefühlen, da sie mit schmerzhaften Erinnerungen verbunden waren. Das einzige, was mir wirklich helfen würde, wäre, jemandem zu begegnen, der mir einen Weg zeigte, mich selbst zu finden.

Susanne hatte mir während der ganzen Zeit aufmerksam zugehört. Ich hätte noch weiterreden können, zog es aber vor, Susanne die größte Wunde meines Lebens vorzuenthalten, denn ich befürchtete, sie würde sich angeekelt von mir abwenden. Für einen Moment schwieg ich. Dann schaute ich Susanne direkt in die Augen und fragte sie:

»Na, weißt du nun Bescheid? Sollte ich nicht besser gehen?«

Ich wandte den Kopf von ihr ab und senkte das Haupt wie ein Schuldiger, der auf seine Verurteilung wartete.

»Vertrau mir Stefan, ich werde dich nicht enttäuschen!«

»Wie bitte?« fragte ich ungläubig.

Sie wiederholte es mit weicher Stimme.

Endlich hatte Susanne das erlösende Wort gesprochen, auf das ich vielleicht ein Leben lang gewartet hatte. Sie fiel mir um den Hals und umarmte mich innig. Nie bin ich so von Herzen umarmt worden.

Meterdicke Mauern, die aus Scham, Angst und Schmerz bestanden, barsten und ließen tief vergrabene Emotionen ins Freie. Wir zogen uns an wie starke Magnetfelder und gaben uns einander hin. Ich spürte, daß ich Susanne in diesem Moment in mir aufgenommen hatte, daß wir eins wurden und sich meine Seele mit ihrer verbunden hatte. Dieses Geborgenheitsgefühl strömte wie eine Woge in die letzten Winkel meiner Seele. Ich hoffte, daß dieser Moment nie zu Ende gehen würde. Von dieser neu geschaffenen Dimension ließ ich mich ansaugen und verschlingen. Ich spürte weder Dominanz noch Unterwerfung, Kontrolle oder Grenzen. Alles war jetzt eins, ein Körper, der sich leidenschaftlich liebte. Wie ein kompliziertes Schloß hatte mich Susanne geknackt und mich ins Reich der Sinne entlassen. Ich hatte einen emotionalen Quantensprung vollzogen und in dieser Nacht einen höheren Lebenssinn begriffen.

Nach dem gemeinsamen Höhepunkt, dessen Dimension für mich alles bis dahin erlebte gesprengt hatte, dauerte es eine Weile, bis ich die Sprache wiederfand.

»Was war das denn?« fragte ich verwundert.

»Ich weiß es nicht«, sagte Susanne mit bebender Stimme. Ich zog sie an mich heran und spürte ihren warmen Körper, der noch zitterte. Wir lagen schweigend nebeneinander und ich streichelte sanft ihren Hinterkopf. Als Susannes tiefe Atemzüge zeigten, daß sie eingeschlafen war, lag ich hellwach auf dem Bett, starrte an die Decke und dachte nach.

Diese Nacht hatte etwas Kosmisches an sich. Es war mir, als hätte ich den Sinn meines Leidens und der vielen einsamen, gedankenvollen Stunden begriffen. Fast dreißig Jahre meines Lebens waren vergangen, ein mühsames Vorwärtsstreben, um hier und jetzt in dieser Offenbarung Gefühle zu finden, die seit Jahren abgespalten waren. Lange Zeit hatte es mich gequält, nur eine Hälfte in mir zu spüren, wissend, daß die andere da war, nur tief in mir vergraben, wie ein toter Zweig.

Wenn ich als Kind diese Ohnmacht und Hilflosigkeit erlebt hatte, fragte ich mich stets, ob es nicht einen Gott gäbe, der einem beistehen könnte. Wenn ich je an die Existenz eines höheren Wesens geglaubt hatte, so war es in dieser Nacht. Nach all den Wirren meines Daseins hatte er mir ein Zeichen gesetzt und mir diese Begegnung geschenkt.

Eigentlich wollte Susanne eine Sprachschule in Málaga besuchen, aber diese war geschlossen, so daß ihre Agentur sie nach Sevilla geschickt hatte. War das alles Zufall? Diese Kette glücklicher Umstände, die uns zusammenführte, hätte ich durch Raum und Zeit bis zum Urknall zurückspinnen können.

Ich versuchte, die Erlebnisse dieser Nacht noch einmal verstandesmäßig zu begreifen. War das alles real oder befand ich mich lediglich in einem Film, der gleich ins Stocken geraten und durch dessen Zelluloid sich eine Flamme ihren Weg bahnen und alles in gleißendes Weiß tauchen würde?

Ich vergewisserte mich, daß sich neben mir ein Mensch befand und nicht nur ein Phantasiegespinst. Susanne lag tatsächlich an meiner Seite, und dieses Gefühl der Befreiung hatte ich wirklich erlebt.

Nur einmal in meinem Leben hatte ich ein derart intensives Gefühl. Es war, als mein Vater nach einer Blinddarmoperation im Sterben lag. Ich war knapp sechs Jahre alt. Ein Freund der Familie kam zu uns nach Hause, um uns die Nachricht vom Tod meines Vaters zu überbringen. Ich lief in die erste Etage, hinaus auf den Balkon unseres Reihenhauses und vollzog Freudentänze. Ich fühlte mich unendlich frei – frei zu atmen, frei zu leben. Ich realisierte sofort, daß mein Vater nie wiederkommen und mich anrühren würde. Manchmal schämte ich mich dieser Gedanken, da ich mich über den Tod eines Menschen gefreut hatte.

Und jetzt, fast fünfundzwanzig Jahre später, erfuhr ich wieder eine so intensive Erlösung. Ich wurde von quälenden Schmerzen geheilt, durch einen Menschen, der mir etwas wiedergebracht hatte, was mir zustand.

Aber dennoch blieben Zweifel, trotz Susannes Schwur. Es waren Worte, und zu oft hatte ich an Worte geglaubt und war enttäuscht worden. Man kann nie Gewißheit haben, aber ich hoffte, daß die Beziehung nicht zu schnell vorbei sein würde.

Suicide

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