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D. Befähigung zur Verteidigung in Kapitalstrafsachen

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Das Schwurgerichtsmandat ist besondere Bürde und Herausforderung zugleich. Seit Einführung des Fachanwalts für Strafrecht und Inkrafttreten der Fachanwaltsordnung (FO)[1] im Frühjahr 1997 ist die Verteidigung in Schwurgerichtsverfahren auch offiziell fester Bestandteil anwaltlicher Aus- und Weiterbildung. In einem so schwierigen und gewichtigen Wirkungskreis, in dem es oft genug um lebenslange Haftstrafe, Unterbringung in einem psychiatrischen Krankenhaus oder Sicherungsverwahrung geht, war ein solcher Schritt zur Eindämmung fundamentaler Wissens- und Erfahrungsdefizite längst überfällig.

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Sieht man einmal von Ballungszentren wie Berlin, Bremen, Dortmund, Hamburg, München oder Frankfurt/M. ab, werden in einer durchschnittlichen Großstadt mit über 200.000 Einwohnern alljährlich selten mehr als ein bis zwei Dutzend vorsätzliche vollendete Tötungsdelikte registriert[2]. Entsprechend niedrig ist auch die Anzahl der zu den Schwurgerichten erhobenen Mord- oder Totschlagsanklagen. Im Jahr 2010 wurden bundesweit „lediglich“ 217 Personen wegen vollendeten Mordes, 112 wegen versuchten Mordes, 469 wegen Totschlags (einschließlich Versuchs) und 73 wegen Körperverletzung mit Todesfolge abgeurteilt[3], darunter waren immerhin rund 44 Freisprüche[4]. Die Wahrscheinlichkeit, in einem dieser Fälle als Verteidiger beauftragt oder bestellt zu werden, ist folglich – rein statistisch betrachtet – alles andere als hoch. Es mangelt nicht nur dem Berufseinsteiger auf diesem speziellen Sektor an Gelegenheiten, sein theoretisches Grundwissen praktisch anzuwenden und zu vertiefen sowie profunde neue Erfahrungen und Kenntnisse zu sammeln. Die Chance, sich am authentischen Fall fortzubilden und zu erproben, schrumpft zudem angesichts einer kleinen Gruppe überregional gefragter Strafverteidiger, die zumindest die spektakulären Fälle – zumal mit prominenten oder besonders betuchten Beschuldigten – unter sich aufzuteilen scheinen.

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Doch das in der Öffentlichkeit verfestigte Bild vom allgegenwärtigen „Starverteidiger“, der von einem Sensationsprozess zum anderen eilt, trügt. Die verfügbaren knappen empirischen Daten lassen den vorsichtigen Schluss zu, dass in unseren Schwurgerichtssälen nicht einige wenige versierte Monopolisten dominieren[5], sondern in der Mehrheit „Allround-Anwälte“, die, ob vom Gericht beigeordnet oder vom Beschuldigten hinzugezogen, zwar analytische Fähigkeiten und Engagement mitbringen, aber längst nicht immer über ausreichende Routine und spezielles Know-how in der Verteidigung von Totschlagsverdächtigen verfügen dürften. Manch einer dieser „Generalisten“ ist vielleicht rückschauend auf eine glücklose Verteidigung nachdenklich und voller Selbstzweifel, er habe ein äußerst kniffliges Schwurgerichtsmandat womöglich allzu unbekümmert übernommen und fatalerweise trotz aufkeimenden Unbehagens im Alleingang zu Ende geführt.

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Unprofessionelle Betreuung wirkt sich extrem verheerend im Anfangsstadium des Verfahrens aus, in dem der Tatverdächtige besonders schutzbedürftig ist. Die unbedarfte Empfehlung, den Verhörspezialisten der MoKo oder dem vom Staatsanwalt beauftragten Psycho-Gutachter in der Exploration vorbehaltlos Rede und Antwort zu stehen, ist womöglich eine der Todsünden, die im Einzelfall später kaum mehr wieder gutzumachen sind. Aber auch in der Hauptverhandlung zu verzeichnende Versäumnisse und Fehleinschätzungen des Verteidigers, die zuweilen mit großer Rat- und Konzeptionslosigkeit einhergehen, bleiben nicht folgenlos. Vielleicht erst der in letzter Not konsultierte Revisionsspezialist oder noch später der Wiederaufnahmeexperte erkennen beim Aktenstudium, dass schwere Verteidigungsmängel zu einer vermeidbar harten Bestrafung, wenn nicht sogar zur Verurteilung eines womöglich Unschuldigen beigesteuert haben.

