Читать книгу Scarlett Taylor - Libelle - Stefanie Purle - Страница 13
Kapitel 10
Оглавление„W… Was?“, stammle ich und springe auf. „Ein Mensch und ein Ghul? Ein richtiger Ghul? Das… Das ist ja widerlich!“
Ich habe ja wirklich schon viel gehört, gelesen und erlebt, aber dass sowas überhaupt möglich ist, oder von irgendjemanden in Betracht gezogen werden könnte, sprengt meine Vorstellungskraft.
Chris steht ebenfalls auf und legt das Buch auf den Nachtschrank, bevor er sich auf die Bettkante setzt. Er senkt den Kopf und reibt seine Stirn. „Ja, ein Mensch und ein Ghul“, wiederholt er. Diese Vorstellung scheint auch für ihn schlimm zu sein. Dann sieht er zu mir auf. „Steht in deinen Büchern nichts darüber? Es ist eine Art dunkler Zauber nötig, um eine Ghula heraufzubeschwören.“
Ich durchforste mein Gedächtnis, schüttle dann aber mit dem Kopf. „Nein. Ich habe hauptsächlich Bücher über weiße Magie und nur ein paar dunkle Grimoires. Von einer Ghula habe ich noch nie gehört.“
Er nickt, seufzt und wirft den Buchdeckel zu, sodass der jahrhundertealte Staub aus den Seiten fliegt. „Das Schlimme ist, ich weiß nicht, wie ich eine Ghula töten kann. Mein Vater hat es damals auch nicht geschafft. Sie hat alle umgebracht, an denen sie Rache üben sollte. Dann hat sie ihren Schöpfer getötet und ist verschwunden.“
Ich setze mich neben ihn aufs Bett und denke nach. Ist das der Grund, warum die Ghula Naomi und mich nicht getötet hat? Kann sie nur die töten, an denen sie Rache üben soll? „Sehr clever von Daphnes Mann Arthur, der dunklen Hexe!“, erkenne ich plötzlich. „Er hat dafür gesorgt, dass die Ghula erst befreit wird, wenn er schon längst tot ist! Somit kann sie ihn nicht mehr töten.“
„Ich finde das nicht clever, sondern feige“, bemerkt er bissig.
Er hat natürlich recht, aber irgendwas in der Art wie er es sagt, stört mich und ich fühle mich seltsamerweise persönlich angegriffen. Vielleicht weil ich selbst zur Hälfte dunkel bin, obwohl das nicht bedeutet, dass ich jemals eine Ghula erschaffen würde!
Wir sitzen noch eine Weile da und besprechen das weitere Vorgehen. Doch da wir weder wissen, wo die Ghula gerade ist, noch wie wir sie töten können, oder an wem sie sich eigentlich rächen soll, beschließen wir für heute Feierabend zu machen.
Chris geht nach draußen und kontrolliert den umliegenden Wald nach unerwünschten Besuchern. Sie können das Haus aufgrund meines Schutzzaubers zwar nicht mehr sehen und erreichen, aber wir wollen trotzdem immer noch wissen, was sie überhaupt von uns wollen und wer sie sind.
Ich gehe währenddessen unter die Dusche und wasche den ereignisreichen Tag von meinen Schultern. Danach lege ich mich nur mit Bademantel bekleidet ins Bett und will eigentlich noch auf Chris warten, doch nach wenigen Minuten fallen mir bereits die Augen zu.
Am nächsten Morgen wache ich ziemlich früh auf. Chris liegt neben mir, ein Bein über meines gelegt, die Hand in meinen Haaren verwickelt. Leise und langsam löse ich mich von ihm und schleiche aus dem Zimmer. Ich bin froh, mal wieder eine ganze Nacht ohne Störungen durchgeschlafen zu haben. Seitdem ich als Parapsychologin tätig bin, sind störungsfreie Nächte zur Seltenheit geworden. Anscheinend agiert alles Magische und Paranormale mit Vorliebe nachts!
Ich mache mir meinen geliebten Vanilla Latte und gehe vor die Tür. Es ist noch dunkel draußen und riecht nach feuchtem Gras und Regen. Ich schließe die Augen, wärme meine Hände an der Tasse und konzentriere mich auf die Umgebung. Der Schleier meines Schutzzaubers ist noch stabil, dahinter befindet sich alles in trägem Schlaf. Bis auf ein paar nachtaktive Waldbewohner, die noch auf Futtersuche sind, ist alles ruhig, still und friedlich. Keine Anzeichen einer Ghula oder irgendwelcher Eindringlinge. Wie es scheint, habe nicht nur ich eine erholsame Nacht hinter mir, sondern auch die Elemente und die Geistwesen. Sie schlagen keinen Alarm und wirken nicht beunruhigt.
