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Kapitel 9

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Mit der leeren Kiste unterm Arm renne ich in gebückter Haltung die steinernen Stufen empor und durch den Schrank ins Esszimmer. „Naomi? Daphne?“, rufe ich und verschließe die Schranktür hinter mir.

„Scarlett“, ruft Naomi erleichtert und rennt aus dem Flur ins Esszimmer auf mich zu. „Oh mein Gott, wie hast du es nur an diesem Ding vorbeigeschafft?“, fragt sie und schlingt die Arme um mich.

Erst jetzt merke ich, dass meine Ohren noch immer vom Schrei des Wesens klingeln. „Es ist durch den Kamin entwischt.“

„Es ist weg? Was war das überhaupt?“

Das Klingeln macht mich ganz schwindelig. Ich ziehe einen Stuhl hervor und setze mich darauf. „Keine Ahnung“, gebe ich zu, lege die Kiste auf den Esstisch und verdecke mein Gesicht mit den Händen. „Sowas habe ich noch nie gesehen.“

Naomi nimmt neben mir Platz und zieht die Kiste zu sich heran. Vorsichtig hebt sie den Deckel an und späht hinein. Dann höre ich ein erstauntes Lachen von ihr.

„Was ist?“, frage ich und reibe mir über die Augen.

Sie hebt die Kiste an und zeigt mit dem Finger auf eine Stelle im Boden, an der etwas geschrieben steht. „Made in China“, sagt sie und schüttelt verwirrt mit dem Kopf.

Ich nehme ihr die Holzkiste ab, drehe sie in meinen Händen und lese dieselbe Herstellermarkierung. Dann klappe ich den Deckel wieder zu und fahre mit den Fingern über den eingeschnitzten Zauberspruch. Er fühlt sich rau und uneben an, doch ich kann keine dunkle Magie mehr in dem Holz der Kiste spüren. „Scheint, als hätte Arthur eine ganz normale Kiste genommen und sie mit dunkler Magie zu einem magischen Safe gemacht. Und nun, da der Bann gebrochen ist, ist es wieder nur eine normale Kiste.“

Einen Moment lang schweigen wir und starren die Kiste an, während sich unser Herzschlag langsam wieder beruhigt. Das Haus ist auffallend still. Draußen hat es aufgehört zu regnen und die Dämmerung hat eingesetzt.

„Wo ist Daphne?“, frage ich mit Blick zum Fenster, wo ein Schwarm Krähen wie hochgeworfenes Konfetti in die Luft fliegt und ebenso wieder heruntersaust.

„Ich weiß es nicht“, antwortet Naomi mit erschöpft klingender Stimme. „Im Haus ist sie jedenfalls nicht.“

„Wir sollten gehen.“ Ich stehe auf, klemme mir die Kiste unter den Arm und gehe zur Garderobe in den Flur. Naomi folgt mir. „Sie wird uns sicherlich erstmal meiden. Ich denke, ihr wird klar sein, dass wir nicht erfreut darüber sind, dass sie uns Gott-weiß-was hat befreien lassen.“

Naomi nickt und senkt den Blick. „Tut mir leid, Scarlett“, sagt sie und streift sich ihre Jacke über. „Ich hätte dich da nicht mit hineinziehen sollen.“

Ich mache eine abwertende Handbewegung. „Das ist doch nicht deine Schuld. Du konntest nicht ahnen, dass sich in der Kiste noch mehr verbirgt als die Unterlagen. Außerdem war ich diejenige, die den Auftrag angenommen und an dich weitergegeben hat.“

Sie lächelt, aber diesmal erreicht es ihre Augen nicht.

Nachdem ich Naomi bei ihrem Haus abgesetzt habe, fahre ich direkt nach Hause. Ich muss Chris unbedingt von dem Wesen erzählen, da ich glaube, dass es eine Art Dämon ist, die nun frei herumrennt. Hoffentlich kennt er solche Exemplare und weiß, wie man sie einfängt.

Als ich auf die Einfahrt fahre, ist es bereits dunkel. Chris´ Transporter steht in der offenen Garage und aus den Fenstern am Haus fällt Licht auf die darunterliegenden Beete. Mein Schutzzauber liegt wie eine silbrig wabernde Kuppel über dem Anwesen, was mir ein beruhigendes Gefühl der Sicherheit vermittelt.