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Anwälte, die nie einen Schwurgerichtssaal von innen erblickt haben, übersehen leicht die mit der Mandatsübernahme verknüpfte besondere Verantwortung und Belastung:

Überdurchschnittlicher administrativer Aufwand.
Große zeitliche Opfer durch Betreuung des inhaftierten Mandanten und seiner Angehörigen.
Intensives Studium voluminöser Akten und Sichtung von Fachliteratur.
Notwendigkeit eigener zeitraubender Ermittlungsbemühungen.
Beträchtliche Anzahl und Dauer von Hauptverhandlungsterminen.
Hohe emotionale Belastung (Fotos, Tatschilderung, Leid der Hinterbliebenen).
Persönliche Anfeindungen seitens der Nebenkläger.
Medienrummel u.U. mit Verteidigerschelte.
Vergütungsdefizite.
Verheerende Folgen bei Fehlbeurteilungen und -entscheidungen.

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Durchweg steht in Mord- und Totschlagsfällen nur eine einzige Tatsacheninstanz zur Verfügung. Die Verteidigung muss also stets auch mit Blick auf eine Revision zum BGH geführt werden. Ob die Verletzung von Verfahrensvorschriften später mit Erfolg gerügt werden kann, hängt vielfach davon ab, ob der Verteidiger den Vorgaben des BGH folgend schon in der Hauptverhandlung das vermeintlich fehlerhafte Vorgehen des Gerichts formell beanstandet und da, wo es erforderlich ist, „wirksam“ widersprochen hat. Das erfordert mitunter neben soliden Rechtskenntnissen auch Geistesgegenwart. Traurig aber wahr: Der Verteidiger kann noch in der Hauptverhandlung zum Schaden des Angeklagten Verfahrensrügen durch unzureichende Sachkunde oder Schlafmützigkeit ein für alle Mal verwirken, wenn er da, wo es geboten wäre, verspätet oder gar nicht interveniert. Die Verantwortung des Strafverteidigers ist in den letzten Jahren stetig gewachsen; das künftige Schicksal des Angeklagten liegt zunehmend in dessen Hand. Der Angeklagte ist mehr denn je von den Fähigkeiten seines Verteidigers abhängig. Oder anders gewendet, ist der Angeklagte vor allem in Schwurgerichtsverfahren mit den denkbar härtesten Sanktionsmöglichkeiten durch Wissens- oder Erfahrungsdefizite seines Verteidigers unmittelbar und existenziell bedroht.

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Was hindert einen von den Angehörigen oder dem Beschuldigten „ausgewählten“ Anwalt, angesichts eigener Praxisferne und Zeitnot oder in Ermangelung revisionsrechtlicher Grundkenntnisse ein Schwurgerichtsmandat von vornherein abzulehnen? Aus dem Medizinrecht kennen wir den Begriff des Übernahmeverschuldens; der Arzt handelt fahrlässig schuldhaft, wenn er eine Tätigkeit vornimmt, obwohl er weiß (bewusste Fahrlässigkeit) oder erkennen kann (unbewusste Fahrlässigkeit), dass ihm die dafür erforderlichen Kenntnisse fehlen[6].

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Die Fürsorgepflicht kann es geradezu gebieten, den Rechtsuchenden an einen erfahrenen Fachkollegen zu verweisen oder zumindest für sachkundige Sekundanz zu sorgen[7]. Natürlich geht es dem Anwalt, den die ersten verzweifelten Hilferufe erreichen, zunächst darum, seinen langjährigen Mandanten oder dessen ratsuchende Angehörige, die man bisher im Zivil- oder Familienrecht betreut oder in einer Führerscheinsache verteidigt hat, in einer äußerst schwierigen Lage nicht im Stich zu lassen. Womöglich verleitet aber auch die Hoffnung, mit diesem Fall „ganz groß herauszukommen“, dazu, die eigenen Kräfte und Grenzen zu überschätzen.

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Für den Pflichtverteidiger gilt Entsprechendes. Üblicherweise fragt das Gericht vor der Bestellung an, ob man bereit und zeitlich imstande sei, das Pflichtmandat zu übernehmen. Doch auch der ungefragt oder sogar gegen seinen erklärten Wunsch in einem Mordfall beigeordnete Offizialverteidiger sollte sich stets seine besondere Verantwortung für das Schicksal des Tatverdächtigen vor Augen halten. Er darf zwar die Mandatsübernahme grundsätzlich nicht verweigern (§ 49 BRAO), ist aber gem. § 49 Abs. 2 i.V.m. § 48 Abs. 2 BRAO berechtigt, seine Entpflichtung zu verlangen, wenn dafür schwerwiegende Gründe sprechen[8]. Davon ist auszugehen, wenn er sich fachlich und vielleicht auch zeitlich überfordert fühlt oder angesichts der Schwere und der Begleitumstände des Delikts starke innere Barrieren verspürt, die Verteidigung mit dem gebotenen Engagement zu führen.