Nachdem ich meinen Kaffee draußen getrunken habe und meine Beine schon taub vor Kälte sind, gehe ich wieder zurück ins Haus. Auf dem Weg in die Küche fällt mein Blick auf die Kiste, in der die Ghula wer weiß wie lange eingesperrt gewesen ist. Ich stelle meine Tasse ab und fahre mit den Fingern über den eingeschnitzten Spruch im dunklen Holz, als mir plötzlich eine Idee kommt. Vielleicht kann ich die Ghula mithilfe dieser Kiste orten! Normalerweise brauche ich persönliche Gegenstände von Vermissten, um einen Ortungszauber durchzuführen, aber es könnte trotzdem funktionieren. Die Kiste war immerhin längere Zeit ihr Zuhause und ist somit wohl das Persönlichste, was so ein halbdämonisches Wesen besitzen kann.
Mit schnellen Schritten gehe ich ins Arbeitszimmer und krame aus der Schublade am Schreibtisch eines meiner Pendel, sowie eine Karte des Ortes heraus. Dann gehe ich zurück zur Kiste, knie mich neben den Kamin auf den Boden und breite die Straßenkarte vor mir aus. Ich lege die linke Hand auf das Holz und umfasse mit Daumen und Zeigefinger der rechten Hand das Ende des Pendels. Die goldene Kette baumelt wild umher und ich warte, bis der spitze Onyx am anderen Ende ausgeschwungen hat. Sobald das Pendel eine vertikale Linie bildet, beginne ich mit dem Zauber. Ich schließe die Augen und durchbreche die Mauer in meinem Inneren, die mich instinktiv vor den Erinnerungen an die Ghula beschützen will, bis ich sie wieder bildlich vor meinem inneren Auge sehe. Die Hand auf der Kiste kribbelt kalt und ich spüre einen Zug am Pendel.
Es funktioniert!
Ich öffne die Augen, halte das Pendel tiefer über die Karte und lasse mich von seinen Schwingungen leiten, während ich zusehe, wie es mir bekannte Gebiete im Ort überfliegt. Es zieht mich über den Wald und die Landstraße, weiter in Richtung Innenstadt, bis zum westlichen Rand davon, Richtung Fluss. Am Krankenhaus vorbei, bis zur Brücke. Dann wird das Pendel ruckartig aus meinen Fingern gerissen und landet mit einem dumpfen Schlag auf der Karte: Die Spitze des Onyx zeigt direkt auf die Stelle, an der die Brücke mit dem Wehr markiert ist.
„Chris!“, rufe ich bereits, bevor ich mich hochgerappelt habe. „Chris! Ich weiß jetzt, wo die Ghula ist!“
Von oben dringt ein Poltern, dann ein Ächzen. „Was?“
Ich renne die Stufen hoch, stürme ins Schlafzimmer und pralle fast mit Chris zusammen, der neben dem Bett steht. „Ich weiß jetzt, wo die Ghula ist! Sie ist auf der Brücke, bei dem Wehr, in der Nähe des Krankenhauses. Ich habe sie gependelt, mit der Kiste. Wieso bin ich nicht gestern schon auf die Idee gekommen?“, hasple ich, während ich mich an ihm vorbeidränge und im Kleiderschrank nach frischen Klamotten wühle.
Chris braucht nur einen kurzen Moment, um die Dringlichkeit in meiner Stimme zu erkennen. Dann schlüpft er in seine Jeans und reißt ein Shirt vom Kleiderbügel, das er sich in Windeseile über den Kopf zieht.
„Und du bist sicher, dass es die Ghula ist?“, fragt er auf dem Weg ins Bad. „Die Kiste gehörte doch der Hexe, diesem Arthur.“
Mit dem halben Bein in meiner Jeans humple ich hinter ihm her und ziehe sie währenddessen hoch. „Ja, aber der ist tot. Ihn kann ich nicht pendeln.“
„Und wasch isch mit Daphne?“, nuschelt Chris mit der Zahnbürste im Mund und zuckt mit den Schultern.
Ich halte beim Schließen meines BHs inne und denke nach. „Ich… Ich weiß nicht“, gebe ich zu und überlege, ob mich das Pendel vielleicht doch zu der alten Dame und nicht zur Ghula geführt hat. Die Kiste könnte auch Daphnes persönliches Eigentum gewesen sein.
