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3.2 Vom Buch zum Film

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Die geschichtliche Entwicklung des Kriminalfilms (vgl. bereits Neuhaus 2018) ist nicht losgelöst zu betrachten von der des Films allgemein, eingebettet in die jeweiligen sozialen, kulturellen, ökonomischen und politischen Kontexte. Der Film entsteht technisch aus der Fotografie und anderen optischen Medien (etwa der Laterna magica), er wird beeinflusst von der Literatur, dem Theater und den anderen Künsten. 1895 führten die Brüder LumièreBrüder Lumière mit ihrem ‚Cinématographe‘ in Paris oder auch die Brüder SkladanowskyBrüder Skladanowsky in Berlin kurze Filme vor. Bis 1912 entwickelte sich das junge Medium des Kinofilms zu einem eigenen Wirtschaftszweig, die Jahre 1913-27 gelten als Stummfilmzeit. Nach dem Zweiten Weltkrieg kam das Fernsehen als Ergänzung und Konkurrenz hinzu (Monaco 2005, 232). Die ersten Vorführungen hatten eher dokumentarischen Charakter, im Laufe der Zeit stieg der Anteil an fiktionalen Filmen aber stetig an und dominierte schließlich das Kino (Paech 1997, 25).

Der Spielfilm spannt einen großen Bogen und wird daher mit dem Roman verglichen, viele Spielfilme sind außerdem Verfilmungen literarischer Texte. Dazu kommen zahlreiche weitere Berührungspunkte (Erzähltechniken, Symbole…), so dass sich die „Literaturgeschichte als Vorgeschichte des Films“ verstehen lässt (Paech 1997, 45). Zugleich gibt es signifikante Unterschiede. Filme sind einerseits komplex, indem sie verschiedene Codes kombinieren (Bild, Ton, Musik, gesprochene Sprache, Kameraperspektive, Schnitt, Mimik, Gestik…) und hohe personelle wie finanzielle Anforderungen stellen; andererseits ist das Sehen etwas frühkindlich und unbewusst Gelerntes und nicht vergleichbar mit der später erst mit einem gewissen Aufwand zu erlernenden Kulturtechnik des Lesens. Die „Lust am Schauen“ (Mulvey 2001, 391) wirft weitere Fragen auf, etwa nach der Verfestigung von Stereotypen durch Visualisierung wie bei den Vorstellungen von ‚Weiblichkeit‘ und ‚Männlichkeit‘. Gelungene künstlerische Filme bedienen aber nicht Klischees oder Stereotype, sondern zeichnen sich durch eine komplexe, ästhetische und innovative (Bild-)Sprache aus (Neuhaus 2008a).

Der Kriminalfilm stellt, wenn es um Merkmale des Genres geht, die Forschung vor die gleichen Fragen wie die Kriminalliteratur, die überwiegend aus Kriminalromanen besteht. Vergleichbar zum Kriminalroman in der Literatur gehört auch der fiktionale Kriminalspielfilm, historisch und gegenwärtig, zu den populärsten Filmgenres, er gilt manchen als das quantitativ bedeutsamste (Hickethier 2005, 11). Durch die neuen Serien-Formate dürfte sich dies relativiert haben. Dabei wird der weitaus größte Teil der Krimi-Produktionen in Literatur und Film zur Unterhaltungsware gezählt (Seeßlen 1998, 32). Der Grund ist, dass das in der Regel wichtigste Kriterium die Erzeugung von Handlungsspannung ist; ein Kriterium, das neben dem Fokus auf Unterhaltung im Kontext literarischer Wertung als wichtiges Verdachtsmoment für Trivialität gilt, ebenso wie das durch den Gegensatz von Täter und Opfer provozierte Gut-Böse-Schema. Dass Kriminalfilme als Unterhaltungsfilme rubriziert werden, wiegt historisch betrachtet deshalb so schwer, weil spätestens seit dem Nationalsozialismus deutlich geworden ist, dass der „herrschende Massenbedürfnisse“ (Kracauer 1984, 11) befriedigende, auf Unterhaltung zielende Kinofilm an der Stabilisierung der (autoritären) gesellschaftlichen Ordnung mitwirkt, indem er auf scheinbar ‚natürliche‘ Muster zurückgreift (z.B. der als hässlich und auch sonst als ‚anders‘ markierte Täter) und so einen den etablierten Diskurs verstärkenden Charakter hat. Doch auch Gegendiskurse können sich verfestigen und zu Klischees erstarren (z.B. der korrupte Polizist oder der unschuldig Verfolgte).

Wie in der Kriminalliteratur geht es im Kriminalfilm um die Missachtung gesellschaftlicher Normen und die daraus resultierenden Konsequenzen, üblicherweise nach dem Schema Normverletzung und Wiederherstellung der Ordnung (Hickethier 2005, 11). Allerdings sind es gerade die kanonisierten Texte und Filme der Gattung und des Genres, die keine „Bedrohung durch das schlechthin Fremde“ (Linder / Ort 1999, 4) inszenieren, sondern eine Lösung vermissen lassen, so dass die Normverletzung, der sie auslösende Konflikt oder die Problematik der Norm selbst fortdauern. Es gehört zu den Besonderheiten bereits kanonisierter oder neuerer und avancierter Kriminalfilme, komplexer strukturiert zu sein und gegen gängige Muster zu verstoßen, durch formale Experimente und durch das Unterlaufen klarer Schuldzuweisungen. Der Mechanismus von Spannung und Entspannung, der Befriedigung der „Faszination des Schrecklichen“ und der ‚bösen Lust‘ (Anz 1998, 115 u. 125) wird gebrochen, etwa durch Ironie, Parodie bzw. die Verwendung selbstreflexiver, auch metafiktionaler Elemente.

Dennoch bleibt als Grundlage die Erzeugung von Nervenkitzel (engl. ‚thrill‘), mit Michael BalintBalint, Michael verstanden als „Angstlust“, als „eine Art ‚Katastrophentraining‘“ und als „lustvolles Spiel mit dem Tod“. Angst wird in mehrfacher Weise produktiv. Sie ermöglicht es, sich den Figuren, die leiden und sterben müssen, überlegen zu fühlen. Es können über die Identifikation mit dem Täter Aggressionen abgebaut und gleichzeitig durch die Bestrafung des Täters und den Erfolg des Detektivs internalisierte, als positiv begriffene Werte und Normen bestätigt werden. „Die Lust an der Angst ist eine Lust an der eigenen Fähigkeit, sie abzuwehren und zu bewältigen“ (Anz 1998, 129-133).

