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3. Literatur- und filmgeschichtlicher Abriss 3.1 ‚Ursprungserzählung‘ und Genretraditionen

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Bereits die Frage, wann die Genregeschichte des Krimis beginnt, ist ein Problem – gerade weil es kein Problem zu sein scheint. Das Reallexikon der deutschen Literaturwissenschaft formuliert die Ursprungserzählung des Krimis wie folgt: „Der Kriminalroman ist eine Weiterentwicklung der kurzen Kriminalgeschichte, wie sie sich im Anschluss an E. A. Poes ‚The Murders in the Rue MorgueThe Murders in the Rue Morgue‘ bei Autoren wie Conan DoyleConan Doyle, Arthur und ChestertonChesterton, Gilbert Keith zu einer thematisch festgelegten Erzählform ausgebildet hat“ (Wörtche 2007, 343). Und die verdienstvolle, grundlegende Zusammenstellung wichtiger Literatur über den Kriminalroman durch Jochen VogtVogt, Jochen eröffnet mit Klaus Günter JustJust, Klaus Günters Aufsatz „Edgar Allan Poe und die Folgen“ (Vogt 1971, 1, 9-32).

Clemens PeckPeck, Clemens und Florian SedlmeierSedlmeier, Florian konstatieren zurecht, aber leider ebenfalls zustimmend, dass es sich bei dieser Ursprungserzählung um einen „Gemeinplatz“ handelt:

Es ist ein literaturhistorischer Gemeinplatz, Edgar Allan Poes Trilogie kanonischer Kriminalerzählungen als Ausgangspunkt für eine Gattungsgeschichte und eine Gattungspoetik der Kriminalliteratur oder zumindest der Detektivgeschichte zu reklamieren. Als Gründungsurkunde der detective fiction gilt dabei vor allem Poes erste Erzählung ‚The Murders in the Rue Morgue‘ (1841) […]. (Peck / Sedlmeier 2015, 7)

Ihnen ist uneingeschränkt beizupflichten (auch wenn sie es so vielleicht nicht gemeint haben), dass die Tradierung von „Wissen und Klassifikation von Delinquenz“ (Peck / Sedlmeier 2015, 17) durch das, was offenbar schon früh als Wissen über Krimis ausgegeben wurde und wird, stark beeinflusst worden ist. Selbst englischsprachige Einführungen gehen davon aus, dass das Genre nur gut 150 Jahre alt ist (vgl. z.B. Scaggs 2005, 1), und schreiben die Ursprungserzählung mit Sätzen wie diesem fest und fort: „PoePoe, Edgar Allan was the founding father whose genius suggested the themes to be followed by other writers“ (Symons 1992, 38). Wie zu zeigen sein wird, ist aber die ‚Kriminalgeschichte‘ (gemeint ist vermutlich ‚Kriminalerzählung‘?) älter als der Kriminalroman, man denke an Friedrich SchillerSchiller, Friedrichs Verbrecher aus verlorener EhreDer Verbrecher aus verlorener Ehre oder E.T.A. HoffmannHoffmann, E.T.A.s Das Fräulein von ScuderiDas Fräulein von Scuderi, die als weitere wichtige Muster des Genres noch näher vorgestellt werden. Die Kriminalliteratur der Moderne beginnt eigentlich, wie Sandra BeckBeck, Sandra festgestellt hat, mit der sogenannten „Pitaval-Tradition“, die allerdings ausgrenzend „als eigenständige Variante kriminalliterarischen Erzählens“ aufgefasst wird und „durch die Causes célèbres et intéressantes avec le jugemens qui les ont décidéesCauses célèbres et intéressantes avec le jugemens qui les ont décidées (1734-54; 20 Bde.) des französischen Advokaten François Gayot de PitavaPitaval, François Gayot del begründet“ wurde (Beck 2014, 36).

Abb. 3.1:

Mit dem sogenannten Pitaval fing alles an.

