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4.3 Der Einbruch von Kontingenz: Theodor Fontanes Unterm Birnbaum (1891)

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Die 1890 in der populären Zeitschrift Die Gartenlaube gekürzt vorabgedruckte und 1891 in Buchform erschienene Erzählung (Fontane 1969, 315) zeigt eine durch und durch egoistische, auf Wohlstand und Zeitvertreib achtende, Zivilisation als Fassade wahrende Dorfgemeinschaft, die als Mikrokosmos der Gesellschaft gelesen werden kann. Als erste bekannte Kriminalerzählung kommt Unterm Birnbaum ohne positive Figuren aus. Die Hauptfigur entpuppt sich als gerissener Mörder, seine scheinbar gläubige Frau als scheinheilige Mittäterin und die Vertreter der öffentlichen Ordnung sind unfähige Ignoranten oder Säufer (oder beides). Dies ist nicht nur für die Literatur des (ausgehenden) 19. Jahrhunderts ungewöhnlich. Fontanes Erzählung inszeniert ein soziologisches Experiment und weist nach, dass der Firnis der Zivilisation ausgesprochen dünn ist.

Wie so oft dient Fontane ein reales Ereignis als Schreibanlass: „Der Letschiner Mord wurde 1836 tatsächlich an einem Handelsreisenden im Dorfkrug verübt. […] Der vermeintliche Mörder ist auch der Gastwirt, der von der Justiz nicht gefaßt wird, aber trotzdem zugrunde geht“ (Sagarra 2000, 557). Über die Erzählung ist viel geschrieben worden und es wäre einiges zurechtzurücken. Dass „das Verbrechen unerzählt bleibt“, sei ‚auffällig‘, meint Michael BohrmannBohrmann, Michael (Bohrmann 2001, 27). Dabei gehört es zu Fontanes Stil und zur Praxis der Andeutung in der Literatur bis zur Moderne um 1900, gerade das Wesentliche auszusparen. Schon bei KleistKleist, Heinrich von wird die Vergewaltigung der Marquise von O…Marquise von O… (1808) gerade nicht erzählt und auch Effi BriestEffi Briests Ehebruch, um den Fontanes berühmtester Roman kreist, bleibt ausgespart. Ebenso wenig nachvollziehbar ist, dass Gerhard Friedrich Glaubwürdigkeit bei der Zeichnung der Hauptfigur der Erzählung vermisst, deren „Innenwelt“ sich zu wenig zeige (Friedrich 1991, 134), obwohl genau darin ein Teil der Modernität der Erzählung begründet liegt.

Abb. 4.1:

In der Zeitschrift „Daheim“ erschien Fontanes Erzählung Unterm Birnbaum zum ersten Mal.

Wie bei Fontanes Romanen und Erzählungen üblich, steckt der Anfang voller Vorausdeutungen:

Vor dem in dem großen und reichen Oderbruchdorfe Tschechin um Michaeli 20 eröffneten Gasthaus und Materialwarengeschäft von Abel Hradscheck (so stand auf einem über der Tür angebrachten Schilde) wurden Säcke vom Hausflur her auf einen mit zwei mageren Schimmeln bespannten Bauernwagen geladen. Einige von den Säcken waren nicht gut gebunden oder hatten kleine Löcher und Ritzen, und so sah man denn an dem, was herausfiel, daß es Rapssäcke waren. (Fontane 1969, 223)

Das Dorf ist groß und reich, es steht Pars pro Toto für das durch die sogenannte Gründerzeit prosperierende Wilhelminische Kaiserreich. Der Wirt ist ein Zugereister, allerdings aus der Nachbarschaft, seinen Namen hat er von seinen böhmischen Vorfahren (Fontane 1969, 258). Seine ursprünglich katholische Frau Ursel kommt aus der Nähe von Hildesheim (ebd.), ihr Verhalten wird immer wieder als „Vornehmtun“ (ebd.) charakterisiert. Innerhalb des reichen Dorfes ist Hradschek, wie sich herausstellen wird, ein vergleichsweise armer Wirt und Händler, allerdings aus eigener Schuld, auf die bereits die schlecht gebundenen Rapssäcke hinweisen. Es ist, wie seine Frau ihm vorhält, „das verdammte Spiel“ und „dazu das Trinken“, das ihn um „Haus und Hof“ bringen könnte (Fontane 1969, 226): „Du bist kein guter Kaufmann, denn du hast das Kaufmännische nicht gelernt, und du bist kein guter Wirt, denn du spielst schlecht oder doch nicht mit Glück und trinkst nebenher deinen eigenen Wein aus“ (Fontane 1969, 233). Dabei steckt in seinem Namen das tschechische Wort für ‚Spieler‘ (Bohrmann 2001, 17), als der er sich auch im Mordgeschehen erweisen wird.