Beim Kriminalfilm gelten analoge Unterscheidungen zur Kriminalliteratur, so finden sich etwa die Kategorien Detektivfilm, Polizeifilm, Gangsterfilm (mit der Variante „Serienkillerfilm“), Gerichtsfilm, Gefängnisfilm, Thriller (mit der Sonderform „Politthriller“), Spionagefilm und film noir, wobei sich in allen Subgenres auch Komödien finden (Hickethier 2005, 17-26). Es kann beispielsweise entweder der Detektiv und die Detektion im Mittelpunkt stehen oder aus der „Perspektive des Opfers der Intrige“ (Koebner / Wulff 2013, 10) die Handlung geschildert werden. Die meisten fiktionalen Texte und Filme mischen die genannten Muster, idealtypische Beispiele für die genannten Subgenres finden sich – wie in der Literatur – eher selten.

Zu den besonders häufig genutzten Möglichkeiten von Kriminalfilmen gehört, aus der Perspektive einer ‚poetischen Gerechtigkeit‘ auf soziale Ungleichheiten aufmerksam zu machen und über die Figurencharakterisierung auch Empathie für auf die aus solchen Ungleichheiten resultierenden oder auf deren Beseitigung zielenden Verhaltensweisen zu wecken (Nussbaum 1995, 87 u. 115). Dabei stehen oft verschiedene Auffassungen von Gerechtigkeit in einem produktiven Spannungsverhältnis. Auf diese Weise werden, wie in der philosophischen und philologischen Theoriebildung, juristische oder moralische Normen als Basis des (Ver-)Urteilens und Kategorien wie ‚Gut‘ und ‚Böse‘ als Zuschreibungen kenntlich (Eagleton 2012, 164).

Angesichts der Komplexität der heutigen Gesellschaft, die eigentlich nur noch über die audiovisuellen Massenmedien und die sogenannten Neuen Medien in einer spezifischen Medienrealität vermittelbar ist (Luhmann 2004), werden etablierte Kategorien doppelt (und im Wortsinn) fragwürdig. Das Kommunizieren ‚guter‘ Überzeugungen bedingt nicht unbedingt ‚gutes‘ Handeln und ‚gutes‘ Handeln kann ‚böse‘ Folgen haben.

Das Krimi-Genre hat alle Medien erobert und die meisten bereits, sobald sie entstanden. Ein Beispiel für die beispiellose Erfolgsgeschichte ist ‚der berühmteste Comic-Detektiv aller Zeiten‘, Dick Tracy, der 1931 in einer Sonntagsbeilage des Detroit Mirror das Licht der Welt erblickte (Seeßlen 2011, 91). Zu den Comic-Ermittlern zählt auch die Hauptfigur in Les aventures de TintinLes aventures de Tintin, auf Deutsch: Tim und Struppi, die weltberühmte Serie von Comics des belgischen Zeichners HergéHergé, in einigen ihrer Abenteuer. Im deutschsprachigen Raum sehr erfolgreich wurde Manfred SchmidtSchmidt, Manfreds Figur Nick Knatterton, die in parodistischer Weise an Sherlock Holmes angelehnt war. Der Name spielt auf die zuvor erfolgreich in Heftromanen ermittelnden Detektivfiguren Nick Carter und Nat Pinkerton an. Zwischen 1950 und 1959 erschien Nick Knatterton als Comicserie in der Illustrierten Quick. 1959 und 1979 kam es zu Medienwechseln zuerst in den ‚Realfilm‘ und dann in den Trickfilm. Im Bereich von Kinderliteratur und Hörspiel besonders bekannt ist nach wie vor die von Robert ArthurArthur, Robert und anderen geschaffene Serie The Three InvestigatorsThe Three Investigators (Die drei ???). Von 1968 bis heute soll die Zahl der verkauften Tonträger allein in Deutschland über 45 Millionen betragen, dazu kommen über 16,5 Millionen verkaufte Bücher.

Die Geschichte des Kriminalfilms ist so alt wie die Geschichte des Films. Bereits frühe Filme thematisieren Verbrechen, etwa The Great Train RobberyThe Great Train Robbery, ein zwölfminütiger US-amerikanischer Film von 1903, er gilt auch als der erste Western und erste Actionfilm der Filmgeschichte. Sogar noch etwas älter ist ein einminütiger Film, der bereits im Titel unschwer als Detektivfilm zu erkennen ist: Sherlock Holmes BaffledSherlock Holmes Baffled von Arthur MarvinMarvin, Arthur (1900). Holmes ist eine der ersten Starfiguren der Filmgeschichte. In Deutschland entstehen 1910 „zwei Filme, in denen Sherlock Holmes Arsène Lupin, den zweiten der großen Gentleman-Ganoven der populären Literatur (erfunden von dem französischen Autor Maurice Leblanc), zum Gegner hatte“ (Seeßlen 1998, 56). Eine Holmes ähnliche Figur zieht wenig später mit dem Meisterdetektiv Stuart Webbs in den deutschen Kriminalfilm ein (Kracauer 1984, 25). Die geheimnisvolle Villa ist der erste Film der Produzenten Joe MayMay, Joe und Ernst ReicherReicher, Ernst aus einer Serie von 1913 bis 1929; bei den frühen Produktionen führte Joe May auch Regie. Wie Sir Arthur Conan DoyleConan Doyle, Arthurs Sherlock Holmes, der in verschiedenen Ländern zur Filmfigur wurde, ist Webbs ein Bote des Glaubens an den Sieg der Logik und des Guten: „Der Detektiv, der auf eigene Faust und kraft seines Verstands das Spinngewebe irrationaler Mächte zerreißt und Anständigkeit über dunkle Triebe siegen läßt, ist der prädestinierte Held einer zivilisierten Welt, die an das Glück von Aufklärung und individueller Freiheit glaubt“ (Kracauer 1984, 26).

