Читать книгу Scarlett Taylor - Libelle - Stefanie Purle - Страница 5
Kapitel 2
ОглавлениеNach unserem Gespräch verlassen wir in entgegengesetzte Richtungen das Eiscafé. Da der Regen stärker geworden ist, bot Elvira mir an, mich nach Hause zu fahren, doch ich lehnte ab. Ich halte es keine Sekunde länger in einem geschlossenen Raum mit ihr aus. Es war schon schwer genug, die restlichen Minuten mit ihr an einem Tisch zu sitzen.
Vielleicht übertreibe ich auch, aber im Moment fühlt sich der heimlich geplante Umzug meiner Mutter und Tante wie ein Verrat an. Dabei geht es gar nicht so sehr darum, dass sie in einen anderen Ort ziehen. Mein eigentliches Problem ist der Grund dafür! Sie beide fliehen vor mir und meinesgleichen, und allem was dazugehört.
Von meiner Mutter hätte ich sowas erwartet, denn seit ihrem Erwachen ist sie nicht mehr dieselbe. Von der mutigen und lebenslustigen Frau von damals ist nichts mehr übrig. Dass sie wegziehen möchte, wundert mich nicht. Aber Elvira? Sie ist im Ort bekannt wie ein bunter Hund, jeder mag und schätzt sie. Als Parapsychologin war sie eine Berühmtheit! Wenn ich allein an all die Fotos im Booh denke, die sie mit ihrem Team an den unterschiedlichsten Orten zeigen! Doch all das wirft sie jetzt weg…
Der Regen wird immer stärker und ich ziehe die Kapuze meines Mantels tiefer ins Gesicht. Es ist bitterkalt, aber das ist mir nun egal. Das Wetter passt zu meiner aktuellen Stimmung.
Ich biege in die Straße ein, in dessen Mitte das Booh liegt, als ich ein seltsames Gefühl im Nacken bekomme. Die Dämmerung hat bereits eingesetzt und es sind kaum Autos auf der Straße zu sehen, und Fußgänger erst recht nicht, doch irgendwie fühle ich mich beobachtet.
Ohne meine Schritte zu entschleunigen, blicke ich mich verborgen unter meiner Kapuze um. Niemand ist zu sehen, auch in den hell erleuchteten Fenstern der Häuser kann ich niemanden ausmachen, der mich beobachtet. Der Regen ist laut, er prasselt unaufhörlich trommelnd auf die Dächer parkender Autos und schlägt Blasen in den Pfützen. Ich kann nicht hören, ob Schritte hinter mir sind oder nicht. Also bleibe ich abrupt stehen und wirble herum, nur zur Sicherheit.
Aber hinter mir ist niemand auf dem Bürgersteig. Allerdings sehe ich ein unbeleuchtetes schwarzes Fahrzeug, das sich hinter die Reihe parkender Autos am Straßenrand einreiht. Automatisch gleitet meine Hand über die Seitentasche meiner Jeans, wo ich mein Klappmesser durch den tropfnassen Stoff ertaste. Aus dem Fahrzeug steigt niemand aus und ich überlege, ob ich umkehre und nachsehe, wer oder was sich in dem Wagen verbirgt. Doch ich entscheide mich dagegen und setze meinen Weg fort, diesmal aber wachsamer.
Ich habe das Booh fast erreicht, als ich mich ein weiteres Mal umdrehe und zu meinem Schrecken sehe, dass das schwarze Fahrzeug ohne Licht nur knapp dreißig Meter von mir entfernt ist. Beinahe geräuschlos verfolgt es mich im Schritttempo.
Schnell schaue ich wieder nach vorne und verhalte mich, als hätte ich nichts bemerkt. Wer auch immer mir da hinterherfährt, soll nicht wissen, dass ich ihn bemerkt habe. Doch zum Booh gehe ich nun nicht mehr. Stattdessen laufe ich einfach weiter, stets in dem Bewusstsein, dass das dunkle Auto mir folgt, bis ich schließlich an einem Laden mit Handarbeitswaren ankomme und einfach hineingehe.
„Guten Abend“, begrüßt mich eine weibliche Stimme gegen den Klang eines Türglöckchens und ich blinzle den Regen von meinen Wimpern weg. „Wir schließen gleich, tut mir leid.“
Ich streife die Kapuze ab und bleibe auf der Fußmatte hinter der Eingangstür stehen. Die Frau mittleren Alters zählt gerade das Kleingeld aus der Kasse und wirkt sichtlich beunruhigt.
„Ich will auch nichts kaufen“, sage ich und wage den ersten Blick hinaus, zurück auf die Straße. „Bin auch gleich wieder verschwunden.“
Sie schließt die Kasse mitten im Zählvorgang und ruft nach hinten. „Benny? Komm doch mal!“, zittert ihre Stimme.
„Keine Sorge, ich bin gleich wieder weg“, versuche ich sie zu beruhigen, als ich den schwarzen Wagen langsam am Handarbeitsladen vorbeifahren sehe.
„Was ist denn?“, antwortet eine männliche Stimme genervt.
Ich drehe mich zu den beiden um und der Mann, offenbar Benny, zieht scharf die Luft ein, als er mein Gesicht erblickt.
„Wie schon gesagt, ich bin sofort wieder verschwunden“, sage ich nun schon zum dritten Mal und ignoriere dabei die Reaktion des Mannes auf den Anblick meiner tiefen Narbe.
Als ich ein weiteres Mal nach draußen blicke, ist der Wagen verschwunden.