Ich stelle meinen Bulli hinter Chris´ Wagen ab, nehme die Kiste vom Beifahrersitz und laufe auf die Haustür zu. Mein Schutztier Queenie ist nirgends zu sehen, weder in den Baumwipfeln, noch auf dem Garagendach oder im Efeu, der an der Garage emporklettert. Trotzdem hole ich eine Handvoll Nüsse aus meiner Jackentasche und lege sie außen auf die Fensterbank, bevor ich eintrete.

„Bin wieder Zuhause“, rufe ich und schlage die Haustür hinter mir zu.

Aus der Küche dringt das Klappern von Topfdeckeln und ein würziger Geruch steigt in meine Nase. „Bin in der Küche“, ruft Chris, als ich bereits dem köstlichen Duft folge.

„Man, was riecht denn hier so gut?“ Ich komme um die Ecke und sehe Chris in Boxershorts, T-Shirt und Schürze bekleidet, barfuß am Herd stehen. Sein Haar ist noch nass von der Dusche und in seinen Händen hält er einen Topflappen und einen hölzernen Kochlöffel. Ich muss lachen bei seinem Anblick.

„Ich dachte, ich koche heute Abend für uns“, sagt er gut gelaunt und legt den Löffel am Topfrand ab, bevor er auf mich zukommt.

„Ach ja?“ Ich laufe ihm entgegen, lege die Hände an seine schmale Taille und versuche an ihm vorbei in den Topf zu spähen, doch er schiebt mich zurück. „Wie komme ich denn zu der Ehre?“

Er grinst, streicht eine Strähne meines Haares hinter mein Ohr und bugsiert mich weg vom Herd. „Keine Ahnung, einfach so“, sagt er und zuckt mit den Schultern.

„Und was gibt es?“, hake ich erneut nach und stelle mich auf die Zehenspitzen, doch er tut es mir gleich, sodass ich wieder nicht über seine Schulter zum Topf sehen kann.

„Etwas Leckeres.“ Mehr verrät er nicht und meine weiteren Nachfragen lässt er mit einem innigen Kuss verstummen.

Er schmeckt nach Pfeffer, Salz und etwas fruchtig Herbem. Vielleicht Tomaten? Nach dem Kuss, der mich atemlos und hungrig nach mehr zurücklässt, schiebt er mich rückwärts zu einem der Hocker vor der Kücheninsel und setzt mich darauf. Er steht zwischen meinen Knien, legt eine Hand an meine Wange und betrachtet mein Gesicht, während sein Daumen über meine Narbe streicht.

„Was ist?“, frage ich und unterdrücke ein Kichern.

Wieder zuckt er mit den Schultern. „Keine Ahnung“, sagt er und gleitet mit seiner warmen Hand in meinen Nacken. „Ich bin einfach nur froh, dass ich dich habe.“

Ich schlinge die Arme um seine Mitte und drücke mein Gesicht an seine Brust. Er riecht verführerisch nach Seife, Zedernholz und dem ihm ganz eigenen Duft, der mein Herz schneller schlagen lässt.

„Ich bin auch froh, dich zu haben“, sage ich gegen den Stoff der Schürze und fahre mit meinen Händen über seinen sehnigen, muskulösen Rücken. Mein Brustbein kribbelt warm, aber noch immer nicht so heiß wie sonst, was mit Sicherheit daran liegt, dass die kleine Auseinandersetzung, die wir gestern Abend hatten, noch in der Luft liegt.

„Und ich bin froh, dass du scheinbar verstanden hast, dass alles was meins ist, auch deins ist“, sagt er, als könne er meine Gedanken lesen.

Mit einem Seufzer nehme ich das Gesicht von seiner Brust und sehe an ihm hoch. Er lächelt, doch als er meinen ernsten Gesichtsausdruck bemerkt, sacken seine Mundwinkel in Zeitlupe herab.

„Chris, ich wollte dir noch etwas erzählen“, beginne ich und sofort löst er sich von mir.

Er geht ein paar Schritte rückwärts, Richtung Herd. Dann dreht er sich um und rührt in den Töpfen, den Rücken mir zugewandt. „Ach ja? Was denn?“, fragt er in bemüht beiläufig klingendem Ton.

