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b) Der Anwendungsvorrang und seine (verfassungsrechtlichen) Grenzen
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Dieser Vorrang des Unionsrechts auch vor dem nationalen Verfassungsrecht findet seine verfassungsrechtliche Anerkennung und zugleich Grenze in der Ermächtigung zur Übertragung von Hoheitsrechten auf die Union nach Art. 23 GG[31]. Seit der Solange II-Entscheidung[32] ist geklärt, dass Akte der Europäischen Union selbst nicht an den deutschen Grundrechten gemessen werden bzw jedenfalls das BVerfG seine entsprechende Prüfungskompetenz nicht ausübt. Diese Beschränkung „schlägt durch“ auf die Umsetzung durch den Gesetzgeber, aber auch die Prüfungsmaßstäbe für Verwaltungshandeln. Zugleich entwickelt das BVerfG aus den Grenzen dieser Öffnung, der in Art. 23 Abs. 1 S. 3 GG ausdrücklich in Bezug genommenen Ewigkeitsklausel des Art. 79 Abs. 3 GG, die Grenzen der Freistellung der Akte deutscher Staatsgewalt vom deutschen Verfassungsrecht. Allerdings wurde auch diese im Anwendungsbereich der GRCh praktisch obsolet (zu den vom BVerfG gezogenen Grenzen s. Rn 44).
Grundsätzlich prüft das BVerfG nach seiner bisherigen Rechtsprechung auch nationale Rechtsvorschriften nicht am Maßstab des GG, die auf Richtlinien beruhen[33]. Zwar liegt mit dem deutschen Gesetz offensichtlich ein tauglicher Beschwerdegegenstand vor. Sofern die Richtlinie keine Umsetzungsspielräume belässt, fehlt aber die Möglichkeit einer Grundrechtsverletzung und damit die Verfassungsbeschwerdebefugnis. Verbleiben Umsetzungsspielräume, ist der Gesetzgeber bei deren Ausfüllung sehr wohl (auch) an die verfassungsrechtlichen Maßstäbe gebunden[34]; dies gilt insbesondere, wenn eine Richtlinie dem nationalen Gesetzgeber Optionen anbietet, aber bestimmte Regelungen nicht zwingend vorschreibt (zum telekommunikationsrechtlichen Versteigerungsverfahren Rn 562 ff). Soweit das BVerfG eine Ultra-Vires-Kontrolle (gegenüber „ausbrechenden“ Akten der Union) als auch eine Identitätskontrolle (Einhalten der von Art. 79 Abs. 3 GG geschützten Menschenwürde sowie damit wohl auch grundrechtlicher Mindeststandards und der Mindeststandards des Art. 20 GG)[35] in Anspruch nimmt, steht diese unter dem Vorbehalt einer vorherigen Anrufung des EuGH[36]. In den hier behandelten Bereichen der hier behandelten Bereiche des öffentlichen Wirtschaftsrechts spielt dies (anders als bei EZB-Maßnahmen und Rettungsschirmen[37]) bisher keine Rolle; das BVerfG selbst maß im Lissabon-Urteil seiner Prüfungskompetenz eine zwar grundsätzliche, aber „im Alltag der Rechtsanwendung eher theoretische“ Bedeutung bei[38]. Dies gilt insbesondere bei der Richtlinienumsetzung. Zugleich sind diese Umsetzungsvorschriften dann primär an den unionalen Grundrechten zu messen, da es sich um „Durchführung des Rechts der Union“ handelt (Art. 51 Abs. 1 S. 1 GRCh)[39]. Insoweit ist es schlicht ausgeschlossen, dass der in Solange-II gemachte Vorbehalt einmal praktisch werden könnte[40].
