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2.7 Zuschreibungen des Wertes: Unterhaltung, Kunsthandwerk und Kunst

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Zunächst einmal kann mit den Soziologen Niklas LuhmannLuhmann, Niklas und Pierre BourdieuBourdieu, Pierre, die jeweils eine Theorie der Kunst und Literatur in der Gesellschaft vorgelegt haben, festgestellt werden, dass Literatur etwas radikal anderes ist als Alltagskommunikation:

Was literarisches Schreiben vom wissenschaftlichen Schreiben unterscheidet: nichts belegt es besser als das ihm ganz eigene Vermögen, die ganze Komplexität einer Struktur und Geschichte, die die wissenschaftliche Analyse mühsam auseinanderfalten und entwickeln muß, in der konkreten Singularität einer sinnlichen wie sinnlich erfaßbaren Gestalt und eines individuellen Abenteuers, die zugleich als Metapher und als Metonymie funktionieren, zu konzentrieren und zu verdichten. (Bourdieu 2001, 53)

Luhmann unterscheidet zwischen „Information“ und „Mitteilung“ (Luhmann 1997, 39). Ein literarischer Text vermittelt keine Informationen, er stellt eine komplexe Mitteilung dar, die sich auch nur so ausdrücken lässt:

Die ‚Aussage‘ eines Gedichts [oder eines anderen literarischen Texts] läßt sich nicht paraphrasieren, nicht in der Form eines Satzes zusammenfassen, der dann wahr oder falsch sein kann. Der Sinn wird über Konnotationen, nicht über Denotationen vermittelt, über […] die ornamentale Struktur der sich wechselseitig einschränkenden Verweisungen, die in der Form von Worten auftreten, aber nicht über den Satzsinn […]. (Luhmann 1997, 45f.)

Auch einfache Texte können eine komplexe Aussage haben, aber nicht alle einfachen Texte sind komplex codiert. Bei jenen, die keine großen Anforderungen an das Reflexionspotenzial der Leser*innen stellen, spricht man von Trivial- oder Unterhaltungsliteratur. Angesehene Texte wählen anspruchsvolle Formen der Codierung, die auch Traditionen verpflichtet sind, die zu kennen vorausgesetzt wird. Dies gilt ebenso für die aus der Antike überlieferte und modifizierte Rhetorik und Stilistik wie für intertextuelle Spuren (zur Zeichenhaftigkeit und zum Begriff der Spur vgl. Kessler 2012). Auch Krimis verwenden Zitate oder Stoffe und Motive, die auf frühere Texte verweisen und so – wenn man solche Signale zu erkennen weiß – einen spezifisch literarischen Diskurs eröffnen, indem sie sich in Traditionen einschreiben, sie kritisch fortschreiben und modifizieren.

Gängige Krimis sind einfach konstruiert, sie arbeiten mit Klischees und Stereotypen, um ihre Leser*innen zu unterhalten und auf diese Weise am Markt erfolgreich zu sein. Daran ist nichts Verwerfliches: „Wer lieber King als Kafka liest, die amerikanische Gegenwartsliteratur der deutschen vorzieht oder den Krimi im Fernsehen dem im Buch, der soll sich davon nicht abhalten lassen“ (Anz 1998, 8). Dennoch gehört Unterhaltungsware gerade deshalb eben nicht zum Literatur- und Kunstbetrieb, auch wenn dieser die Aufgabe hat, keine pauschalen Ausgrenzungen vorzunehmen – sofern er sich nicht selbst auf die Stabilisierung von Machtbeziehungen und dadurch erlangte Distinktionsgewinne beschränken will.

Krimis verfallen oft dem Verdikt der Trivialität, weil Spannung zum Genrekern gehört. Doch ist Spannung etwas, das viele Gesichter haben und – auch beim Krimi – nicht unbedingt oder nur als Handlungs- oder Rätselspannung auf die Handlung bezogen sein muss. Allgemein formuliert: „Spannung beruht [ ] auf partiellem Mangel an Information und auf dem Wunsch, ihn aufzuheben“ (Anz 1998, 163). Darüber hinaus stimuliert Literatur „die Erfahrung eines Mangels“ und schafft so ein „Begehren [ ], den Mangel zu beseitigen“ (Anz 1998, 168). ‚Gute‘ Literatur und Filme zeichnet es aber aus, die Spannung auch über das (un-)glückliche Ende hinaus aufrecht zu erhalten, damit die Leser*innen über das Gelesene oder Gesehene weiter nachdenken. Um es mit dem Ende von Bertolt BrechtBrecht, Bertolts Der gute Mensch von SezuanDer gute Mensch von Sezuan von 1943 zu sagen:

Wir stehen selbst enttäuscht und sehn betroffen

Den Vorhang zu und alle Fragen offen. […]

Soll es ein andrer Mensch sein? Oder eine andre Welt?