Die am Anfang „trotz seines Verbotes mal wieder offen stehende Falltür“ (Fontane 1969, 224) weist auf Hradscheks Tod unter eben dieser Falltür am Ende der Erzählung voraus. Aus eigener Schuld wird er sie nicht mehr öffnen können, denn er hat, um seine finstere Tat zu tarnen, das eine Reihe Ölfässer an ihrem Platz haltende Brett genommen, um das Licht im Keller nach außen abzuschirmen (Fontane 1969, 309). Im Garten steht ein alter Birnbaum (Fontane 1969, 224), unter dem Hradschek die Leiche eines offenbar während der sogenannten Befreiungskriege gegen Napoleon hier verscharrten Franzosen findet, was ihn erst auf die Idee zum Mord bringt (Fontane 1969, 230). Das Skelett hilft ihm bei seinem Täuschungsmanöver. Nachdem er den Reisenden Szulksi, der für die Krakauer Firma Olszewski-Goldschmidt und Sohn Geld eintreiben soll (Fontane 1969, 241), aus Habgier ermordet hat, tut er so, als wolle er unterm Birnbaum etwas begraben (Fontane 1969, 250f.). Hradschek geht davon aus, dass seine Nachbarin, die „alte Hexe“ Witwe Jeschke (Fontane 1969, 276), ihn beobachten und dies früher oder später dem Dorfgendarmen Geelhaar (einer der vielen sprechend-ironischen Namen der Erzählung) melden wird, wenn die Suche nach dem verschwundenen Reisenden, dessen „Fuhrwerk unten in der Oder“ gefunden wird (Fontane 1969, 253), erfolglos bleibt. Da die Leiche jedoch im Keller vergraben ist, suchen Justiz und Polizei an der falschen Stelle. Hradscheks Erklärung, dass er nur verdorbene Speckseiten vergraben wollte und dabei zunächst selbst das Skelett fand, führt schließlich, wie offenbar von ihm geplant, zu seiner Entlastung und Entlassung, denn an einer von ihm bezeichneten Stelle im Garten werden die Speckreste gefunden (Fontane 1969, 273).

Die Handlung beginnt 1831 und erstreckt sich über zwei Jahre. 1830 war das Jahr der Julirevolution, wir befinden uns in der unruhigen Zeit des Vormärz, diese Zeit des Umbruchs bildet nicht zufällig den Hintergrund für die Geschehnisse (vgl. Sagarra 2000, 557). So kann der Reisende Szulski von dem „polnischen Aufstand“ erzählen (Fontane 1969, 244), wobei die ausgeschmückten „Grausamkeiten“ (ebd.) auf sensationslüsterne Zuhörer treffen. Passenderweise ist der Hasardeur Hradschek zwar „für Freiheit und Revolution“, doch: „Wenn es aber Revolution nicht sein konnte, so war er auch für Tyrannei. Bloß gepfeffert mußte es sein. Aufregung, Blut, Totschießen“ (Fontane 1969, 281).

Symbolischerweise beginnt und endet die Handlung im Herbst. Nach dem ersten Jahr stirbt Hradscheks Frau an Gewissensbissen, nach dem zweiten Jahr Hradschek durch selbst herbeigeführte, aber letztlich ungeklärte Umstände (es ist von einem Spuk die Rede und eine Todesursache wird nicht festgestellt; Fontane 1969, 310f.). Der Herbst weist schon am Anfang auf Tod und Untergang. Hradschek spaziert „rechnend und wägend“ im Garten (ebd.), will aber seine eigenen Birnen nicht ernten und beschwert sich bei seiner Nachbarin Jeschke lieber über seinen Angestellten Ede. Dass Faulheit nicht belohnt wird, weiß man nicht erst seit Grimms Märchen Frau Holle.