„Sehen Sie, schon bin ich wieder weg!“, sage ich, drücke die Klinke herunter, woraufhin die Glocke wieder bimmelt.
Ich husche hinaus, zurück in den Regen und blicke die Straße hinunter. Der schwarze Wagen fährt im Schritttempo ohne Licht rund hundert Meter vor mir. Die hinteren Scheiben sind schwarz getönt, wie ich nun erkenne, sodass ich nicht sehen kann, wer oder wie viele sich darin befinden. Die Bremslichter leuchten auf und ich gehe in normalem Tempo den Bürgersteig entlang auf ihn zu. Das Messer in meiner Tasche drückt sich beruhigend gegen meinen Oberschenkel und verleiht meinen Schritten mehr Festigkeit, während ich weiterhin so tue, als hätte ich meinen Verfolger nicht ohne Unterbrechung im Blick.
Als uns noch rund zwanzig Meter trennen und mein Herz mir bereits bis zum Halse schlägt, fährt der Wagen weiter. Ich versuche mir noch schnell sein Kennzeichen und das Modell einzuprägen, doch da weder Marke noch Typ auf dem Wagen stehen, kann ich mir nur die Form merken. Nach wenigen Metern biegt er ab und ist aus meinem Sichtfeld verschwunden.
Ich überlege, nun doch noch zum Booh zu gehen, entscheide mich aber schließlich dagegen. Stattdessen nehme ich Abkürzungen querfeldein, die nur ein Ortsansässiger kennen kann und gelange so nach wenigen Minuten zum Wald. Im Schutz der fast blattlosen Baumkronen ist der Regen weniger schlimm. Ich nehme meine Kapuze vom Kopf und renne den Weg zu Chris´ Anwesen.
Sobald ich im Haus bin und mich meiner nassen Sachen entledigt habe, schreibe ich Chris eine SMS. Er ist mit ein paar Teammitgliedern im Booh und rechnet damit, dass ich nach meinem Treffen mit Elvira nachkomme.
Bin schon Zuhause. Nehme jetzt erstmal ein Bad, bin total durchgefroren. Bis später, liebe dich!
Von dem Verfolger sage ich nichts, da Chris sich sonst nur unnötig Sorgen machen würde. Es reicht auch, wenn er davon erfährt, sobald er Zuhause ist. Wahrscheinlich war es eh nur ein Ortsfremder, der nach einer Adresse suchte. Aber dennoch, Vorsicht ist besser als Nachsicht.
Ich lasse mir Badewasser ein, während das Gespräch mit Elvira sich in meinen Gedanken immer wieder abspielt. So wirklich ist die ganze Tragweite ihrer Ankündigung noch nicht zu mir durchgedrungen. Ich werde sie nicht mehr einfach so besuchen können. Auch Mama werde ich nicht mehr sehen können, außer ich setze mich ins Auto und fahre ein paar Stunden. Spontan bei Elvira vorbeikommen, um sie nach Rat zu fragen, ist dann nicht mehr möglich. Bin ich überhaupt schon bereit, das Parapsychologen-Büro ganz allein zu führen? Es rufen noch so viele Kunden an und verlangen explizit nach Elvira, weil sie ihnen früher schon einmal geholfen hat und sie ihr vertrauen. Sie hat zwar seit Mamas Erwachen an keinem Fall mehr mitgearbeitet, aber ich bin so oft zu ihr hochgegangen, um sie nach alten Fällen zu befragen.
War das vielleicht ein Fehler? Habe ich sie, obwohl sie sich von dem Business distanzieren wollte, zu sehr involviert? Trage ich einen Teil dazu bei, dass sie nun die Flucht antritt?
Und was ist mit dem Büro? Soll ich wirklich alle Akten in Chris´ Arbeitszimmer bringen und von nun an dort alles managen? Ich fand es eigentlich immer gut so wie es war. Wenn ich die Tür vom Reisebüro hinter mir schloss, konnte ich auch einen Teil der Sorgen und Aufgaben dahinter verschließen und hatte so etwas mehr Abstand. Wenn das Büro sich aber in Chris´ Arbeitszimmer befindet und ich das Telefon ständig klingeln höre, dann habe ich sicherlich niemals Feierabend!
Das Wasser in der Badewanne ist nur noch lauwarm und auch der meiste Schaum ist verschwunden, weswegen ich widerwillig aussteige und mich schnell in meinen Plüsch-Bademantel hülle. Meine Beine sind durch die Wärme ganz rot geworden und es geht mir schon etwas besser, wenn sich auch die Gedanken an Elvira und Mama wie Eiswürfel in meinem Bauch anfühlen.
Ich gehe ins Schlafzimmer und lege mich unter die dicken Daunendecken, wo ich mir ein Buch nehme und versuche, mich etwas abzulenken, bis Chris vom Booh zurückkommt. Draußen tobt der Wind in den Baumwipfeln und huscht jaulend ums Haus herum. Die Spitzen der hohen Tannen biegen sich bedrohlich hin und her, während der Regen in dicken Tropfen gegen die Scheibe prasselt.
Ich sitze im Bett, das Buch geöffnet auf meinem Schoß und kann an nichts anderes denken, als an den baldigen Verlust von zwei der wichtigsten Frauen in meinem Leben. Ohne auch nur ein Wort gelesen zu haben, sackt irgendwann mein Kopf gegen die Rückenlehne des Bettes und das monotone Prasseln des Regens geleitet mich in einen traumlosen Halbschlaf.