Nach dem Ersten Weltkrieg ist das Vertrauen in aufklärerische Positionen nachhaltig erschüttert. Es entstehen Filme wie Das Cabinet des Dr. CaligariDas Cabinet des Dr. Caligari (1920, Regie führte Robert WieneWiene, Robert). Die auf realen Ereignissen beruhende Mordhandlung wird durch einen unzuverlässigen Erzähler gerahmt, so dass „die Phänomene auf der Leinwand als Phänomene der Seele“ (Kracauer 1984, 77) erscheinen. Die Rahmung, das Irrationale und zugleich auf faszinierende Weise Autoritäre Caligaris, die mit Mitteln des Expressionismus erfolgte Inszenierung seines zwar lokalen, aber terroristischen und ‚wahnsinnigen‘ Regimes lassen die titelgebende Figur zu einer „Vorahnung Hitlers“ werden (Kracauer 1984, 79). Ein nicht weniger berühmtes Beispiel ist die Figur des Dr. Mabuse (Kracauer 1984, 89), wie sie Fritz LangLang, Fritz als Regisseur und seine Frau Thea von HarbouHarbou, Thea von als Drehbuchautorin in Szene setzen, in den Filmen Dr. Mabuse, der SpielerDr. Mabuse, der Spieler (1922) und Das Testament des Dr. MabuseDas Testament des Dr. Mabuse (1933). Der größenwahnsinnige Verbrecher, sein Stellvertreter und ihre kriminelle Organisation sind im zweiten Film als deutliche Anspielungen auf die NS-Bewegung und ihre Führer konzipiert.

Fritz Lang und Thea von Harbou haben die Filmgeschichte geprägt, auch mit dem Science-Fiction-Klassiker MetropolisMetropolis (1927) und mit SpioneSpione (1928), dem genrebildenden frühen Beispiel des Spionagefilms. Ein Bankdirektor hat eine kriminelle Organisation geschaffen, die mit Staatsgeheimnissen handelt. Der Agent „No. 326“ (Willy FritschFritsch, Willy) und die zunächst auf ihn angesetzte Sonja Barranikowa legen Direktor Haghi (Rudolf Klein-RoggeKlein-Rogge, Rudolf), der zudem als Informant des Geheimdienstes gezielt falsche Informationen gestreut hat, schließlich das Handwerk. Der Film etabliert viele Motive, die später beispielsweise in Alfred HitchcockHitchcock, Alfreds Spionage-Thriller Die 39 StufenDie 39 Stufen (1935) oder in den James-BondJames Bond-Verfilmungen Verwendung finden.

Im Nationalsozialismus wurden Literatur und Massenmedien gleichgeschaltet und es gab klare Zuschreibungen von ‚Gut‘ und ‚Böse‘, die ideologisch-rassistisch motiviert waren. Die meisten klugen, innovativen Filmemacher und Schauspieler kehrten dem Dritten Reich den Rücken, viele gingen, wie Fritz LangLang, Fritz, nach Hollywood. Nach dem Krieg setzte eine Aufarbeitung der historischen Entwicklung ein, die auch den Kriminalfilm betraf. 1959 drehte Wolfgang StaudteStaudte, Wolfgang Rosen für den StaatsanwaltRosen für den Staatsanwalt, eine Abrechnung mit der Nachkriegsgesellschaft, die von allem nichts gewusst haben wollte, am Beispiel eines Richters, der in der NS-Justiz eine hohe Position bekleidet hatte und nach 1945 weiter seiner Tätigkeit nachgehen darf. Eine Kriminalhandlung motiviert die Erzählung: Kurz vor Kriegsende wird der Gefreite Rudi Kleinschmidt (ein sprechender Name; Walter GillerGiller, Walter spielt die Rolle) vom Kriegsgerichtsrat Dr. Wilhelm Schramm (Martin HeldHeld, Martin) wegen des angeblichen Diebstahls von Schokolade zum Tode verurteilt; nur ein Zufall rettet sein Leben. Nach dem Krieg treffen sich die beiden wieder. Schramm hat seine Mittäterschaft verschwiegen und ist Oberstaatsanwalt geworden, an seinen autoritären und rassistischen Ansichten hat sich nichts geändert. Der von der Hand in den Mund lebende Kleinschmidt stiehlt schließlich noch einmal Schokolade, er wird vor denselben Richter geführt und der beantragt, weil er sich an die frühere Verhandlung erinnert, versehentlich wieder die Todesstrafe. Der entlarvte Richter begibt sich auf die Flucht, Kleinschmidt beginnt vermutlich ein neues Leben mit seiner Freundin. Trotz des harmonisierenden Happy Ends stellt der Film, am Beispiel der paradigmatischen Autoritäts-Figur eines Richters, die tabuisierte Frage nach der Mitschuld der scheinbar so respektablen und integrierten Nachkriegs-Deutschen am Nationalsozialismus.