Aber was solls. „Egal. Wenn es Daphne ist, dann kann sie uns vielleicht sagen, auf wen die Ghula es abgesehen hat.“
Chris nickt und spuckt im Waschbecken aus. „Wenn sie das überhaupt will.“
Ich lasse seine Bemerkung unbeantwortet und putze mir selbst rasch die Zähne, während Chris sich ein grün-blau gemustertes Flanellhemd überzieht und dann in seine braunen Lederstiefel schlüpft.
Er geht schonmal nach unten, während ich mir ein Kapuzensweatshirt überziehe und mir meine Bergkristalle in die Hosentasche stecke. Ich überblicke mein kleines Waffenarsenal auf der Kommode neben meinem Nachtschrank, doch da ich nicht weiß, wie ich es mit einer Ghula aufnehmen kann, lasse ich alles an seinem Platz liegen und haste nach unten zu Chris.
Die Sonne schiebt sich gerade schläfrig über den Horizont, als wir über die Landstraße Richtung Innenstadt brettern. Wir sind viel zu schnell unterwegs, aber das ist uns egal. Lieber nehmen wir einen Strafzettel in Kauf, als den Tod eines Menschen durch einen auf Rache programmierten Halbdämon.
Chris drosselt das Tempo zwangsweise, als wir die Innenstadt erreicht haben. Der morgendliche Berufsverkehr hindert uns an der flüssigen Weiterfahrt. Aus allen Seitenstraßen strömen die Autos und Fahrradfahrer, ein paar Fußgänger drängeln sich frech durch die wartenden Autos und begegnen dem aufkommenden Hupkonzert mit hochgehaltener Hand oder Kopfschütteln.
Nach wenigen Minuten reicht es Chris und er schert über den Fußweg aus, fährt hundert Meter darüber und biegt in eine Seitenstraße ein, die weniger befahren ist, aber einen Umweg bedeutet. Ich denke darüber nach, dass dieses menschliche Hindernis des morgendlichen Berufsverkehrs keines wäre, wenn ich das Amt der Hexenkönigin behalten hätte. Denn leider habe ich als Druidenhexe nicht die Macht, um uns einfach von A nach B zu teleportieren.
Wir überqueren eine weiter flussabwärts gelegene Brücke und fahren am Flussufer entlang hoch zum Wehr. Der Himmel hat eine leuchtend orange Färbung angenommen, die nach Westen hin in zartes Babyblau übergeht. Dichte Nebelschwaden steigen vom Fluss auf und morgendlicher Tau haftet wie verstreuter Glitzer an den krautigen Spitzen der Uferböschung.
Es könnte ein wunderschöner Herbstmorgen sein, wäre da nicht die lauernde Gefahr dämonischen Ursprungs, die wie ein übler Geruch in der Luft hängt und mir eine Gänsehaut bereitet, je näher wir dem Wehr und der Brücke kommen.
„Da ist die Brücke!“, rufe ich gegen das tosende Wasser an, das immer lauter und lauter wird, als ich die Brüstung durch den grauen Nebel ausmachen kann.
Chris tritt noch einmal aufs Gas und poltert über die Böschung hinaus auf die Straße. Er reißt am Lenkrad, der Transporter schliddert, schert mit quietschenden Reifen hinten aus und bleibt direkt vor der Brücke stehen, sodass wir beide Fahrbahnseiten blockieren.
Noch bevor er den Motor abstellt, springe ich bereits aus dem Wagen und renne durch die dichten Nebelschwaden auf die Brücke. Jemand steht an der Brüstung und mein Herz setzt ein paar Schläge aus. Noch kann ich nicht erkennen, ob es Daphne, die tintenfischartige Ghula oder ein unbeteiligter Mensch ist.
„Hey!“, rufe ich über das laute Rauschen des Wehrs hinweg, doch die Gestalt reagiert nicht.
„Scarlett!“ Ich höre Chris hinter mir, dann erreicht er mich und greift nach meinem Arm. „Sei vorsichtig!“, mahnt er mich leise und zusammen nähern wir uns der im feuchten Nebel verborgenen Silhouette.
Chris bewegt sich wie ein Raubtier, das seine Beute anvisiert. Noch hat er sich nicht verwandelt, da wir nicht wissen, wer oder was dort an der Brüstung steht, aber er ist kurz davor. Auch ich merke die Anspannung in Form von Blitzen in meiner rechten Hand und schiebe sie deshalb in meine Hosentasche, wo meine Finger den Bergkristall umschließen.