Zum Herbst mit seinen herabfallenden Birnen passt die schwarze Kleidung von Hradscheks – allerdings für ihren Stand zu sehr „auf Figurmachen und Toilettendinge“ achtender – Frau, die um ihre beiden toten Kinder trauert, für deren „Sterbetag“ sie Kränze vorbereitet (Fontane 1969, 226). Der Tod der Kinder liegt symbolische „sieben Jahre“ zurück (Fontane 1969, 234). „Sieben also!“, triumphiert der abergläubische Hradschek bei einem Wurf auf seiner Kegelbahn, bevor er ein Schreiben erhält, das zu seinem Mordplan gehört und mit dem er die Tschechiner noch vor dem Mord Glauben machen wird, dass seine Frau geerbt hat (Fontane 1969, 237f.). Dass ausgerechnet die positiv besetzte Zahl sieben ihm nicht helfen wird, zeugt eher von poetischer Gerechtigkeit, allerdings mit einer großen Prise erzählerischer Ironie.

Nichts ist so, wie es zu sein scheint. Unterm Birnbaum liegt nicht der falsche Pole, sondern der (echte?) Franzose (Fontane 1969, 271 u. 277). Hradschek ist kein Ausländer, er hat lediglich böhmische Vorfahren und es wird angedeutet (allerdings aus der Sicht missgünstiger Dorfbewohner), dass er, als er noch in Neu-Lewin lebte, seine frühere Freundin Rese nicht nur hat „sitzen lassen“: „Und mit eins war sie weg, und keiner weiß wie und warum. Und war auch von Ausgraben die Rede […]“ (Fontane 1969, 240). Vielleicht liegt hier der Grund, weshalb er nach Amerika auswandern wollte (Fontane 1969, 258). Seine Frau war „mutmaßlich Schauspielerin“ (ebd.) und scheint bereits schwanger gewesen zu sein, als Hradschek sie kennenlernte (Fontane 1969, 235). Es bleiben nicht nur in den Lebensläufen dieser beiden Figuren „einige dunkle Punkte“ (Fontane 1969, 259), über die, wenn überhaupt, bis zum Ende der Erzählung nur Vermutungen angestellt werden.

Hradschek gibt sich als Atheist: „Ich denke, leben ist leben, und tot ist tot. Und wir sind Erde, und Erde wird wieder Erde. Das andere haben die Pfaffen sich ausgedacht. Spiegelfechterei sag ich, weiter nichts“ (Fontane 1969, 288). Er erschrickt unmittelbar darauf aber „heftig“, als seine sterbende Frau die Rache der Toten heraufbeschwört (Fontane 1969, 289). Auch versucht er gern sein Glück und gibt dabei viel auf Zeichen, wenn er Lotterie spielt (Fontane 1969, 227f.) oder wenn er eine Leiche ausgräbt; dabei soll ihn Farnkrautsamen unsichtbar machen (Fontane 1969, 229 u. 305ff.). Dass er die Kirche kritisiert, aber ausgerechnet der „alte[n] Hexe“ (Fontane 1969, 276) Jeschke die Mär von dem Farnkrautsamen glaubt, „als ob es ein Evangelium wär“ (Fontane 1969, 229), ist die andere Seite des so klugen und rationalen Verhaltens, mit dem er glaubt, aus dem Mord ökonomisches wie symbolisches Kapital schlagen zu können. Der „beständig zwischen Aber- und Unglauben hin und her schwankende Hradschek“ (Fontane 1969, 228) hat in diesem unguten Verhalten Vorläufer bei Schiller (Fontane kannte ‚seinen‘ Schiller gut), und zwar in Franz Moor (in den Räubern) und in der Figur des Wallenstein.