Auch Produktionen der Nachkriegszeit verarbeiten allgemeine Probleme von Kriminalität, um auf den zeitgenössischen Diskurs zu wirken. Kein Geringerer als Friedrich DürrenmattDürrenmatt, Friedrich entwickelte den Stoff für Es geschah am hellichten TagEs geschah am hellichten Tag (1958, Regie Ladislao VajdaVajda, Ladislao), ein aufklärender Auftragsfilm, der Kindesmissbrauch und Kindstötung auf die Agenda der Nachkriegsgesellschaft setzte. Im internationalen Spielfilm wird die Tradition fortgesetzt und radikalisiert, die psychischen Abgründe von Figuren zu visualisieren. Der gebürtige Engländer Alfred HitchcockHitchcock, Alfred, stark beeinflusst vom deutschen Vorkriegsfilm und der Psychoanalyse, experimentiert erfolgreich mit der Inszenierung menschlicher Abgründe, besonders eindrucksvoll in PsychoPsycho (1960): Der junge Motel-Betreiber Norman Bates erleidet, nachdem er seine Mutter umgebracht hat, auf die er ödipal fixiert war, eine Persönlichkeitsspaltung und tötet fortan, als seine Mutter verkleidet, junge Frauen, die auf der Durchreise sind. Im selben Jahr kommt Peeping TomPeeping Tom von Michael PowellPowell, Michael in die Kinos und wird zum Skandal. Der deutsch-österreichische Star Karlheinz BöhmBöhm, Karlheinz (berühmt wegen seiner Rolle als österreichischer Kaiser in den Filmen Sissi von 1955, Sissi – Die junge Kaiserin von 1956 und Sissi – Schicksalsjahre einer Kaiserin von 1957, Regie führte stets Ernst MarischkaMarischka, Ernst) spielt den ebenso schüchtern wie sympathisch auftretenden Mark, der junge Frauen mit dem angespitzten Stativ seiner Kamera tötet und dabei filmt. Die Perspektiven beider Kameras verschmelzen, die Zuschauer*innen sehen durch das ‚Auge‘ von Marks Handkamera und werden wenn nicht selbst zu Täter*innen, auf jeden Fall aber zu Voyeur*innen (hierfür ist ‚peeping Tom‘ der englischsprachige Ausdruck). Mark wiederholt und variiert ein Trauma, als Kind ist er von seinem Vater gequält und dabei gefilmt worden. Zu solchen psychologischen Ein-Sichten war das damalige Kinopublikum aber noch nicht bereit. Die Karriere Karlheinz Böhms wie der anderen am Film Beteiligten litt unter dem Skandal, der Film wurde erst sehr viel später von der Filmkritik und der Forschung zum Meisterwerk erklärt.

Bereits in den 1930er Jahren entstanden Serien, die nicht nur ungeheuer populär wurden, sondern auch sehr einflussreich waren, wenn es um die Weiterentwicklung des Genres geht. Zu den Vorläufern von James BondJames Bond gehören Charlie Chan und Mr. Moto. Charlie Chan basiert auf einer Romanserie von Earl Derr BiggersBiggers, Earl Derr, allerdings gingen – wie später bei James Bond – den Produzenten bald die Romane aus. 1926 entstand ein erster Film „als Serial in zehn Kapiteln“ (Seeßlen 2011, 77), von 1931-42 spielten in 27 Filmen zunächst Warner OlandOland, Warner und ab 1938 Sidney TolerToler, Sidney die Hauptrolle des chinesischen Detektivs, der auf Hawaii lebt. Weitere Darsteller folgten im Laufe der Jahre und Jahrzehnte, unter ihnen 1980 in Charlie Chan and the Curse of the Dragon QueenCharlie Chan and the Curse of the Dragon Queen auch Peter UstinovUstinov, Peter. Chan ist Familienvater und einzelne seiner Söhne ermitteln immer wieder mit ihm zusammen. Die Filme changieren von Verbrechen zu Spionage, im Laufe der Jahre erstrecken sich die Schauplätze über die ganze Welt und der Humor spielt eine immer wichtigere Rolle. „Charlie Chans Gegner hatten indes die Tendenz, immer allmächtiger, grotesker und geheimnisvoller zu werden“ (Seeßlen 2011, 84) – noch eine Parallele zu den späteren Bond-Filmen. In Gastrollen waren prominente Schauspieler*innen wie Rita HayworthHayworth, Rita oder Boris KarloffKarloff, Boris zu sehen (Seeßlen 2011, 81). Auch die Figur Mr. Moto stammt aus Romanen, ihr Autor hieß John Phillips MarquandMarquand, John Phillips. Bekannter ist der Hauptdarsteller: „Peter LorreLorre, Peter spielte nicht Mr. Moto, er lieh ihm seine Persönlichkeit“ (Seeßlen 2011, 86). Von 1937-39 kamen acht Filme in die Kinos.

Insbesondere die US-amerikanische Filmindustrie produzierte nach dem Zweiten Weltkrieg eine solche – und immer größer werdende – Vielzahl von Detektivserien, dass es aussichtslos wäre, auch nur die wichtigsten hier aufzulisten. Einige besonders bekannte und beliebte Serien sollen kurz (teils noch einmal) Erwähnung finden, und zwar als Beispiele für die sehr unterschiedlichen Typen von Ermittlern. In The Streets of San FranciscoThe Streets of San Francisco sind es von 1972-77 zwei Polizisten, neben Karl Malden debütierte der zum Star avancierende Michael DouglasDouglas, Michael (Sohn von Starschauspieler Kirk DouglasDouglas, Kirk). Die Lebens-Rolle von Peter FalkFalk, Peter war von 1968-2003 ColumboColumbo, ein schrulliger, zerstreut und ungepflegt wirkender Inspektor mit Trenchcoat. In The Rockford FilesThe Rockford Files stellte von 1974-80 James GarnerGarner, James einen Privatdetektiv dar, der in einem Campinganhänger lebt und sich durch die vielen kleinen Misserfolge nicht von seinem Weg und seiner prinzipiellen guten Laune abbringen lässt. Komik und Humor spielten auch eine wichtige Rolle in Magnum, p.iMagnum, p.i. von 1980-88 mit Tom SelleckSelleck, Tom, den Steven SpielbergSpielberg, Steven gern für seinen (ersten) Indiana Jones-Film Raiders of the Lost ArkRaiders of the Lost Ark von 1981 verpflichtet hätte. Weil Selleck seinen Vertrag erfüllen und weiter Magnum spielen musste, bekam Harrison FordFord, Harrison die Rolle des Spielfilm-Helden – eines Archäologieprofessors, der in der Nazizeit einzigartige verschollene Kunstgegenstände sucht und dabei Verbrechen aufklärt. Auch Gerichtsmediziner sind immer wieder als Ermittlerfiguren in Serien zu sehen, beispielsweise Jack KlugmanKlugman, Jack in Quincy, M. E.Quincy, M. E. von 1976-83.