Ich hole tief Luft und beginne vor Nervosität mit den Fingernägeln auf den Fliesen der Kücheninsel zu trommeln. „Es geht um Elviras Haus.“

Die Muskeln in seinem Nacken versteifen sich und ich bin drauf und dran aufzuspringen, um darüber zu streichen, damit er sich wieder entspannt. „Was ist damit?“ Er sieht über seine Schulter zu mir. „Ich dachte, das hätten wir geklärt.“

„Nein, geklärt hatten wir nichts. Du hast einfach nur beschlossen, dass es so gemacht wird, wie du es willst. Egal, was ich davon halte.“

Er dreht die Herdplatte herunter und kommt zu mir an den Tisch, wo er sich mir schräg gegenüber hinsetzt und die Hände faltet. „Heute Mittag im Booh klang es aber, als hättest du dich damit arrangiert, dass ich den Kredit aufnehme.“

Das hatte ich befürchtet. Er hat meine Aussage den anderen gegenüber, dass wir Elviras Haus kaufen werden, als Zustimmung dafür aufgefasst, sein Haus als Sicherheit für den Kredit zu nehmen. „Nein, das hatte ich nicht gemeint“, lasse ich ihn wissen. „Wir werden das Haus kaufen, aber dein Haus werden wir nicht als Sicherheit nehmen.“

Er sieht mich fragend an und seine gefalteten Hände verkrampfen sich so sehr, dass seine Knöchel weiß hervortreten. „Wie sollen wir sonst an so viel Geld kommen?“ Sobald er die Frage zu Ende gestellt hat, scheint ihm ein Licht aufzugehen, denn seine Augenbrauen schnellen nach oben. „Sag jetzt nicht, dass dafür die Diamanten gedacht waren?“

Ich presse die Lippen aufeinander und sehe ihn entschuldigend an. „Doch, in gewisser Weise schon“, gebe ich zu. „Ein paar davon waren für den Schutzzauber gedacht, die übrigen jedoch habe ich Juwelier Marder zum Kauf angeboten.“

Chris löst seine gefalteten Hände, fährt sich durch die feuchten Haare und massiert dann seinen Nasenrücken. Nach einer Weile sieht er mich mit fragendem Ausdruck an. „Und was hat Marder gesagt?“

Überrascht, dass er mir keinen Vortrag hält, entspanne ich mich ein wenig. „Er will einen Kollegen zu Rate ziehen. Bis Ende der Woche gibt er mir Bescheid.“

Chris nickt und schaut nachdenklich ins Leere. „In Ordnung…“, sagt er schließlich. Dann wird sein Blick wieder ernst. „Wird es irgendwelche magischen Folgen haben? Rächt es sich nicht, wenn man Magie eigennützig verwendet?“

„Ich weiß es nicht“, gebe ich geradeheraus zu und werfe die Hände in die Luft. „Keine Ahnung. Aber ich finde, wenn ich schon eine Hexe bin, oder genau genommen eine Druidenhexe, dann werde ich doch wohl auch mal etwas nur für uns tun dürfen, oder? Es schadet ja niemandem und ich musste auch keine Opfer dafür schlachten, oder Asche Verstorbener dafür benutzen. Ich habe die Diamanten mit meinen eigenen Händen gemacht, mit Hilfe der Elemente. Das ist keine dunkle Magie.“

„Offenbar machst du dir trotzdem Sorgen deswegen“, bemerkt Chris und verschränkt die Arme vor der Brust.

Ich stütze die Ellenbogen auf den Tisch und lege meine Stirn in meine Handballen. „Ja, kann schon sein. Ein bisschen vielleicht.“

Vom Herd kommt ein Blubbern und der Topfdeckel klappert. Chris springt auf, nimmt den Deckel runter und rührt in der kochenden Masse. Ich reibe mir die Augen und gähne herzhaft. Der wenige Schlaf der vergangenen Nacht rächt sich mittlerweile.

Chris deckt den Tisch, öffnet eine Flasche Rotwein und schenkt uns beiden ein. Er ist stiller als sonst, wirkt aber nicht wütend oder sauer. Ein paar Mal denke ich daran, ihn zu fragen, ob zwischen uns alles okay ist, überlege es mir dann aber anders.

Er hat Spaghetti Bolognese für uns gekocht, mein Leibgericht. Wir sitzen bei Kerzenschein an der Kücheninsel und essen. Ich unterbreche die Stille ein paar Mal, um das Essen zu loben, ansonsten speisen wir schweigend, jeder in seine eigenen Gedanken vertieft.