Vielleicht nur andere Götter? Oder keine? […]

Sie selber dächten auf der Stelle nach

Auf welche Weis dem guten Menschen man

Zu einem guten Ende helfen kann.

Verehrtes Publikum, los, such dir selbst den Schluß!

Es muß ein guter da sein, muß, muß, muß! (Brecht 1997, 2, 294f.)

Für die Frage der Einordnung entscheidend ist, ob man an dem potenziellen Kunstwerk den Versuch erkennen kann, etwas Neues anzubieten: „Auch mißglückte Kunstwerke sind Kunstwerke – nur eben mißglückte“ (Luhmann 1997, 316). Davon ist die „Massenproduktion“ bzw. der „Kitsch“ zu unterscheiden (Luhmann 1997, 300). Schließlich gibt es, um Kunst, die von der Neuheit lebt, überhaupt als solche zu erkennen, „[…] einen Kunstbetrieb. Das Kunstsystem stellt Einrichtungen zur Verfügung, in denen es nicht unwahrscheinlich ist, Kunst anzutreffen – etwa Museen, Galerien, Ausstellungen, Literaturbeilagen von Zeitungen, Theatergebäude, soziale Kontakte mit Kunstexperten, Kritikern usw.“ (Luhmann 1997, 249).

Was gar nicht besprochen wurde und keinen Beifall von Akteur*innen im Literatur- und Kunstbetrieb erhält, zählt daher möglicherweise – es gilt immer das Prinzip einer ständigen Revision des literarischen Kanons (Neuhaus 2002) – zur Trivial- oder Unterhaltungsliteratur. In jedem Fall gilt, dass es bei der Beschäftigung mit Literatur jenseits der reinen Unterhaltungsfunktion immer darum gehen sollte, „ästhetisches Vergnügen durch Reflexion darüber zu verstärken“ (Anz 1998, 10).

Weshalb ist die reflexionsstimulierende Funktion von Literatur und auch von Filmen oder Serien so wichtig? Für Luhmann erbringen Kunst und Literatur einen besonderen und besonders wichtigen Beitrag für die Gesellschaft: „Mehr und vor allem deutlicher als in anderen Funktionssystemen kann in der Kunst vorgeführt werden, daß die moderne Gesellschaft und, von ihr aus gesehen, die Welt nur noch polykontextural beschrieben werden kann“ (Luhmann 1997, 494). Daraus folgt: „Eine Zukunft kann es, auch für Kunst, nur geben, wenn für Differenz optiert wird […]“ (Luhmann 1997, 495). Luhmann schließt also mit einem emphatischen, in seinem Gesellschaftsbezug durchaus politisch zu nennenden Plädoyer für Kunst und Literatur. Und dies gilt genauso für Krimis, ganz gleich, wie sie (massen-)medial realisiert werden.

Fragen zum Kapitel:

Weshalb gibt es viele verschiedene Genredefinitionen?

Was wäre Bestandteil einer Minimaldefinition des Krimis?

Weshalb lohnt es sich, auf die konzeptionellen Hintergründe und auf die Realisierungen in Literatur, Film und Serie mehr zu achten?

Welche Bedeutung hat Spannung?

Welche Bedeutung haben der Rätsel- und der Spielcharakter?

Was ist für ein kritisches Verständnis jedes Genres unabdingbar?

Wann entstehen die heute verwendeten Gattungsbegriffe?

Weshalb entsteht der Krimi im 18. Jahrhundert?

Wie wirken Aufklärung und Moderne auf die Entstehung des Genres?

Wie sieht das übliche Figurenpersonal aus?

Weshalb ist das Panoptikum ein Bild der Ordnung moderner Gesellschaften?

Wie setzt sich der Krimi mit der auf Selbstkontrolle gestellten modernen Disziplinargesellschaft auseinander?

Was sind gängige Typen des Detektivs?

Wie reagiert der Krimi auf die Komplexität (post-)moderner Gesellschaften?

Was bezeichnen die Begriffe Bio-Macht und Bio-Politik?

Inwiefern ist zwischen Gerechtigkeit und poetischer Gerechtigkeit zu unterscheiden?

Welche Rolle spielen Emotionen bei der Lektüre von Krimis?

Welche Rolle spielen symbolische Codierungen?

Wie können Krimis die Spiel-Räume fiktionaler Literatur nutzen?

Weshalb gibt es das ‚Böse‘ oder das ‚Gute‘ nicht?

Weshalb kann die Inszenierung von Verbrechen als Code beschrieben werden?

Welche Anforderungen an das Reflexionspotenzial stellen triviale Beispiele des Genres im Unterschied zu anspruchsvollen Beispielen?

Der Krimi in Literatur, Film und Serie

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