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1.3 Gratifikationen für Krimi-Leser*innen

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Lesezeit ist Lebenszeit, auch wenn sie nicht gewaltsam verkürzt wird. Von solchen gewaltsamen Verkürzungen handelt dieser Band Gott sei Dank nur in Theorie und Fiktion. Gibt es in der Realität überhaupt Fälle, in denen Bücher getötet haben? Umberto EcoEco, Umbertos Roman Der Name der RoseDer Name der Rose (1980) schildert einen solchen Fall, dort ist es bekanntlich ein an den Seiten vergiftetes Buch, das lesehungrige Mönche ihr Leben kostet. Der im Mittelalter spielende Kriminalfall – die augenzwinkernden Verweise auf Conan DoyleConan Doyle, Arthurs Figuren Sherlock Holmes und Doktor Watson sind offensichtlich – würde auch in die Reihe der zu behandelnden Bücher gehören, wenn genug Raum für alles wäre, was wichtig ist. Ebenso die Verfilmung von 1986, eine der überzeugenderen Literaturverfilmungen mit deutscher Beteiligung. Regie führte Jean-Jacques AnnaudAnnaud, Jean-Jacques und die Hauptrolle spielte Ex-James-BondJames Bond Sean ConneryConnery, Sean. Das Beispiel zeigt, dass Tragik und Komik nah beieinander liegen: AristotelesAristoteles’ Buch über die Komödie ist es, das als verschollen gilt und aus dem die Mönche ihre verbotenen Lesefrüchte kosten. Dass das Buch mit der Bibliothek des Klosters verbrennt, ist ein wunderbarer Roman- und Film-Trick. So liefert Eco eine fiktionale Erklärung für das faktuale Fehlen eines der (vermutlich) einst realen Bücher, die grundlegend für unsere Kultur waren oder gewesen wären.

Ecos metafiktionaler Roman zeigt deutlich: Fiktionen modellieren mögliche Wirklichkeiten. Es wird zu diskutieren sein, wie sie dies tun und weshalb. „Nichts entspannt so sehr wie Mord und Totschlag“, titelte der Tagesspiegel (Huber 2016). Die besondere Konjunktur des Genres erklärt Joachim HuberHuber, Joachim wie folgt:

Das Publikum sucht über die Klammer aus Verbrechen und Entertainment ja seiner Alltagserschlaffung zu entkommen. Alltag, das ist zwar die gemeinhin gewollte Lebensform, gerne abgesichert über ein Kordon aus Versicherungen gegen das Nicht-Alltägliche, aber dieser Alltag hat eben seinen sehr niedrigen Thrill-Horizont. Da kommt der Fernsehkrimi gerade recht: Teilhabe und Teilnahme an fremder Gefahr bis hin zum Mord, das Schlimmste, was passieren kann, sind Schweißausbruch und Angst vorm Gang in den Keller. Spannung wird Entspannung, Entspannung wird Spannung, das klingt nach Paradox und ist doch nur die Klammer, die Krimi und Krimifan umfasst. (ebd.)

Antje StrubelStrubel, Antje kommt im Deutschlandfunk zu einem etwas anderen Befund: „Die Konjunktur von Krimis in einer Gesellschaft, heißt es, weise auf steigende soziale Spannungen hin“ (Strubel 2007). Bedeutet dies aber nun, dass Krimis das Animalische im Menschen verarbeiten helfen oder befördern, dass sie soziale Spannungen reduzieren oder verstärken? Wenn Strubel, die selbst Schriftstellerin ist, die Lektüre des von ihr besprochenen Bandes mit Kriminalerzählungen von Håkan NesserNesser, Håkan als „Zeitverschwendung“ abtut (ebd.), dann wird offensichtlich, dass sie andere Maßstäbe an die Lektüre anlegt als jene nach Entspannung suchenden Rezipient*innen.

Nicht zu vergessen ist, dass Krimis Waren sind. Es ist daher kein Zufall, dass sich etwa auch das Börsenblatt des deutschen Buchhandels mit der Frage der Krimi-Konjunktur beschäftigt hat. Michael Roesler-GraichenRoesler-Graichen, Michael nennt Zahlen aus dem Jahr 2011, an denen sich grundsätzlich wenig geändert haben dürfte:

Spannungsliteratur hat Konjunktur: mehr als ein Viertel der gesamten Belletristikproduktion der deutschen Verlage sind Krimis, Thriller oder Mischformen, die auch Elemente aus Science-Fiction und Fantasy enthalten können. Die Tendenz ist insgesamt gleichbleibend, auch wenn es laut ‚Buch und Buchhandel in Zahlen‘ für das vergangene Jahr einen leichten prozentualen Rückgang zu verzeichnen gibt (2010: 27 Prozent; 2009: 28,3 Prozent). […] Während die Zahl der Novitäten auf hohem Niveau bleibt, wird das Spektrum der Krimireihen breiter und die Genredifferenzierung immer größer. Beispiele sind die neue Reihe Polaris von Rowohlt, die Internationalisierung des Regionalkrimis (Luxemburg, Bretagne, Mallorca etc.) und die immer ausgefallenere Spezialisierung (Wein-, Kaffeehaus-, Schrebergarten-, Wilhelm-Busch-, Gänse-Krimi). (Roesler-Graichen 2011)

Es gilt das Gesetz von Angebot und Nachfrage: Wenn sich Krimis nicht so gut verkaufen würden, gäbe es viel weniger davon. Die genannten Subgenres deuten an, dass Gewalt dabei nicht nur auf Menschen beschränkt bleibt. Zu den besonders originellen Beispielen gehören die millionenfach verkauften Schafskrimis (Glenkill. Ein SchafskrimiGlenkill. Ein Schafskrimi, 2005; Garou. Ein Schaf-ThrillerGarou. Ein Schaf-Thriller, 2010) und der Papageienkrimi (GrayGray, 2017) von Leonie SwannSwann, Leonie, einer in Dachau geborenen Autorin, die unter Pseudonym schreibt.

Umso dringender gestaltet sich nach der Frage, was ein Krimi überhaupt ist oder sein kann, die Frage, welche Gratifikationen Krimis bereitstellen, um so erfolgreich sein zu können. Die in den letzten Jahrzehnten boomenden Regionalkrimis beispielsweise punkten mit ihrem Bezug zu einem Ort oder einer Landschaft, wobei das Bedürfnis nach Identifikation mit einer Herkunftsregion ebenso eine Rolle spielen dürfte wie das nach lokalen Sensationen, auch wenn sie nur fiktiv sind. Besonders bekannte Orte und Landschaften bieten darüber hinaus Leser*innen Anknüpfungspunkte, die diese Gegenden vielleicht nur von Urlauben kennen. Allein die Topographie sorgt für eine erhöhte Aufmerksamkeit, vergleichbar etwa mit der früher so populären Heimatliteratur.

Wenn nachfolgend bestimmte Erzähltexte, Filme und Serienfolgen ausgewählt werden und der Vorschlag gemacht wird, die Geschichte der modernen Kriminalliteratur bereits im 18. Jahrhundert und hier vor allem mit Friedrich SchillerSchiller, Friedrichs Der Verbrecher aus verlorener EhreDer Verbrecher aus verlorener Ehre und Der GeisterseherDer Geisterseher zu beginnen, dann wird dies bei einem so populären und bekannten Genre vielleicht bei einigen zögerliche Zustimmung, bei anderen aber prinzipiellen Protest hervorrufen. Nun kann ein solches Büchlein – wie jede Publikation – nur ein Diskursbeitrag sein, der im besten Falle weitere Diskursbeiträge provoziert. Wenn diese Einführung Interesse genug wecken sollte, dass das für die Produktion und Rezeption von Literatur und Film zentrale Genre weniger stiefmütterlich behandelt wird, dann ist schon viel gewonnen.

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Mein Dank gebührt allen, die mit mir über das Thema diskutiert und mir Anregungen gegeben haben, dazu zählen Helga Arend, Renate Giacomuzzi, Klaus Kanzog, Nicole Mattern, Kirsten Reimers, Helmut Schmiedt und andere, die bitte nicht böse sind, wenn sie hier nicht namentlich genannt werden.

Außerdem danke ich Kathrin Heyng von der Verlagsgruppe Narr Francke Attempto sehr herzlich für Ihre Unterstützung von Anfang an und für die wie stets umsichtige und freundliche Betreuung des Projekts.

Fragen zu diesem Kapitel:

Weshalb ist der Krimi ein so populäres Genre?

Welches sind die wichtigsten Merkmale eines Krimis?

Weshalb ist es ein Problem, die Geschichte des Genres mit Poes Erzählung über die Morde in der Rue Morgue beginnen zu lassen?

Wie lässt sich der Krimi unterteilen?

Weshalb sind Abgrenzungen zwischen Genrebezeichnungen mit Kriminalhandlung schwierig?

Inwiefern ist die Bewertung von Kriminalerzählungen historisch und kulturell variabel?

Welche Überschneidungen gibt es zu Drama und Lyrik?

Welche Überschneidungen gibt es zu anderen Genres?

Der Krimi in Literatur, Film und Serie

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