Auch im deutschsprachigen Raum gab und gibt es zahlreiche Detektiv- und Krimiserien unterschiedlichster Formate. Hier nur eine kleine Blütenlese: StahlnetzStahlnetz hieß eine von 1958-68 ausgestrahlte Reihe im NDR mit 22 Folgen mit Motiven aus wahren Begebenheiten. 1969-76 lief in 97 Folgen Der KommissarDer Kommissar mit Erik OdeOde, Erik in der Titelrolle, geschrieben von dem ungekrönten Krimidrehbuch-Serienkönig Herbert ReineckerReinecker, Herbert. Er schrieb außerdem alle Drehbücher für die international sehr erfolgreiche Serie DerrickDerrick mit Horst TappertTappert, Horst in der Titelrolle, gesendet von 1974-98 in 281 Episoden. Die TatortTatort-Reihe startete 1970 und läuft bis heute, mit je nach Sendeanstalt der ARD, des ORF und des SF unterschiedlichen Ermittlerteams.

In Zeiten von Netflix und Amazon prime hat sich die Zahl der Serienproduktionen vervielfacht. Auch künstlerisch ist versucht worden, neue Maßstäbe zu setzen, etwa mit True DetectiveTrue Detective oder mit FargoFargo, die ersten Staffeln beider Serien erschienen 2014. Schon im Titel zitiert Fargo von Noah HawleyHawley, Noah den gleichnamigen Film der Starregisseure Ethan und Joel CoenCoen, Ethan und Joel von 1996. Die berühmten Coen-Brüder sind die Produzenten der Serie. In beiden Serien, die in jeder Staffel jeweils eine neue Geschichte erzählen, handelt es sich bei den Ermittlern um Polizisten.

Dazu kommen sehr erfolgreiche Mini-Serien, etwa die Verfilmungen der Kriminalromane mit der vom schwedischen Schriftsteller Henning MankellMankell, Henning erschaffenen Figur Kurt Wallander. Wallander ermittelt als Kriminalkommissar im schwedischen Ystad, die Romanserie wurde 1994-2007 vom schwedischen Fernsehen und von 2008-15 von der BBC verfilmt, für die zwölf Folgen der britischen Produktion zeichnete Kenneth BranaghBranagh, Kenneth verantwortlich, der auch die Hauptrolle spielte. Der von seiner Frau verlassene Wallander ist der Typus des einsamen Wolfs, des trotz persönlicher und gesundheitlicher Probleme aufrechten Kämpfers gegen das Verbrechen in einer unüberschaubar gewordenen Welt. Halt gibt dem auf seine Arbeit fixierten Kommissar die Beziehung zu seiner Tochter, allerdings nur in begrenztem Umfang, da diese immer wieder auch Partei für die Mutter ergreift.

Die deutschsprachigen Produktionen sind vor allem Kriminalfilme, die sich an das traditionelle Muster des Whodunit halten. Ein legendäres Beispiel ist die Verfilmung des Francis-DurbridgeDurbridge, Francis-Krimis Das HalstuchDas Halstuch in sechs Teilen, vom WDR produziert und 1962 in der ARD gezeigt. Hans QuestQuest, Hans führte Regie, Heinz DracheDrache, Heinz spielte den Ermittler, Dieter BorscheBorsche, Dieter den Mörder. Auch Horst TappertTappert, Horst, der bereits erwähnte Derrick-Darsteller, ist dabei. Die Verfilmung setzt erfolgreich auf größtmögliche Handlungsspannung, so dass die Miniserie als legendärer ‚Straßenfeger‘ mit einer der höchsten Einschaltquoten aller Zeiten gilt. Die Grenzen zwischen Kinofilm und TV-Krimi sind nicht immer leicht zu ziehen: Die TV-Produktionen entwickeln sich aus der Spielfilm-Tradition, die Kinofilme werden nach einiger Zeit auch im TV (wiederholt) gesendet und zu manchen TV-Produktionen gibt es Kinofilme. Ein Beispiel sind die im Kino gesendeten Filme Zahn um ZahnZahn um Zahn (1985) und ZabouZabou (1987) mit dem Tatort-Kommissar Horst Schimanski (gespielt von Götz GeorgeGeorge, Götz; Regie führte Hajo GiesGies, Hajo).

Aus der unüberschaubaren Zahl von Kriminalfilmen für Kino oder Fernsehen Beispiele auszuwählen ist ebenso müßig wie notwendig, will man Genretraditionen aufzeigen und das Spektrum ausloten. Zu den herausragenden, das Genre erweiternden Produktionen gehört Blow upBlow up von Michelangelo AntonioniAntonioni, Michelangelo aus dem Jahr 1966, mit Vanessa Redgrave und anderen Stars der Zeit. Der Fotograf Thomas (David HemmingsHemmings, David) glaubt auf Aufnahmen einen Mord zu entdecken, tatsächlich findet er eine Leiche im Park. Allerdings wird bei ihm eingebrochen, die Aufnahmen und Negative werden gestohlen und auch die Leiche ist nicht mehr zu finden. Am Ende bleibt das Rätsel bestehen, ob er wirklich einen Mord fotografiert hat. Der metafiktionale und symbolische Charakter des Films wäre eine eigene Untersuchung wert. Lediglich erwähnt werden kann ein anderer offen konzipierter, mit Thriller-Elementen spielender Kult-Film: Mulholland DriveMulholland Drive von David LynchLynch, David aus dem Jahr 2001. Solche Filme nutzen die Genre-Traditionen und verfremden sie in einer für das eigene, künstlerische Konzept passenden Weise.