„Was ist das eigentlich für eine Kiste?“, fragt Chris plötzlich und deutet mit dem Kopf zum Fuße des zentralen Kamins. „Wo kommt die her?“

Ich schlucke meinen Bissen herunter und tupfe den Mund mit der Serviette ab. „Die kommt von Naomis Klientin. Da drin waren das Testament, die Unterlagen für die Lebensversicherung ihres verstorbenen Mannes, sowie ein seltsamer Tintenfisch-Dämon.“

Chris verschluckt sich beinahe und hält sich die Hand vor den Mund. „Ein was? Ein Tintenfisch-Dämon?“

Seine großen Augen beunruhigen mich. „Ja, sowas habe ich noch nie gesehen, weder in echt, noch in Büchern.“ Bei der Erinnerung an dieses Wesen sträuben sich mir die Nackenhaare und ich schüttle mit dem Kopf. „Ich weiß noch nicht einmal, ob es überhaupt dämonischen Ursprungs war, aber es sah für mich so aus.“

„Beschreib es mal“, fordert er mich auf und scheint dabei sein Essen völlig zu vergessen.

„Es war schwarz, riesig, mit vielen langen Tentakeln und seine Oberfläche hatten so einen öligen Schimmer“, erzähle ich und zeichne mit den Händen seine Größe nach. „Es hatte einen schnabelartigen Mund, aber mehr in der Mitte seines Rauchwolken-Kopfes, mit einem tiefroten Schlund, in dem haifischartige Zahnreihen waren.“

Seine Stirn runzelt sich und er zieht die Augenbrauen zusammen. Dann springt er plötzlich auf und rennt nach oben. Ich schiebe mir meine bereits zu einem Haufen gedrehte letzte Gabel Spaghetti in den Mund und folge ihm. Als ich oben ankomme, steht die Schlafzimmertür offen und ich sehe Chris dort drinnen vor seinem Bücherregal auf den Knien sitzen. Ein Buch liegt in seinem Schoß. Ich gehe auf ihn zu, während er fahrig mit den Fingern die brüchigen Pergamentseiten umblättert. Als ich mich neben ihn auf den Boden setze, dreht er das Buch in meine Richtung.

„Sah es so aus?“, fragt er und ich schnappe nach Luft, als ich die lebhafte Zeichnung auf der Seite sehe.

Mit schwarzer Tinte hat jemand ein Bild des Tentakel-Dämons auf das sandfarbene Pergament gemalt. Es ist so detailgetreu, dass mir die Erinnerung seines fauligen Atems in die Nase steigt. „Oh man, ja, das ist es“, sage ich und streiche mir über die Gänsehaut an meinen Armen.

Chris zieht das Buch wieder zu sich und schüttelt ungläubig mit dem Kopf. „Das ist eine Ghula.“

„Eine was?“

„Eine Ghula, die weibliche Form eines Ghuls. Es ist eine Art Rachedämon, obwohl diese Bezeichnung nicht ganz richtig ist, denn diese Wesen sind nur zur Hälfte dämonisch.“

„Ghula“, wiederhole ich nachdenklich, wobei ich noch immer nicht den Blick von der Zeichnung im Buch lösen kann. „Nur zur Hälfte dämonisch?“

„Ja… Theoretisch sind sie halb Dämon, halb Mensch.“

Ich schüttle mit dem Kopf und gebe ein seltsam klingendes Lachen von mir. „Das kann nicht sein! Dieses Ding war nicht menschlich, noch nicht einmal zu einem Prozent! Es bestand aus Rauch, aus seltsam öligen Rauch.“

Chris´ Gesichtsausdruck wirkt angewidert und er nickt dabei. „Ja, ich weiß. Mein Vater hatte mal mit einer Ghula zu tun, aber das ist sehr lange her. Ich hatte gehofft, niemals einer zu begegnen.“

„Sind sie… gefährlich? Gefährlicher als normale Dämonen?“

„Es sind Rachedämonen, sie werden zu einem einzigen Zweck erschaffen: Um Rache zu nehmen. Und das tun sie auch ziemlich verlässlich.“

Nachdenklich schweigen wir und betrachten die Zeichnung in dem alten Buch. Die Schrift neben der Zeichnung ist uralt und schwer zu entziffern. Manche Passagen im Text sind durchgestrichen oder geschwärzt, aber was ich lesen kann, beunruhigt mich.

Ghula, Rachedämon. Schriften über Erschaffung vernichten! Rächt die Feinde des Erschaffers erbarmungslos, tötet aber Erschaffer zum Schluss.

„Weißt du, wie sie erschaffen werden?“

Ohne den Blick von dem Buch zu nehmen zieht Chris die Nase kraus. „Ja“, antwortet er und hält einen Moment inne, bevor er weiterspricht. „Ein Ghul und eine menschliche Frau müssen sich paaren.“

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