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2.5 Rationalität und Emotionalität

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Zunächst einmal ist festzustellen, „daß Lesen von Literatur generell ein hochgradig emotionaler Vorgang ist“ (Anz 1998, 23). „Literature is in league with the emotions. Readers of novels, spectators of dramas, find themselves led by these works to fear, to grief, to pity, to anger, to joy and delight, even to passionate love“ (Nussbaum 1995, 53). Wenn schon allgemein für die Rezeptionssituation eine Analogie von Lektüre und Drogenkonsum gezogen werden kann: „Nietzsche schließlich erklärte den Rausch überhaupt zur Bedingung und Wirkung von Kunst“ (Anz 1998, 55), dann erhöhen besondere Handlungsreize wohl noch die „narkotische Wirkung“ (ebd.). Sex and Crime, Eros und Thanatos, Liebe und Tod setzen die stärksten Reize und wenn das Leben nicht sicher und mit Gefahr verbunden ist, oftmals in Tateinheit mit extremen Leidenschaften, dann sind wohl kaum stärkere Narkotika denkbar. Dazu passt auch, dass Conan DoyleConan Doyle, Arthur seinen emotional offenbar niemals ausgelasteten Meisterdetektiv Sherlock Holmes mit Drogen Selbstexperimente durchführen lässt.

Thomas AnzAnz, Thomas hat weiter darauf hingewiesen, dass Menschen so in den Stand gesetzt werden, durch die Zivilisation brachliegende anthropologische Konstanten zu bearbeiten. Die Gattung musste sich schließlich erst etablieren: „Lust ist in auffälliger Weise mit Tätigkeiten verbunden, die aus evolutionsbiologischer Perspektive dem Überleben dienen“ (Anz 1998, 56). Aber: „Die Lustprämien bleiben freilich auch dann wirksam, wenn die durch sie motivierten Tätigkeiten zum Überleben nicht mehr oder nicht andauernd nötig sind“ (ebd.). Die veränderten Lebensweisen im Zivilisationsprozess machen es erforderlich, entweder Disziplin zu trainieren und Impulse zu unterdrücken oder Ventile zu schaffen, die im Idealfall zur zivilisatorischen Entwicklung beitragen. Deshalb wäre es auch „problematisch“, Fiktionen „als mehr oder weniger sublimierte sexuelle oder auf andere Objekte verschobene narzißtische Lust zu erklären“ (Anz 1998, 95).

Das Lesen hat viele Funktionen, etwa ‚realitätsbezogene Erkenntnisse‘ zu vermitteln oder „Mittel zur Bewältigung verschiedenster Lebenssituationen“ bereitzustellen (Anz 1998, 57). Die grundlegende und wichtigste Funktion aber ist es, eine „Simulationstechnik“ (Dieter Wellershoff) zu sein, also einen Möglichkeitsraum bereitzustellen, in dem alles Denkbare ausprobiert werden kann. Ohne diesen Frei-Raum gäbe es auch nicht die angesprochene „Bewältigung verschiedenster Lebenssituationen“, die nur in einem Lernzprozess im Rahmen eines Als-Ob stattfinden kann. Der durch Fiktionalität geschaffene Möglichkeitsraum der Literatur ist ein Spiel-Raum im besten Sinne. Im Anschluss an Friedrich Schiller, Johan Huizinga und andere hat Thomas AnzAnz, Thomas mit Blick auf die Postmoderne zusammengefasst: „,Spiel‘ steht für die lustvolle Befreiung von unlustvollen Zwängen“ (Anz 1998, 37). Freilich hängt es von den Rezipient*innen ab, von ihren Erwartungen und ihrem Vorwissen, wie weit sie bereit sind, aktiv mitzuspielen: „Wer von dem Komplexitätsgrad einer Reizkonfiguration in seiner Kompetenz überfordert oder unterfordert wird, reagiert auf die Schwierigkeiten mit Unlust“ (Anz 1998, 70).

Wie bereits der Hinweis auf SchillerSchiller, Friedrich und somit auf sein Werk Über die ästhetische Erziehung des Menschen in einer Reihe von BriefenÜber die ästhetische Erziehung des Menschen in einer Reihe von Briefen von 1794 zeigt, ist das Spiel schon früh in der Moderne als Basis für eine Vermittlung von Konzepten, für eine „ästhetische Erziehung“, erkannt worden. Das Problem ist nur, Schiller diskutiert es in seiner literarhistorisch bedeutsamen Rezension über Bürgers Gedichte, dass es Autor*innen geben müsste, die dazu in der Lage sind, ästhetisch überzeugende und gesellschaftspädagogisch wertvolle Texte zu schreiben, und – dies ließe sich hinzufügen – Leser*innen, die dazu in der Lage sind, Lust am Lesen gerade solcher Texte zu haben. In der Rezeptionsästhetik hat man von dem ‚idealen Leser‘ gesprochen.