Auch Hradscheks Frau handelt äußerst gewissenlos; weshalb sie „die einzige reflektierte Gestalt im Werk“ sein soll (Sagarra 2000, 563), erschließt sich daher nicht. Aus Angst vor Armut spielt sie ihre „Rolle“ (Fontane 1969, 242) als den Gasthof in aller Frühe verlassender Szulski (Fontane 1969, 252f.), der dann schon erschlagen und begraben im Keller liegt. Ursel Hradschek geht sogar so weit, dem Pastor zu schreiben, dass sie ihren Mann nicht im Gefängnis besuchen wolle: „Wenn er schuldig sei, so sei sie für immer von ihm geschieden“ (Fontane 1969, 264). Die angeblich gläubige Frau belügt ihren Pastor und ihren Gott, ebenso wie ihr Mann sie betrügt, wenn er ihrem letzten Willen, für sie Messen lesen zu lassen, durch eine Intrige nicht nachkommt und von ebendem Geld (vgl. Fontane 1969, 293f.), ohne diesen Umstand gegenüber der Dorföffentlichkeit zu erwähnen, mehr sich selbst als seiner toten Frau ein veritables Grabdenkmal setzen will: „Die ganze Rede hatte Hradschek mit bewegter und die Dankbarkeitsstelle sogar mit zitternder Stimme gesprochen, was eine große Wirkung auf die Bauern gemacht hatte“ (Fontane 1969, 278).

Ursel Hradschek wird von ihrem perfekt schauspielernden Mann manipuliert, der sein Mitgefühl, wie alles andere, nur vorspielt (vgl. dagegen Bohrmann 2001, 17f.). Er weiß, dass es für sie das Schlimmste wäre, wieder arm zu sein (Fontane 1969, 231). Dafür macht er ihr ein schlechtes Gewissen, auch wenn ihr Anteil an der prekären finanziellen Situation gering sein dürfte. Ihr ganzer Stolz, ihre ‚feinen‘ Möbel, wurden aus einer Konkursmasse erworben und sie wusste nichts davon, dass sie „von geborgtem Gelde“ gekauft werden mussten – falls es überhaupt stimmt und Hradschek es nicht nur so darstellt (Fontane 1969, 234). Auch könnte es sein, dass Hradschenks Vergangenheit, seine frühere Liebschaft, Anteil an der schwierigen finanziellen Ausgangssituation gehabt hat (vgl. ebd.). Immerhin warnt sie ihren Mann: „Es ist nichts so fein gesponnen…“ (Fontane 1969, 236). Dieser Satz wird am Ende der Erzählung von Pastor Eccelius bei seinem Eintrag ins Kirchenbuch wiederholt (Fontane 1969, 313). Allerdings hat sich gerade der treuherzige, auf seine Glaubessätze fixierte Pastor gegen alle Verdachtsgründe bis zuletzt überzeugt von der Unschuld des Ehepaars gezeigt. Auch gegenüber dem leitenden Ermittler, seinem „Duz- und Logenbruder“ (Fontane 1969, 257f.) Justizrat Vowinkel, macht Ecclesius seinen Einfluss geltend, um die Unschuld des Ehepaars nachzuweisen. Dabei ist es, wie sich später herausstellt, ein Teil von Abel Hradscheks Plan, erst verhaftet und dann von dem Verdacht reingewaschen zu werden.

Das Ehepaar Hradschek ist keine Ausnahme, wenn es um negative Charaktereigenschaften geht. Alle anderen Figuren, soweit sie näher charakterisiert werden, scheinen es mit den gesellschaftlichen Regeln nicht so ernst zu nehmen. Über die Frau des reichen Bauern Quaas beispielsweise erfahren wir, dass sie „aus dem Umstande, daß sie zwanzig Jahre jünger war als ihr Mann, ihr Recht zu fast ebenso vielen Liebschaften herleitete“ (Fontane 1969, 239). Der leichtgläubige Pastor (vgl. Fontane 1969, 291), der selbstgerechte „Kriminalist“ (Fontane 1969, 263) Justizrat Vowinkel, die Trinkrunde um Hradschek mit dem Dorfschulzen und den reichen Bauern, die „ihre blonde Nichte, die Line“ (Fontane 1969, 265) sowohl dem Dorfgendarmen Geelhaar als auch dem Witwer Hradschek anbietende Witwe Jeschke, der eingebildete Alkoholiker Geelhaar mit seinem „gedunsenen Kopf“ (Fontane 1969, 268) – sie alle kommen nicht gut weg, wenn es um die seit der Aufklärung propagierten bürgerlichen Werte wie Tugend und Anstand geht. Der höchste Wert der Gemeinschaft ist, wie sollte es anders sein, das Geld: „Denn Geld ausgeben (und noch dazu viel Geld) war das, was den Tschechinern als echten Bauern am meisten imponierte“ (Fontane 1969, 295).

