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a) Allgemeine Grundsätze und Lehren
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Die Verwirklichung des Binnenmarkts verlangt, dass außer den Waren auch die Produktionsfaktoren Arbeit und Dienstleistung frei, dh vor allem ohne Benachteiligung aufgrund der Staatsangehörigkeit verkehren können. Insofern konkretisieren sie das allgemeine Diskriminierungsverbot des Art. 18 Abs. 1 AEUV durch Statuierung eines Grundsatzes der Inländergleichbehandlung. Sie verlangen aber darüber hinaus auch, dass die Beschränkungen durch öffentliche Interessen, die als Schranken der Grundfreiheiten fungieren, gerechtfertigt sind. Dazu übernehmen die Grundfreiheiten vergleichbare Funktionen wie die Grundrechte aus Art. 12 und 14 GG in den rein nationalen Sachverhalten. Die fast zwangsläufige Konsequenz dieser Funktion der Grundfreiheiten als Rechtspositionen des Einzelnen ist die Entwicklung eines „Allgemeinen Teils“ für alle Grundfreiheiten und damit verbunden auch eine starke Annäherung an die allgemeine Grundrechtsdogmatik in der Tradition „europäisch-amerikanischer Verfassungsstaatlichkeit“[66]. Dies erklärt, warum der EuGH trotz des unterschiedlichen Wortlauts der primärrechtlichen Bestimmungen seiner Prüfung ein einheitliches Konzept und Prüfprogramm zugrunde legt[67]. Diese dogmatische Parallele spiegelt sich im dreistufigen Prüfungsaufbau wider. Wie in der Grundrechtsprüfung lassen sich Schutzbereich, Eingriff und Rechtfertigung unterscheiden (s. Rn 57 ff). Allerdings greifen die Marktfreiheiten nur dann ein, wenn es sich um eine „Teilnahme am Wirtschaftsleben“ handelt und der erforderliche grenzüberschreitende Bezug gegeben ist. Außerdem muss das angegriffene Verhalten dem Mitgliedstaat zuzurechnen sein. Diese Anforderungen werden – soweit der Sachverhalt dafür Anlass bietet – vorab geprüft (vgl Rn 52 ff). Entwickelt wurden viele allgemeine Grundfreiheitenlehren anhand der Warenverkehrsfreiheit, die allerdings für das öffentliche Wirtschaftsrecht in ihrer Bedeutung hinter den anderen Grundfreiheiten zurückbleibt.
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Wie die Grundrechte sind auch die Grundfreiheiten in erster Linie (staatsgerichtete) Eingriffsabwehrrechte (zu den Adressaten näher Rn 56) und fungieren als Beschränkungs- und nicht allein als Diskriminierungsverbote[68]. Außerdem können auch aus den Grundfreiheiten staatliche Schutzpflichten abgeleitet werden.
Die europäische Konzeption hat der EuGH in zwei Grundlagenentscheidungen entwickelt. Im Urteil vom 9.12.1997[69] entschied der EuGH, dass die Französische Republik gegen ihre Verpflichtungen aus Art. 34 iVm Art. 4 Abs. 3 AEUV (ex Art. 28 iVm Art. 10 EGV) verstoßen hat, indem sie „nicht alle Maßnahmen ergriffen hat, damit der freie Warenverkehr […] nicht durch Handlungen von Privatpersonen beeinträchtigt wird“. Offen blieb die Frage nach den Grenzen der staatlichen Handlungspflicht. Angesichts der Weite der Dassonville-Formel und damit des Grundfreiheitentatbestands kann jedenfalls nicht für jedes private Handeln mit Eingriffsqualität eine Handlungs-(und ggf dadurch eine Haftungs-)pflicht des Staates begründet werden[70]. Mit dieser Frage einer Rechtfertigung der Beeinträchtigung beschäftigte sich der EuGH in der zweiten Entscheidung v. 12.6.2003 zur Brenner-Blockade[71]. Grundrechte und Grundfreiheiten sind gleichermaßen vom Unionsrecht geschützte und damit von den Mitgliedstaaten zu beachtende Rechte, zwischen denen – ähnlich wie in der deutschen Grundrechtsdogmatik bei der Kollision zweier Grundrechte – „ein angemessener Ausgleich im Wege praktischer Konkordanz gesucht werden muss“[72]. Mittlerweile hat sich die Problematik der Verkehrsblockaden ins sekundäre Unionsrecht verlagert[73]. Außerdem setzt sich auf europäischer Ebene immer mehr die unmittelbare Grundrechtsbindung Privater durch (s. dazu Rn 56).
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Die zunehmende Rechtsvereinheitlichung im Binnenmarkt wirft aber auch die Frage einer Bindung der Union an die Grundfreiheiten auf. Schon das Primärrecht zeigt, dass auch der Unionsgesetzgeber nicht im Widerspruch zu den primärrechtlichen Vorschriften über den freien Warenverkehr handeln darf (vgl Art. 5 Abs. 2, Art. 13 Abs. 2 S. 2 EUV und Art. 2 Abs. 6 AEUV). Konsequenterweise überprüft der EuGH daher auch Sekundärrecht auf seine Vereinbarkeit mit den Grundfreiheiten[74]. Bisher räumte er dabei dem EU-Gesetzgeber einen weiten Ermessenspielraum ein[75].
Demgegenüber findet sich vor allem in der deutschen Literatur die These, es liege schon kein Verstoß gegen die Grundfreiheiten vor, da einheitlich wirkende Maßnahmen des Unionsgesetzgebers keine marktzugangsrelevanten Wirkungen entfalten könnten. Deshalb seien derartige unionale Akte primär an den Unionsgrundrechten, insbesondere der Berufs- und Unternehmerfreiheit (Art. 15 f GRCh), zu messen[76].