Neben anderen Autor*innen (vgl. Beck 2014) bauen auch SchillerSchiller, Friedrich und HoffmannHoffmann, E.T.A. auf dieser Tradition auf. Erstaunlich ist, dass diese beiden wohl nicht zu ignorierenden Autoren im Reallexikon der deutschen Literaturwissenschaft (in Übereinstimmung mit der Generallinie der Forschung) zwar angeführt, aber der „älteren Verbrechensdichtung“ zugerechnet und in ihrer wegweisenden Modernität nicht erkannt werden (vgl. Wörtche 2007, 343). Schillers Erzählung ist der erste auch heute noch bekannte Text, der nach der Motivation von Verbrechern fragt, ihre Taten mit den sozialen Verhältnissen in Verbindung bringt und die Frage nach der Möglichkeit von Resozialisierung aufwirft. Damit weist diese Erzählung bereits auf die Krimis des 20. Jahrhunderts voraus – man denke an Fritz LangLang, Fritzs berühmten Film MM. – wie HoffmannHoffmann, E.T.A.s Fräulein von ScuderiDas Fräulein von Scuderi. Die Titelfigur bei Hoffmann ist eine ältere Dame, der späteren Miss Marple Agatha ChristieChristie, Agathas nicht unähnlich, die weniger durch Kombinationsgabe als – wie noch später Wolf HaasHaas, Wolf’ Detektiv Simon Brenner – durch eine Mischung aus Hartnäckigkeit und Zufall eine Serie an Diebstählen und Morden aufklärt.

Noch älter als SchillerSchiller, Friedrichs Erzählung ist in jedem Fall die sogenannte Pitaval-Literatur aus dem 18. Jahrhundert, die auf die genannte Sammlung von dokumentierten Strafrechtsfällen des französischen Juristen François Gayot de PitavalPitaval, François Gayot de (1673–1743) zurückgeht. Julius Eduard HitzigHitzig, Julius Eduard und Wilhelm HäringHäring, Wilhelm (unter dem Pseudonym Willibald Alexis bekannt), die ebenfalls Schriftsteller waren, haben 1842 den ersten Teil eines ‚neuen Pitaval‘ herausgegeben und (unter Berufung auf den ‚Parlamentsadvokaten Richter‘) dabei festgestellt,

[…] daß zwar jedermann Gayot de Pitavals Rechtsfälle gelesen, aber sich auch jedermann über seine Methode beschwert hätte, daß die Tatsachen ohne Ordnung durcheinander geworfen wären, von einem Wuste Betrachtungen, die nicht zur Sache gehörten, verschlungen und man sich oft in die Notwendigkeit gesetzt sähe, den wahren Verlauf der Sachen zu erraten sowie daß die rechtlichen Gründe mit einer unleidlichen Schwatzhaftigkeit vorgetragen würden. (Hitzig/Häring 1986, 11)

Wenn also die Schriften, die als Initiation und erste wichtige Quelle (vgl. bereits Hitzig/Häring 1986, 12) der modernen Kriminalliteratur gelten können, erstens dokumentarischen Charakter haben und zweitens so gestaltet sind, „daß nur ein Jurist, und auch dieser nur mit Anstrengung, sich durcharbeitet“ (ebd.), dann lassen sie sich wohl nicht zu dem Korpuskern eines Krimi-Genres zählen.

Auch davor gab es bereits immer wieder Texte, die Verbrechen zum Gegenstand ihrer Handlung hatten: „Schon SophoklesSophokles wandte im Ödipus die in der modernen Kriminalliteratur so beliebte analytische Technik an“ (Frenzel 1984, 895). Auf die Traditionen der Schilderung von Verbrechen im Drama und in der erzählenden Lyrik (etwa im Bänkelsang) wurde bereits hingewiesen. Um 1800 gibt es die ersten Texte, die im engeren Sinn zur Kriminalliteratur gezählt werden: „Als ersten ‚Kriminalroman‘ bezeichnen […] viele Autoren den Roman ‚Things as they are, or: The Adventures of Caleb WilliamsThings as they are, or: The Adventures of Caleb Williams‘ von William GodwinGodwin, William aus dem Jahr 1794“ (Seeßlen 2011, 8). SchillerSchiller, Friedrichs Erzählung Der Verbrecher aus verlorener EhreDer Verbrecher aus verlorener Ehre, auf die genauer eingegangen werden soll, ist früher erschienen.