Auch die Prüfung der Maßstäbe des Art. 20 GG führten zwar dazu, dass das BVerfG die Einrichtung europäischer unabhängiger Agenturen (dazu näher Rn 185 ff) als „aus Sicht des Demokratiegebots prekär“ bezeichnete, gleichwohl aber „keine grundsätzlichen Einwände“ hatte[41]. Allerdings stellt sich die Frage nach dem Verhältnis zwischen nationalen und europäischen Grundrechten auch in diesen Konstellationen. Der EuGH erkannte an, dass es Konstellationen geben könne, die vom Unionsrecht „erfasst“, aber nicht „vollständig bestimmt“ seien, so dass europäische und nationale Grundrechte auch parallel zur Anwendung kommen könnten[42]. Zugleich betonte er, dass „keine Fallgestaltungen denkbar [sind], die vom Unionsrecht erfasst würden, ohne dass diese Grundrechte [der GRCh] anwendbar wären“[43]. Zunächst betonte das BVerfG in seiner Entscheidung zur Antiterrordatei, die Akerberg Fransson-Entscheidung dürfe nicht so verstanden werden, dass „für eine Bindung der Mitgliedstaaten durch die in der Grundrechte-Charta niedergelegten Grundrechte der Europäischen Union jeder sachliche Bezug zum bloß abstrakten Anwendungsbereich des Unionsrechts oder rein tatsächliche Auswirkungen“ ausreichen könnten[44]. Der EuGH hat klargestellt, dass allein eine Zuständigkeit der Union nicht ausreicht, sondern es sich um sekundärrechtlich geprägte Rechtsmaterie handeln muss[45]. Dennoch wurde dieser Vorbehalt bisher nicht praktisch. Das BVerfG prüft in diesen Fällen unter Verweis auf die unionsrechtlich zugelassene „Grundrechtsvielfalt“ primär das Grundrecht des GG[46].
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Diese Betonung seiner „Wächterfunktion“ im Hinblick auf grundrechtliche Mindeststandards verlor umso stärker an Überzeugungskraft, je mehr im Ergebnis der europäische Standard denjenigen des GG übertraf und der EuGH gerade umgekehrt auch Entscheidungen des BVerfG korrigierte. Dies geschah zunächst beim Aufeinandertreffen von Grundfreiheiten und Art. 12 GG im Glücksspielrecht (dazu Rn 69), aber in letzter Zeit ausgerechnet auch auf dem Gebiet der informationellen Selbstbestimmung. Mag die verfassungsrechtliche Etablierung dieses Grundrechts sogar dem BVerfG zu verdanken sein, so wurde das Datenschutzgrundrecht in den letzten Jahren vom EuGH sehr dynamisch weiterentwickelt und international durchgesetzt. Ende 2019 reagierte Karlsruhe mit einem Paukenschlag: In einem Fall mit Bezug zur DSGVO hat das BVerfG nunmehr den Anwendungsvorrang des Unionsrechts und insbesondere der GRCh vor den nationalen Grundrechten ausdrücklich anerkannt[47]. Zugleich leitet es aus dem „Kooperationsverhältnis“ mit dem EuGH ab, dass es auch seinerseits den Prüfungsmaßstab im Rahmen der Verfassungsbeschwerde modifiziert und die Akte deutscher Behörden am Maßstab der europäischen Grundrechte prüft[48].
Es bleibt abzuwarten, ob dies materiell die Gewichte zum Unionsrecht oder kompetenziell zur nationalen Kontrolle verschieben wird. Letztere forcierte der 2. Senat mit einer genauso überraschenden Entscheidung, in der er den Anwendungsbereich der Verfassungsbeschwerde und damit seine Kontrollmöglichkeiten hinsichtlich formeller Erfordernisse erheblich erweiterte[49]. Außerdem hatte gegenüber den EZB-Anleiheverkäufen erstmals eine ultra-vires-Kontrolle Erfolg, was voraussetzte, dass die Vertragsauslegung des EuGH im Vorlageverfahren als „nicht mehr nachvollziehbar und daher objektiv willkürlich“ qualifiziert wurde[50]. Dass dies ausgerechnet bei der Verhältnismäßigkeitsprüfung angenommen wurde, macht es sicherlich nicht einfach, die BVerfG-Entscheidung nachzuvollziehen. Dies wiederum könnte Gegenstand eines Vertragsverletzungsverfahrens werden[51].