Ins britische wie ins US-amerikanische Kino kommen auch Kriminalfilme, die zugleich Krimiparodien sind. Bedeutende frühe Beispiele sind Arsenic and Old LaceArsenic and Old Lace (Arsen und Spitzenhäubchen) von 1941, der aber erst 1944 gezeigt wurde (Regie: Frank CapraCapra, Frank, u.a. mit Cary GrantGrant, Cary und Peter LorreLorre, Peter), oder LadykillersLadykillers aus dem Jahr 1955 (mit Alec GuinnessGuinness, Alec unter der Regie von Alexander MackendrickMackendrick, Alexander). Auch das deutschsprachige Kino setzt, wenn es um Krimihandlungen geht, oft und immer mehr auf Humor. An der Grenze von Krimi und Komödie sind die Filme Helmuth AshleyAshley, Helmuths angesiedelt, die nach Motiven der Geschichten Gilbert Keith ChestertonChesterton, Gilbert Keiths den als Detektiv auftretenden Pater Brown in den Mittelpunkt rücken. Die Spielfilme Das schwarze SchafDas schwarze Schaf (1960) und Er kanns nicht lassenEr kann’s nicht lassen (1962) mit Heinz RühmannRühmann, Heinz gehören zu den Dauerbrennern im deutschen Fernsehen. Radikaler verfahren die 32 Edgar-WallaceWallace, Edgar-Verfilmungen der Rialto-Film aus den Jahren 1959-72, die Horst WendlandtWendlandt, Horst produzierte; bei 14 Filmen führte Alfred VohrerVohrer, Alfred Regie. In 13 Filmen spielte Joachim FuchsbergerFuchsberger, Joachim den Ermittler, viele bekannte Schauspieler*innen der Zeit sind in unterschiedlichsten Rollen vertreten. In 16 Filmen spielte Klaus KinskiKinski, Klaus einen Bösewicht. Die Wallace-Verfilmungen sind (anders als die Romanvorlagen) zugleich Kriminalfilme und Kriminalkomödien. Der eigene Stil entsteht durch selbst-parodistische Elemente, die durchaus fiktionsdurchbrechend sein können, etwa wenn Figuren das Geschehen kommentieren oder sich sogar an das Publikum wenden.

Wie mit Zuschauererwartungen gespielt wird, lässt sich beispielsweise an Das indische TuchDas indische Tuch (1963, Regie Alfred VohrerVohrer, Alfred) kurz zeigen. Der Film basiert auf dem bekannten Muster des ‚locked room mystery‘. Mit Heinz DracheDrache, Heinz als Anwalt und Ermittler, Elisabeth FlickenschildtFlickenschildt, Elisabeth und vielen anderen bekannten Schauspieler*innen der Zeit ist er exzellent besetzt. Anders als gedacht entpuppt sich nicht der drogenabhängige Peter Ross (Klaus KinskiKinski, Klaus) als der gesuchte Serienmörder, der auf einem von der Außenwelt abgeschnittenen Schloss nach und nach eine ganze Adelsfamilie auslöscht, sondern der sympathische junge Lord Edward (Hans ClarinClarin, Hans). Zum Schluss wird testamentarisch verfügt, dass das Erbe der Familie an Edgar WallaceWallace, Edgar fällt, und die leeren Stühle um den Familientisch verbeugen sich.

Die Edgar-Wallace-Verfilmungen wirkten selbst genrebildend, als Parodien der bereits (selbst-)parodistischen Filme waren Der WixxerDer Wixxer (2005, Regie Tobi BaumannBaumann, Tobi) und Neues vom WixxerNeues vom Wixxer (2007, Regie Cyrill BossBoss, Cyrill und Philipp StennertStennert, Philipp) an den Kinokassen erfolgreich. Oliver KalkofeKalkofe, Oliver, Bastian PastewkaPastewka, Bastian und Oliver WelkeWelke, Oliver schrieben die Drehbücher, Kalkofe und Pastewka spielten Hauptrollen, auch der aus den früheren Wallace-Filmen bekannte Joachim FuchsbergerFuchsberger, Joachim war im zweiten Film vertreten. Der Titel spielt parodistisch auf Der HexerDer Hexer an, in der Alfred-VohrerVohrer, Alfred-Verfilmung von 1964 war Fuchsberger der Ermittler.

Nach dem Zweiten Weltkrieg ist die Grenze von Kriminalfilm und Kriminalkomödie fließend, etwa in Die Herren mit der weißen WesteDie Herren mit der weißen Weste (1970, Regie führte Wolfgang StaudteStaudte, Wolfgang) mit Martin HeldHeld, Martin als pensioniertem Richter, der es nach langer Zeit und mit illegalen Mitteln vermag, den Anführer einer Bande von Kriminellen, gespielt von Mario Adorf, hinter Gitter zu bringen. Das Drehbuch von Horst WendlandtWendlandt, Horst und Paul HenggeHengge, Paul erinnert an den Roman Der Richter und sein HenkerDer Richter und sein Henker (1952, wenige Jahre später vom Süddeutschen Rundfunk für das Fernsehen adaptiert). Bereits DürrenmattDürrenmatt, Friedrich zeigt, dass dem Übeltäter mit rechtmäßigen Mitteln nicht beizukommen ist. Auch wenn es bei Staudte nicht um Mord, sondern um Diebstahl geht und es eine Popularisierung und Wendung ins Humoristische gibt, wird deutlich, dass sich auch die Grenzen zwischen ‚Gut‘ und ‚Böse‘ nicht mehr so eindeutig ziehen lassen wie vorher.

Ebenso fließend ist die Grenze zur Gesellschaftssatire, dies gilt beispielsweise für Helmut DietlDietl, Helmuts Schtonk!Schtonk! (1992), zu dem Spielfilm schrieb Regisseur Dietl mit Ulrich LimmerLimmer, Ulrich das Drehbuch. Die Produktion mit Starbesetzung (Uwe OchsenknechtOchsenknecht, Uwe, Götz GeorgeGeorge, Götz, Ulrich MüheMühe, Ulrich u.a.) beruht auf einer wahren Begebenheit aus dem Jahr 1983. Gezeigt wird, wie ein begabter Fälscher Hitlers angebliche Tagebücher an die Illustrierte HHpress (in Wirklichkeit war es der Stern) verkauft und ihm sein neues Umfeld – bestehend aus Journalisten, Verlagsleitung und exponierten Angehörigen des Besitz- wie Bildungsbürgertums – mit ebenso viel Sensations- wie Geldgier auf den Leim geht. Der Titel ist ein Charlie ChaplinChaplin, Charlies Satire Der große DiktatorDer große Diktator (1940) entnommenes, von ‚Stunk‘ abgeleitetes Kunstwort.

