Читать книгу Der Krimi in Literatur, Film und Serie - Stefan Neuhaus - Страница 9
2.3 Konzeptionelle und kontextuelle Grundlagen
ОглавлениеAuf die durchgreifenden Veränderungen von einer relativ homogenen hierarchischen mittelalterlichen Ordnung zu einer arbeitsteilig organisierten ‚Disziplinargesellschaft‘ (FoucaultFoucault, Michel) wurde bereits hingewiesen. Der Prozess der zunehmenden Individualisierung und Ausdifferenzierung der Gesellschaft führt zu einem „allgemeine[n] Druck übermäßiger Komplexität und Kontingenz, der zum Aufbau interner Strukturen der Selbstmotivation, Informationsverarbeitung und Lernfreiheit“ (Luhmann 2016, 30) führen kann, aber nicht muss, schließlich sind „fremde Perspektiven“ durch „Unzuverlässigkeit“ gekennzeichnet (ebd.). Niklas LuhmannLuhmann, Niklas stellt weiter fest: „Dem anderen Menschen wird nicht nur das erwartete Verhalten, sondern ineins damit auch die dazu passende Erwartungshaltung zugemutet. Der andere soll sich nicht nur komplementär verhalten, er soll auch komplementär erwarten“ (Luhmann 2016, 34).
Die Entwicklung der (post-)modernen Gesellschaften hat folglich dazu geführt, dass Freiheit zunehmend als „eine zweischneidige Angelegenheit“ angesehen worden ist (Bauman 2003, 27). Dies betrifft auch das Rechtswesen: „Im Laufe des Vollzugs der neuzeitlich-bürgerlichen Gesellschaftsvorstellung werden die Normen der Moral kontingent, historisch, gesellschaftsabhängig und im Falle des Rechts durch Entscheidungen positiviert“ (Luhmann 2016, 96). Der Ständestaat wird von einer „neue[n] Ordnung“ abgelöst, „die in erster Linie in ökonomischen Begriffen definiert wurde“ (Bauman 2003, 10). Die Folge ist, dass Menschen ‚frei‘ auch in dem Sinn sind, dass dauerhafte Sozialbeziehungen und lineare Erwerbsbiographien die Ausnahme, soziale und berufliche Mobilität aber die Regel geworden sind. Dies führt zu Friktionen zwischen Wunsch und Wirklichkeit: „Die Selbstbehauptungsfähigkeiten individualisierter Menschen reichen in aller Regel nicht hin, um das zu erreichen, was man gemeinhin als Selbstkonstitution bezeichnet“ (Bauman 2003, 46). Zygmunt BaumanBauman, Zygmunt bringt es auch auf die Formel: „Die Freiheit kommt, wenn sie irrelevant geworden ist“ (ebd.).
Die scheinbare Vielfalt der Wahlmöglichkeiten hat Orientierungslosigkeit zur Folge:
Die Welt der unbegrenzten Möglichkeiten ist wie ein kaltes Büffet, dessen überladene Platten die Kapazität der stärksten Esser übersteigen. Die Gäste sind Konsumenten, und ihr größtes Problem ist die Auswahl bei der Speisenfolge, das sich auf die Entscheidung reduziert: Was sollte man weglassen? Das Problem ist nicht der Mangel, sondern das Überangebot der Auswahl. (Bauman 2003, 78)
Dies betrifft die Wahl von Lektüren wie die aller anderen Produkte ebenso wie die Wahl des Lebensstils, des Berufs, des Partners – soweit nicht ökonomische, soziale oder kulturelle Grenzen die Wahlmöglichkeiten stark einschränken und in bestimmte Bahnen lenken. Die Globalisierung hat die Macht der großen Konzerne und damit den Verlust des Vertrauens in frühere Strukturen gefördert. Richard Sennett fasst es so zusammen: „Das Fehlen von Vertrauen kann auch durch die flexible Ausübung von Macht entstehen“ (Sennett 2010, 195).
Diese Entwicklung zu einer auf Kontingenz gestellten Gesellschaft hat zu zwei Gegenbewegungen geführt. Die erste begreift, wie dies Wolfgang WelschWelsch, Wolfgang gezeigt hat, Pluralität als große Errungenschaft dieser Entwicklung (Welsch 2002, 6). Sie setzt auf Kritikfähigkeit mündiger Bürger, auch bei der Auswahl und Lektüre der (massen-)medialen Angebote: „Postmoderne Auffassungen des Ich, wie zum Beispiel die Salman Rushdies, betonen Bruch und Konflikt, aber nicht die Kommunikation zwischen den fragmentierten Teilen des Ich“ (Sennett 2010, 198). Wenn aber die Verbindungen zwischen den „fragmentierten Teilen des Ich“ der Einzelne selbst herstellen muss, also eine starke Individualität gefordert ist, wird es problematisch – denn woher sollen die Angebote kommen, eine solche Stärke zu erlangen?
Die zweite kultiviert ideologische, teils auch totalitäre Vorstellungen, die es ermöglichen, die Kontingenz scheinbar zum Verschwinden zu bringen. Matthias DrobinskiDrobinski, Matthias hat es 2012 in der Süddeutschen Zeitung so formuliert: „Ob Christen, Juden, Muslime, Tierschützer oder Nichtraucher – unter ihnen allen gibt es einen Glauben, der weltweit die höchsten Zuwachsraten hat: den Fundamentalismus. Er ist der höchstpersönliche Ausweg aus der Individualismusfalle“ (Drobinski 2012). Solche Angebote sind deshalb verführerisch, weil sie den Menschen die Wahlentscheidungen und somit das Denken abnehmen. Die Übernahme von Mustern genügt, denn diese enthalten Handlungsdirektiven und basieren auf Versprechungen, die aber, weil sie der komplex gewordenen Realität entgegenstehen, illusorisch sind und bleiben. Dennoch oder vielleicht gerade deshalb haben Illusionen, die für Realität gehalten werden können, Konjunktur. Es hat schließlich Tradition (vom Kaiserreich über den Nationalsozialismus bis zum Wahlprogramm der AfD), Authentizität zu suggerieren, die es nicht gibt (vgl. Bhabha 2007, 179), und das historische Gedächtnis (das zeigen würde, dass alles nicht einfach da, sondern Ergebnis von Kontingenz geprägter Entwicklungen ist) auf diese Weise zum Verschwinden zu bringen (vgl. Bhabha 2007, 237).
Die Folge ist eine paradoxe Situation: Donald Trump kommt bei den Wähler*innen besonders gut an, die am meisten durch ihn verlieren; die Fremdenfeindlichkeit ist dort am stärksten, wo es am wenigsten Fremde gibt. (Wenn es nicht so ernst wäre, könnte man witzeln: Der Glaube versetzt Zwerge.) Wobei der größte Teil der Bürger*innen oft gar nicht wählen geht oder sonst wie politisch handelt, weil er mit der Komplexität postmoderner Gesellschaften überfordert ist: „Apathie ist die logische Reaktion auf das Gefühl, nicht gebraucht zu werden“ (Sennett 2010, 202).
Mit diesen wenigen Bemerkungen kann nur ein weitaus komplexerer Nährboden angedeutet werden, aus dem heraus – um in der Metapher zu bleiben – Krimis als Sumpfblüten oder Orchideen (oder etwas dazwischen) wachsen und ihre Fans finden (oder auch nicht). Einige weitere Aspekte des Krimis gilt es noch etwas näher zu beleuchten.