Relevanter als die Frage, welches die erste Kriminalerzählung war, wird es sein, die Bedingungen der Entstehung des neuen Genres in den Blick zu nehmen und dabei sowohl nach den entstehenden Mustern als auch nach den Besonderheiten von exemplarisch ausgewählten, grundlegenden Texten zu fragen. Dazu kommt, dass es auch im Krimi Genre-Traditionen gibt, die fortgeschrieben werden, und solche, die neu gestiftet werden. Zweifellos sind Edgar Allan PoePoe, Edgar Allan und Sir Arthur Conan Doyle prägend für die weitere Entwicklung einer populären Auffassung von dem, was den Krimi ausmacht – „die Auflösung eines (Mord-)Rätsels“ auf der Ebene der histoire und die „Ver- und Enträtselung“ auf der Ebene des discours als die beiden Medaillen einer Seite (Wörtche 2007, 343). Krimis erzeugen Handlungsspannung, ob sie nun auf die Aufklärung eines Verbrechens gerichtet ist, das in der Vergangenheit liegt, oder auf ein Verbrechen zusteuert, das für die Zukunft zu erwarten ist – und natürlich ebenfalls aufgeklärt werden sollte.

Der Krimi – so wird das Genre heute verstanden – ist ein Kind der Aufklärung und vielleicht wird ihm deshalb auch unterstellt, dass er eine einfache Struktur hat: „Die literarischen Verfahren sind dabei zunächst die des linearen Erzählens nach den Maßgaben des Realismus des 19. Jhds.“ (ebd.). Abgesehen von dem Grammatikfehler, hier Plural statt Singular zu verwenden: Dies suggeriert eine Einfachheit, die nur auf triviale Muster der Gattung zutrifft und die von komplexeren Texten durch andere ‚literarische Verfahren‘ unterlaufen wird, etwa in Annette von Droste-HülshoffDroste-Hülshoff, Annette vons Die JudenbucheDie Judenbuche (1842), nach deren Lektüre Zweifel daran bestehen, wer der Mörder des Juden Aaron war und wie der Protagonist ums Leben gekommen ist (vgl. Neuhaus 2017a, 169-175). Auch der Begriff des „Realismus“ wird hier in einer sehr unspezifischen Weise verwendet und die Beschränkung auf das 19. Jahrhundert ist ebenso unzutreffend.

Weiter ist festzustellen, dass gängige Erzählungen über die Entwicklung des Genres übereinstimmend etwa so lauten, dass es vom 19. zum 20. Jahrhundert einen Wechsel von einem Setting in einer eher ländlichen Idylle hin zu einem in (Groß-)Städten angesiedelten, brutaleren, realistischeren Verbrechensgeschehen ebenso gegeben hat wie einen stärkeren ‚sozialen Realismus‘ als Reaktion auf die historischen Entwicklungen vor allem der beiden Weltkriege. Dazu kommt eine immer stärkere Sensibilisierung für eine ethnische, kulturelle, auf Genderfragen bezogene ‚Reformulierung‘ des Genres (vgl. Scaggs 2005, 4).

Nun gibt es genügend Gegenbeispiele. Ist nicht bereits PoePoe, Edgar Allans kanonische Erzählung in der weltläufigen Großstadt Paris angesiedelt und schildert sie nicht Akte äußerster Brutalität mit größtmöglicher Nüchternheit? Auch ist mit einer solchen Verkürzung, wie sie sich oftmals in der Forschung findet, nicht ausreichend der Wandel von der Moderne zur Postmoderne berücksichtigt. Christof HamannHamann, Christof hat darauf hingewiesen, dass beispielsweise Umberto Eco in seinem weltberühmten Kriminalroman Der Name der RoseDer Name der Rose (1980) nicht nur das Genre ironisch-subversiv unterläuft, sondern es auch extensiv zitiert – und damit auf Conan DoyleConan Doyle, Arthurs Sherlock Holmes und auf dessen Vorläufer deutlich vor dem 19. Jahrhundert hinweist:

Kenner der französischen Literaturgeschichte wissen, dass Eco mit dieser Geschichte selbst eine Spur legt, die zum Roman Zadig ou La destinée (1747) von Voltaire führt: Zadig gelingt es darin, eine Hündin und ein Pferd allein durch das Entziffern ihrer Spuren bis ins Detail zu beschreiben. Daraufhin des Diebstahls angeklagt, überzeugt er das Gericht von seiner Unschuld, indem er – wie William – seine Beobachtungen und seine Schlussfolgerungen darlegt. (Hamann 2016, 10)

Christof Hamann hat auch auf andere Traditionen des Krimis aufmerksam gemacht, etwa die Newgate Novel mit so frühen prominenten Vertretern wie Daniel DefoeDefoe, Daniel (Hamann 2016, 13).