Nicht nur durch Komik und Ironie werden aktuelle Strukturen der gesellschaftlichen Ordnung problematisiert. Ebenso wie Schtonk! ist der Thriller Der SandmannDer Sandmann (1995) von Regisseur Nico HofmannHofmann, Nico, mit Götz GeorgeGeorge, Götz in der Hauptrolle, als Film über die massenmediale Verarbeitung von Verbrechen konzipiert und darüber hinaus metafiktional. Eine junge, ambitionierte Journalistin macht eine Story über den Autor Henry Kupfer, der selbst eine Haftstrafe wegen Prostituiertenmordes verbüßt hat und Bücher über Serienmörder schreibt. Kupfer wirkt immer bedrohlicher und die Journalistin glaubt immer mehr, dass er tatsächlich ein gesuchter Serienmörder ist. Es stellt sich am Ende heraus, dass er ihr, sogar mit Hilfe ihrer Kolleg*innen, nur Angst eingejagt hat, damit sie ihn und sein neues Buch besonders medien- und werbewirksam vermarktet. Der Film nutzt die Techniken der Spannungserzeugung und führt sie zugleich als Techniken vor. Es handelt sich um einen Kriminalfilm und zugleich um einen Meta-Kriminalfilm, um einen Film über die Praktiken der Inszenierung von Verbrechen in den Massenmedien, im Buch und nicht zuletzt im Film selbst.

Der deutschsprachige Kriminalfilm zeigt sowohl allgemein übliche als auch für die deutschsprachige historische und kulturelle Tradition besondere Muster gesellschaftlicher Ordnung, die in Frage gestellt und, in den als besonders herausragend angesehen wie prämierten Filmen, in der Regel nicht wiederhergestellt, sondern nachhaltig erschüttert werden. Der Diskurs über die Gültigkeit von Normen und die Konsequenz von Normüberschreitungen, über Täter und Opfer tendiert nur in vor allem der Unterhaltung verpflichteten, an gängige Schemata anknüpfenden Filmen zur Schwarz-Weiß-Zeichnung, zu einer klaren Verteilung der Schuld. Die konventionelle Zuschreibungspraxis von ‚Gut‘ und ‚Böse‘ funktioniert in den bekannteren Beispielen der verschiedenen Sub-Genres des Kriminalfilms nicht mehr. Dies ist schon an der Oberfläche erkennbar, wenn ein hegemonialer Diskurs, der durch geschriebene (Gesetze) oder ungeschriebene (Praktiken) Normen autoritär strukturiert ist, im Wortsinn vorgeführt wird. Es wird gezeigt, dass die ‚Dispositive der Macht‘ (Michel FoucaultFoucault, Michel) den Interessen einiger Weniger dienen, die sich an Schlüsselpositionen von Staat oder Familie befinden und die ihre Macht zur Unterdrückung von Individuen oder Gruppen ge- und missbrauchen. Auch die individuelle Tat ist nicht mehr nur individuell, sie ist in vielfältige Bezüge eingebunden und Bestandteil eines Diskurses über ‚Überwachen und Strafen‘, wie er für die ausdifferenzierten modernen Gesellschaften grundlegend geworden ist. Die Ordnungsrahmen einer „Disziplinierung des Todes“ (Foucault 1983, 165) werden ebenso sichtbar wie die Grundlagen einer „Bio-Macht“ (Foucault 1983, 167), in der „das alte Recht, sterben zu machen oder leben zu lassen, abgelöst [wurde] von einer Macht, leben zu machen oder in den Tod zu stoßen“ (Foucault 1983, 165).

Zwei neuere Filme können als vergleichsweise einfache Beispiele dafür dienen, wie der Kriminalfilm durch die Thematisierung von Verbrechen als Störung der bestehenden Ordnung auf das Spektrum von problematischer individueller und institutioneller, lokaler und überregionaler Machtverteilung hinweist. Die Auseinandersetzung mit der deutschen Geschichte, insbesondere mit Nationalsozialismus und Holocaust, bleibt ein wichtiges Thema auch des Kriminalfilms. In Der Staat gegen Fritz BauerDer Staat gegen Fritz Bauer (2015), 2016 mit dem Hauptpreis des Deutschen Filmpreises ausgezeichnet, werden wahre Begebenheiten verarbeitet und mit anderen gesellschaftlichen Problemen verknüpft, vor allem mit der seinerzeit noch geltenden Strafbarkeit von Homosexualität. Der hessische Generalstaatsanwalt Fritz Bauer (1903-1968) war eine der treibenden Kräfte in der juristischen Aufarbeitung des Holocaust, so trug er mit dazu bei, dass Adolf EichmannEichmann, Adolf in Argentinien gefunden und vom israelischen Geheimdienst Mossad gefangen genommen werden konnte, auch bereitete er die Frankfurter Auschwitzprozesse (1963–1981) mit vor. Burghart Klaußner spielt die Titelrolle in dem Film von Lars KraumeKraume, Lars (Regie). Die österreichisch-deutsche Coproduktion Das finstere TalDas finstere Tal (2014), die Verfilmung eines Romans von Thomas WillmannWillmann, Thomas, knüpft an Traditionen des Western und des Heimatfilms an. Die Ende des 19. Jahrhunderts spielende Geschichte über den einsamen Rächer Greider (Sam RileyRiley, Sam) und seine Antagonisten, den reichen Bauern Brenner mit seiner Familie (Tobias MorettiMoretti, Tobias ist als Sohn Hans einer der Hauptdarsteller), wurde mit dem Österreichischen Filmpreis 2015 in acht Kategorien prämiert. Brenner und seine Söhne regieren autoritär und gewaltsam ein abgelegenes Dorf in den Alpen, der Patriarch zwingt die jung verheirateten Frauen, mit ihm ihr erstes Kind zu zeugen. Greiders juristischer Vater wurde gekreuzigt, weil er sich dagegen wehrte, und der möglicherweise illegitime Sohn des Brenner-Bauern begibt sich nun auf einen Feldzug gegen die Exponenten der brutalen Ordnung, in der auch der Priester seine Rolle spielt. Die Kritik an solchen autoritären, feudalen und religiösen Denkmustern steht in der Tradition von anderen Literatur- und Filmproduktionen aus Österreich, die sich insbesondere mit dem ‚Alltagsfaschismus‘ auseinandersetzen.