Auch das Opfer, der offenbar selbst recht wohlhabende Reisende Szulski, erscheint nicht als sonderlich sympathischer Zeitgenosse. Zu den Finten der Erzählung gehört, ihn als Polen vorzustellen, der „eigentlich ein einfacher Schulz aus Beuthen in Oberschlesien war und den Nationalpolen erst mit dem polnischen Samtrock samt Schnüren und Knebelknöpfen angezogen hatte“ (Fontane 1969, 243). Auch bei diesem „Pseudopolen“ (ebd.) ist offenbar – wie bei allen Hauptfiguren der Erzählung – zwischen Sein und Schein kaum zu unterscheiden. Darin ähnelt er Hradschek, der einen böhmischen Namen trägt und doch aus dem benachbarten Neu-Lewin kommt (Fontane 1969, 258). Wenn Szulski von einer ‚schönen Frau‘ erzählt, die mit ihren beiden Kindern auf der Flucht vor den Russen in die Weichsel sprang, dann kommentiert er dies mit den zweideutigen Worten, er hätte „ihr was Bessres gewünscht“ (Fontane 1969, 245). Die Bemerkung wird jedenfalls als Zweideutigkeit verstanden, wie das Schmunzeln Kunikes und die Erregung des „an einer Liebesader leidende[n] Mietzel“ zeigen (Fontane 1969, 246).

Eine noch deutlichere Zweideutigkeit ist die dem gerade zum Witwer gewordenen Hradschek erzählte Geschichte „von einem alten Hauptmann von Rohr, der vier Frauen gehabt“ habe (Fontane 1969, 292). Das Phallische des Namens ist nicht zu übersehen, ebenso wie der Phallus die zentrale Rolle in folgender Episode spielt: „Diese Romanze behandelte die berühmte Geschichte vom Eckensteher, der einen armen Apothekerlehrling, ‚weil das Räucherkerzchen partout nicht stehen wolle‘, Schlag Mitternacht aus dem Schlaf klingelte, welche Geschichte damals nicht bloß die ganze vornehme Welt, sondern auch […]“ Hradschek begeistert (Fontane 1969, 299), was ebenso viel über Hradschek wie über die ganze vornehme Welt aussagt.

Die erzählerische Ironie ist allgegenwärtig. Als Szulski stirbt, gibt es natürlich „Sturm“ (Fontane 1969, 250), der, wie die Hausangestellte Male sagt, „‘nen Doden uppwecken“ könnte (Fontane 1969, 251). Weil er nicht rechtzeitig aufsteht, attestiert der Hausangestellte Jakob dem Reisenden „‘nen Dodensloap“ (Fontane 1969, 252). Ironisch sind die Namen, die Figurencharakterisierungen und die Symbolik. Ein Beispiel ist die folgende Stelle über die Witwe Jeschke: „Zugleich warf sie reichlich Kienäpfel auf, an denen sie nie Mangel litt, seit sie letzten Herbst dem vierjährigen Jungen vom Förster Notnagel, drüben in der neumärkischen Heide, das freiwillige Hinken wegkuriert hatte“ (Fontane 1969, 249). Jeschke ist also keine echte „Hexe“, sondern eine Scharlatanin, doch auch ihre ‚Patienten‘, die entweder freiwillig hinken oder Notnagel heißen, werden ironisiert oder komisiert.

Nicht weniger eindrucksvoll als die Bezeichnung Förster Notnagel ist „Totengräber Wonnekamp“ (Fontane 1969, 271). Das möglicherweise uneheliche Kind des Mörderpaars trägt den Namen Hermann Hradschek und wird „Lütt-Hermann“ genannt (Fontane 1969, 281). Zu der symbolisch-historischen Bedeutung des Namens Hermann (Hermann der Cherusker alias ArminiusArminius) und der hier offensichtlichen Ironisierung musste den aufmerksamen zeitgenössischen Leser*innen wohl nichts gesagt werden.