Schritt für Schritt nähern wir uns. Das Wehr versprüht einen eiskalten Wassernebel, der unsere Kleidung durchdringt und meinen Körper zum Zittern bringt. In Chris´ linker Hand liegt ein mit Sigillen gravierter, antiquarischer Dolch, eine Art Universalwaffe gegen Dämonen, die er nun hinter seinem Rücken verbirgt.
„Hallo?“, ruft Chris der Gestalt zu, als uns nur noch wenige Meter trennen.
Wind peitscht um uns herum und lichtet für einen kurzen Moment den Nebel, sodass wir die Silhouette als Menschen erkennen können. Ich seufze erleichtert, doch Chris gibt seine Angriffshaltung noch nicht auf, auch wenn vor uns eindeutig ein menschliches Wesen in einer dunklen Kapuzenjacke steht.
„Geht es Ihnen gut? Ist alles okay?“, frage ich, doch ich bekomme keine Reaktion.
Wir schließen zwei weitere schleichende Schritte auf und erst, als aus Chris´ Kehle ein Knurren dringt, wendet die Gestalt langsam den Kopf in unsere Richtung.
Schulterlanges, feuchtes Haar weht wild aus den Seiten der Kapuze heraus und ein emotionsloses Gesicht schaut uns an. Chris verstärkt den Griff an meinem Arm und hindert mich so daran, auf die Frau zuzulaufen. Sie ist schon älter, sicherlich so um die sechzig Jahre. Tiefe Falten ziehen sich von den Seiten ihrer Nasenflügel hinunter zu den Mundwinkeln. Ihre Augen sind von einem matten Grau-Blau, wirken müde und abgespannt. Der Wind weht ihre Jacke auf und ich sehe einen durchnässten weißen Kittel darunter.
„Sie ist Krankenschwester!“, sage ich zu Chris, ohne den Blick von der Frau zu nehmen.
„Nein, nicht mehr“, antwortet er grollend und vollzieht seine Verwandlung.
Dann geht alles ganz schnell.
Chris setzt zum Sprung auf die Frau an, doch ich halte ihn am Arm zurück und schreie irgendwas, das aber im Tosen des Wehrs untergeht. Er zögert knurrend für einen winzigen Augenblick und die Frau öffnet ihren Mund. Es kommt kein Ton heraus, dennoch sieht es so aus, als würde sie schreien. Ihr Unterkiefer rutscht aus dem Gelenk und ihr stummer Schrei nimmt unmenschliche Züge an. Die Mundwinkel reißen und bluten, ihre Zahnprothese löst sich, schiebt sich durch ihre Lippen und fällt zu Boden.
Chris setzt erneut zum Sprung an und diesmal lasse ich ihn gewähren. Während er springt, bewegt sich die Welt im Zeitlupentempo. Die Krankenschwester schiebt ein Bein über die Brüstung und setzt sich rittlings auf den nasskalten Stahl. Aus ihren Augenhöhlen rutschen ölig schwarze Tentakel, während ihr zahnloser, stummer Schrei ihr Gesicht so weit einreißen lässt, dass es horizontal gespalten wird. Ihr Unterkiefer baumelt als blutiger Lappen mit hufeisenförmigem Kieferkamm vor ihrem Hals, ihre Zunge zappelt wie ein halbtoter Fisch. Blut durchtränkt den gestärkten Baumwollstoff ihres weißen Kittels und plötzlich schlängeln aus ihrer aufgerissenen Kehle weitere schwarze Tentakel heraus.
Dann lässt sie sich zur Wasserseite hin über die Brüstung fallen.
Chris streckt im Sprung noch die Pranke nach ihr aus, doch er verfehlt sie um wenige Millimeter. Er prallt gegen das metallene Gitter und ich mit ihm, obwohl ich mich nicht daran erinnern kann, mich bewegt zu haben. Zusammen schauen wir durch die Gitterstäbe, wo der Körper der Frau rücklings auf die Betonkante knallt und sofort von den Wassermassen mitgerissen wird. Sie taucht unter, kommt bäuchlings wieder hoch und wird dann vom Strudel wieder in die Tiefe gezogen. Das Wasser um sie herum färbt sich blutrot und schwarz, bis der Nebel uns die Sicht darauf nimmt und alles zu verschlucken scheint.
„Nein!“, schreit Chris und schlägt mit der Faust gegen die Brüstung, sodass der Stahl vibriert. „Nein, verdammt! Das hätte nicht passieren dürfen! So hätte es nicht laufen sollen!“