Allerdings ist zu fragen, inwieweit sich auch solche Umkehrungen der Maßstäbe der Bewertung (böse Ordnung – gutes, außerhalb der Ordnung stehendes Individuum) alter Zuschreibungsmuster bedienen. Noch innovativer sind Filme, die distanzerzeugende Mittel wie Metafiktionalität verwenden, um die Zuschreibungspraxis, die der Film selbst durch seine eigene Ordnung etabliert, ebenfalls zur Disposition zu stellen oder zumindest durchsichtig zu machen. Ein radikales Beispiel ist Orson WellesWelles, Orson’ Verfilmung von Franz KafkaKafka, Franzs Roman Der ProzeßDer Prozeß. Der Roman erschien postum 1925, die Verfilmung stammt von 1962. Wie viele der bereits genannten Beispiele handelt es sich um einen sogenannten Autorenfilm – Orson Welles hatte die Idee, schrieb das Drehbuch und führte Regie, außerdem spielte er eine der zentralen Figuren und wirkte am Schnitt mit. Anthony PerkinsPerkins, Anthony als Josef K. war den Kinozuschauern noch als Serienmörder aus PsychoPsycho in Erinnerung. Zweifellos handelt es sich um einen Kriminalfilm, es gibt einen Täter und eine Strafe – Josef K. wird am Schluss des Films von Vertretern der Ordnung erstochen. Allerdings bleibt in Roman und Film alles Wissen verborgen, das für einen logischen Kriminalfall unverzichtbar wäre: Welche Tat soll K. überhaupt begonnen haben? Wie ist das Gericht legitimiert? Im Verlauf der Handlung entstehen erhebliche Zweifel an der Rechtmäßigkeit dessen, was die Vertreter der Ordnung tun. Es werden nicht nur die üblichen Gut-Böse-Schemata aufgelöst, es ist nicht einmal mehr deutlich, wer nach den innerfiktional anzulegenden Maßstäben auf welcher Seite steht.

Auch deutschsprachige Produktionen durchkreuzen die in primär der Unterhaltung verpflichteten Filmen gängigen Muster, etwa Der TotmacherDer Totmacher (1995) von Regisseur Romuald KarmakarKarmakar, Romuald mit Götz GeorgeGeorge, Götz in der Rolle des Serienmörders Fritz HaarmannHaarmann, Fritz, der 1924 wegen des brutalen Mordes an mindestens 24 Jungen und Männern verhaftet, verhört und hingerichtet wurde. Die Verhörprotokolle dienen als Grundlage für das klaustrophobische Kammerspiel und George zeichnet das Bild eines zutiefst verstörten, sich nach Liebe sehnenden Mannes, der sich aber nur durch Gewalt artikulieren kann. Das Monster ist dennoch ein Mensch.

Legislative und Exekutive stellen den Ordnungsrahmen bereit, doch sind die heutigen ausdifferenzierten, hochkomplexen Gesellschaften vor allem auf Selbstdisziplinierung angewiesen. Diese Selbstdisziplinierung kann entweder durch unkritische Internalisierung von Regeln erfolgen oder darauf zielen, die eigene Reflexion über sinnvolle Techniken zu aktivieren, wie sich gerade auch durch eigenes Verhalten soziales Miteinander gewährleisten lässt. Triviale Kriminalfilme zielen auf die Internalisierung von Regeln, wobei dies auch durch Kritik an etablierten Ordnungsmächten geschehen kann, etwa wenn sie korrupt sind und die ihnen zugewiesene Aufgabe nicht mehr erfüllen. Durch Verwendung solcher Muster im Kriminalfilm wird nicht die Frage nach der Legitimität von Autorität gestellt, sondern die Restitution einer prinzipiell als sinnvoll erachteten, ‚naturalisierten‘ Autorität propagiert. Die hier diskutierten Beispiele des Kriminalfilms weichen von diesem Programm des Unterhaltungsfilms ab, denn sie werfen entweder einen kritischen Blick nicht nur auf die Vertreter*innen der staatlichen Autorität, sondern auf bestehende Ordnungsstrukturen. ‚Gut‘ und ‚Böse‘ werden, bezogen auf die Rollen wie auf das Verhalten der Figuren, als Zuschreibungen entlarvt, die Grenzen zwischen Täter und Opfer verschwimmen und die Kontingenzerfahrungen der (post-)modernen Gesellschaft lassen kein logisch-teleologisches Konzept von Aufklärung, hier verstanden als Aufklärung von Verbrechen, mehr zu. Das heißt nicht, dass ethisches Handeln unmöglich geworden wäre. Es ist nur schwieriger geworden, denn es muss situativ und (selbst-)verantwortlich abgesichert werden und es muss nicht mehr zur Folge haben, dass dadurch die gezeigte Welt ein Stück besser geworden ist.

Kriminalfilm ist also nicht gleich Kriminalfilm, und dies betrifft weniger die viel diskutierte, schwer festzulegende Zugehörigkeit zu den diversen Subgenres (Detektivfilm, Thriller u.a.) als vielmehr die aus der filmischen Inszenierung resultierende Haltung zur „Ordnung des Diskurses“ (FoucaultFoucault, Michel 2000) einer Gesellschaft. Der Kriminalfilm ist auch deshalb eines der spannendsten Genres, nur auf andere Weise, als dies gängige Rezeptionsmodi vermuten lassen.

Fragen zu diesem Kapitel:

Was ist und welche Rolle für die Entwicklung des Genres spielt ‚der Pitaval‘?

Mit welchem Text gerät die Motivation des Verbrechens in den Blick der Kriminalerzählung?

Wann beginnt die Entwicklung des Kriminalfilms?

Welche Rolle spielen Normverletzungen?

Welche Bedeutung hat der Nervenkitzel?

Wie machen Kriminalerzählungen in Literatur und Film Kategorien wie ‚Gut‘ und ‚Böse‘ als Zuschreibungen kenntlich?

Welche Überschneidungen gibt es zwischen Kriminal-, Detektiv- und Spionagefilmen (oder -serien)?

Welche die Grenzen des Genres erweiternden Filme wären beispielsweise zu nennen?

Inwiefern wird die Grenze von Kriminalfilm, Kriminalkomödie und Gesellschaftssatire fließend?

Wie werden Ordnungsstrukturen und Kontingenzerfahrungen miteinander vermittelt?

Der Krimi in Literatur, Film und Serie

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