Hier liegt die Crux der Geschichte des Krimis und vor allem der Versuche seiner wissenschaftlichen Aufarbeitung. Zahlreiche Forschungen tradieren entweder unkritisch frühe Festlegungen oder sie kommen zu merkwürdigen partikularen Beobachtungen, für die hier nur ein Beispiel genannt werden soll. Caspar Battegay meint am Beispiel von Friedrich DürrenmattDürrenmatt, Friedrichs Der VerdachtDer Verdacht (1958) feststellen zu müssen: „Nach Auschwitz lässt sich kein Kriminalroman mehr schreiben“ (Battegay 2015, 174). Nun ist schon das AdornoAdorno, Theodor W.-Diktum von den Gedichten, die man nach Auschwitz nicht mehr schreiben könne, einseitig und falsch tradiert worden (vgl. Kiedaisch 1995). Auch Dürrenmatts Romane, in denen stets eine Detektivfigur einen Verbrecher zur Rechenschaft ziehen möchte, sind Kriminalromane. Sie subvertieren das Genre, indem sie seine Begrenzungen mit thematisieren, dies wird am Beispiel von Dürrenmatts Das VersprechenDas Versprechen (1953) und seiner Verfilmung Es geschah am hellichten TagEs geschah am hellichten Tag (1958) noch zu zeigen sein.

Bereits die frühen Beispiele des Krimis unterlaufen das sich etablierende Genre und selbst die als kanonisch angesehenen Texte spielen mit dem Muster, das sie zugleich etablieren. Dies ist eigentlich nichts Ungewöhnliches, sondern stets ein Kennzeichen ‚guter‘ Literatur:

Another way of putting this point is that good literature is disturbing in a way that history and social science writing frequently are not. Because it summons powerful emotions, it disconcerts and puzzles. It inspires distrust of conventional pieties and exacts a frequently painful confrontation with one’s own thoughts and intentions. (Nussbaum 1995, 5)

Die Festlegung von Genremerkmalen kann deshalb nur mit einer notwendigen Unschärfe geschehen: „Ein erklärendes Gesetz aufzustellen wäre in etwa gleichbedeutend mit dem Anhalten oder Festschreiben des Zeichenprozesses“ (Kessler 2012, 218). Literatur, die nicht nur unterhalten will (und solche wäre lediglich als Gegenstand literatursoziologischer oder literaturpsychologischer Studien interessant), ist immer innovativ und reflexiv.

Der Krimi ist ein altes Genre, das hochgradig intertextuell ist, indem es „stets intensiv – implizit und explizit – seine Vorgänger“ zitiert (Hamann 2016, 15), und das jeweils aktuell ist, weil es auf die „medialen und technischen Innovationen“ seiner Zeit reagiert (Hamann 2016, 17), ebenso auf die sozialen Fragen und politischen Probleme.

Die Geschichte des Krimi-Genres beginnt daher mit der Pitaval-Literatur, die fortgeschrieben wird, aber dokumentarischen Charakter hat oder zumindest beansprucht. Hinzu kommt als konstitutives Merkmal eines jeden Genres der Literatur im engeren Sinn die Fiktionalität oder die Fiktionalisierung einer Handlung, in deren Zentrum Verbrechen stehen und Figuren agieren, die (zumindest gilt dies für die Hauptfiguren) individualisiert und psychologisiert werden.

Wie alle Genres verändert sich auch dieses durch die Zeit, nicht zuletzt, wenn um 1900 der Zweifel am Weltbild der Aufklärung immer größer wird. Bereits in der frühesten Phase des Films findet ein Medienwechsel statt und der Krimi gehört sehr schnell auch im neu entstehenden Leitmedium zu den populärsten Genres.

Der Krimi in Literatur, Film und Serie

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