Der Vers des Spottliedes „Abel schlug den Kain tot“ (Fontane 1969, 257) trifft den Nagel auf seinen ironischen Kopf – die Bibelanspielung ist deutlich, die Verhältnisse werden aber umgekehrt, wie dies für Ironie eben typisch ist. Die Bibel-Erzählung von den feindlichen Brüdern Kain und Abel ist für Richard Alewyn der „älteste[n] und berühmteste[n] Kriminalfall unserer Überlieferung“ (Alewyn 1998, 53) und man kann davon ausgehen, dass Fontanes Erzählung nicht zufällig gerade darauf anspielt. Zumindest der Umgang mit dem Glauben, vielleicht auch der Glaube selbst gerät so in den Treibsand des fontaneschen Skeptizismus.

Der Schluss desavouiert alle mit der Frage: „Warum hatte man sich hinters Licht führen lassen?“ (Fontane 1969, 311). Die Honoratioren sind „peinlich“ berührt durch ihr eigenes Versagen (ebd.), aber sie sind schlau genug, nicht darüber zu reden und gleich alles möglichst pragmatisch zu regeln. Weil nichts bewiesen ist, darf der Leichnam des Wirtes am Rand des Friedhofs verscharrt werden und dass die Dorfbewohner, wenn sie von der Leiche im Keller erfahren, das Grab der Frau schänden und das Denkmal „umreißen“ werden, ist in Kauf zu nehmen. Die beiden höchsten Vertreter der weltlichen und der geistlichen Ordnung am Ort, Schulze und Pastor, sind sich einig: „der Mensch verlangt auch seine Ordnung“ (Fontane 1969, 312). Geelhaar resümiert: „Was war es denn auch groß? Ein Fall mehr. Darüber ging die Welt noch lange nicht aus den Fugen“ (ebd.). Ein solcher Schluss könnte, wenn man ihn auf die gezeigten Verhältnisse bezieht, kaum ironischer sein. Da Satire mit solcher Ironie arbeitet, ließe sich die Erzählung auch, wenn man alle entsprechenden Signale zusammennimmt, als satirisch bezeichnen.

Das Repräsentative des Mikrokosmos und zugleich die satirische Skepsis gegenüber dem zum Kaiserreich vergrößerten Preußen zeigt sich auch darin, dass Hradschek das mit Blutgeld errichtete Denkmal „auf der Königlichen Eisengießerei bestellt hatte“ (Fontane 1969, 294) – und zwar jenes Denkmal, das die Tschechiner aller Voraussicht nach später zerstören werden. Hradschek vergnügt sich nach dem Tod seiner Frau in Berlin und übernachtet gern im „Gasthofe zum Kronprinzen“ (Fontane 1969, 296). Er schmiedet Heiratspläne, seine Angebetete ist „[…] die Tochter aus einem Destillationsgeschäft, groß und stark, mit etwas hervortretenden, immer lachenden Augen, eine Vollblut-Berlinerin. ‚Forsch und fidel‘ war ihre Losung, der auch ihre Lieblingsredensart: ‚Ach, das ist ja zum Totlachen‘ entsprach“ (Fontane 1969, 298). Auch die weitere Charakterisierung dieser Nebenfigur ist nicht schmeichelhaft und erweitert so die Satire auf die Provinz um die Groß- und Hauptstadt.

Fontanes Kriminalerzählung hat alles, was üblicherweise zu einem Krimi gehört – Ermittler, Täter, einen Mord, eine Detektion, eine Auflösung. Doch bleibt, untypisch für den Krimi (vor allem bis zur literarischen Moderne), viel im Dunkeln und die hintergründig-schonungslose satirische Zeichnung der Figuren macht letztlich fast alle wenigstens zu Mitläufern. Es wäre sicher übertrieben, dies als Diagnose und Prognose für eine gesellschaftliche Entwicklung zu sehen, die in den Nationalsozialismus führt. Aber die Anzeichen sind da und Fontane zeigt sich einmal mehr als der über sein Jahrhundert hinausdenkende, hellsichtige Erzähler, auch und gerade im Krimi-Genre.

Der Krimi in Literatur, Film und Serie

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