Das breit angelegte Bildungsprogramm der Aufklärung setzt – eigentlich bis heute – eine solche Lust voraus, doch zeigt die tägliche Arbeit von Deutschlehrer*innen und Dozent*innen in Schule und Universität, dass Schüler*innen und Student*innen oft ganz andere Prioritäten haben. Und das sind diejenigen, die vom System im Sinne einer staatsbürgerlichen Erziehung dazu motiviert werden, entsprechende Potenziale von Literatur zu nutzen. Für den größten Teil des Lesepublikums gibt es einen Literaturbetrieb, der sich immer mehr in den kommerziellen Sektor (ein Beispiel sind die Kundenbewertungen auf Amazon) und ins Internet verlagert. Dort sind es vor allem Fan-Seiten, die das Bedürfnis des Gesprächs über Literatur befriedigen, das sich freilich zum größten Teil auf die Einschätzung des Unterhaltungswerts beschränkt. Allerdings war, mit Harold BloomBloom, Harold gesprochen, das Lesen kanonischer Literatur schon immer eine ‚elitäre Angelegenheit’. Dass und weshalb das Bildungsprogramm, wie es mit SchillerSchiller, Friedrich auch Wilhelm von Humboldt und andere vor mehr als 100 Jahren entworfen haben, heute offenbar so nicht mehr funktioniert, wäre ein eigenes Thema.

Ein Grund dürfte sein, dass Menschen sich über ihre Emotionen, gerade wenn sie besonders stark sind, wenig Rechenschaft abzulegen pflegen und der Schritt zur Reflexion dann möglicherweise umso schwerer zu gehen ist. Im Anschluss an Sigmund FreudFreud, Sigmund stellt Thomas AnzAnz, Thomas fest: „Unbefriedigte Wünsche sind die Triebkräfte der Phantasien, und jede einzelne Phantasie ist eine Wunscherfüllung, eine Korrektur der unbefriedigten Wirklichkeit“ (Anz 1998, 73). Dies gilt aber eben auch für triebbasierte Wünsche, die man sich gar nicht gern einzugestehen wagt, etwa sexuelles Verlangen oder Aggressionen bis hin zum Wunsch, Gewalt auszuüben.

Figuren und Handlungen von Kriminalromanen stellen Möglichkeiten bereit, solche Wünsche auf codierte Weise zu erfüllen: „Autoren lassen ihre Figuren sterben oder am Tod einer geliebten Person leiden, um die Lesenden zu vergnügen. Das Glück beim Lesen profitiert vom Unglück“ (Anz 1998, 114). Befriedigt werden aber nicht nur egoistische Triebe wie der Triumph, anders als die Figuren weder leiden noch bereits sterben zu müssen und das Leiden anderer dabei sogar genießen zu können (Anz 1998, 128), sondern auch moralische (Anz 1998, 123), etwa in der Bestätigung der (In-)Korrektheit bestimmter Verhaltensweisen durch Lohn und Strafe – der Täter wird überführt, der Detektiv wird bewundert (vgl. auch Anz 1998, 136). Es ist gerade dieser ‚thrill’, es ist die aus der sicheren eigenen Position genossene „Angstlust“ (Anz 1998, 129f.), die Krimis so populär macht.

Es gibt auch Fiktionen, die diesen Codierungsprozess selbst thematisieren, etwa der von einer Freud-Lektüre inspirierte HitchcockHitchcock, Alfred-Film SpellboundSpellbound von 1945 (auf Deutsch mit dem leider trivialen Titel Ich kämpfe um Dich). John Ballantyne (gespielt von Gregory PeckPeck, Gregory) wird Zeuge, wie sein Freund Dr. Anthony Edwardes beim Skilaufen erschossen wird und abstürzt. Weil er durch einen Militäreinsatz im Zweiten Weltkrieg traumatisiert ist, fällt Ballantyne in eine Amnesie und denkt, er sei Edwardes. Als solcher tritt er dessen neue Stelle als Leiter eines Heims für Geisteskranke an. Die Ärztin Dr. Constanze Petersen (Ingrid BergmanBergman, Ingrid) hilft ihm, sein Gedächtnis wiederzufinden und beide entlarven in einer dramatisch inszenierten doppelten Analyse – der Psyche Ballantynes und des mörderischen Geschehens – den bisherigen Anstaltsleiter Dr. Murchinson als Täter. Er wollte seine Stelle nicht verlieren. Zentral gesetzt sind (in Anlehnung an FreudFreud, Sigmunds Konzept der Traumdeutung) Ballantynes Träume (gestaltet von keinem Geringeren als Salvador DalíDalí, Salvador), die das Verdrängte in symbolisch codierter Form an die Oberfläche treten lassen (die Waffe des Täters sieht aus wie ein deformiertes Rad). Unschwer ist die metafiktionale Anlage des Films zu erkennen, wobei die Analyse des Patienten (der selbst Arzt ist) zur Reflexion darüber anregt, sich als Zuschauer*in über die eigenen Aggressionstriebe klarer zu werden.

Die Kenntnis der Differenz von Fiktion und außerfiktionaler Realität muss bei solchen Interpretationen immer vorausgesetzt werden. Selbst HitchcockHitchcock, Alfred musste seinen (legendären) Produzenten, der sich nun eigentlich mit Fiktionen auskennen sollte, entsprechend beeinflussen:

Producer David O. SelznickSelznick, David O. wanted much of this movie to be based on his experiences in psychotherapy. He even brought his psychotherapist in on the set to be a Technical Advisor. Once, when she disputed with Sir Alfred Hitchcock on the workings of therapy, Hitchcock responded, ‚My dear, it's only a movie’. (Ich kämpfe um Dich 2019)

Der Krimi in Literatur, Film und Serie

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