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Eine kritische Selbsteinschätzung des Anwalts ist nicht erst in seltenen Extremfällen mit vielen Toten und Verletzten gefordert. Die Wahrscheinlichkeit, als Anwalt mit der Pflichtverteidigung eines eiskalten Serienmörders, eines verblendeten Selbstmordattentäters, eines blindwütigen Amokläufers oder eines mehrfach mordverdächtigen Links- oder Rechtsterroristen betraut zu werden, ist ohnehin nahezu Null. Aber schon in ganz „normalen“ Mordfällen, die nicht unbedingt ein Höchstmaß an professioneller Distanz und Abgeklärtheit beanspruchen, sollte der erstmalig in einer Kapitalstrafsache beauftragte Verteidiger gewissenhaft prüfen, ob er sich den fachlichen Anforderungen und emotionalen Belastungen, die das Mandat mit sich bringt, in jeder Hinsicht gewachsen fühlt, wie umgekehrt auch ein Gericht bei der Auswahl des Pflichtverteidigers in Mord- und Totschlagsfällen über begründete Zweifel hinsichtlich der Qualifikation und praktischen Erfahrung eines Anwalts nicht einfach hinwegsehen sollte.

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Durch die am 01.01.2010 in Kraft getretene Neuregelung zur Pflichtverteidigerbestellung ist ein zusätzliches Problem entstanden, als jetzt gem. § 140 Abs. 1 Nr. 4 StPO i.V.m. § 141 Abs. 3 und 4 StPO zu einem sehr frühen Zeitpunkt der Amtsrichter als Ermittlungsrichter, der den Haftbefehl zu erlassen (§ 125 StPO) und den Tatverdächtigen über den Gegenstand der Beschuldigung zu vernehmen hat (§ 115 Abs. 2 StPO), von Amts wegen einen Pflichtverteidiger bestellt, sobald gegen einen Beschuldigten Untersuchungshaft oder einstweilige Unterbringung vollzogen wird. Zwar ist dem Beschuldigten vorab Gelegenheit zu geben, einen bestimmten Verteidiger vorzuschlagen (§ 142 Abs. 1 StPO). Ist der Beschuldigte nach seiner Festnahme außerstande, aus dem Stegreif einen qualifizierten „Wunschverteidiger“ zu benennen, oder sieht der Ermittlungsrichter Veranlassung, dem Vorschlag des Beschuldigten nicht zu folgen, steht zu befürchten, dass der Amtsrichter sogleich den nächstbesten, am Ort des AG kanzleiansässigen Generalisten beiordnet, der womöglich noch nie einen Schwurgerichtssaal betreten hat und der, konzeptionslos, konfliktscheu oder auf seinen guten Ruf bedacht, vorschnell zu einem monströsen Geständnis rät. Bevor der Beschuldigte dann in die weiter entfernt gelegene Haftanstalt gebracht wird und dort erstmals durch Mithäftlinge von Fachanwälten für Strafrecht erfährt, die womöglich schon häufiger und wenn auch nicht immer „mit Erfolg“, so doch zumindest zur Zufriedenheit ihrer Schutzbefohlenen in Mord- und Totschlagsverfahren verteidigt oder sich sogar aufs Kapitalstrafrecht spezialisiert haben, sind die entscheidenden Weichen längst gestellt. Jedenfalls birgt das, was vielfach als Fortschritt gepriesen wird, durchaus neue Gefahren. Solche Befürchtungen sind keineswegs rein theoretischer Natur, wie das noch näher darzustellende Verfahren um den im November 2010 an zwei Schülern verübten „Doppelmord in Bodenfelde“ zeigt. Mit dem jungen Pflichtanwalt an seiner Seite, hat sich der Tatverdächtige durch äußerst freimütige Angaben schon frühzeitig sämtlicher Verteidigungschancen begeben[9].

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Dem BGH ist zuzugeben, dass es keinen Rechtssatz gibt, wonach bei Verfahren wegen Mordes und Totschlags grundsätzlich nur Fachanwälte für Strafrecht als Verteidiger bestellt werden können, und dass auch keine forensischen Erfahrung besteht, die Verteidigung werde „regelmäßig“ weniger sachgerecht geführt, wenn der Verteidiger kein Fachanwalt für Strafrecht ist[10]. Die Einführung des Fachanwalts für Strafrecht wäre allerdings blanke Augenwischerei, wenn der Rechtsuchende von Verteidigern mit entsprechender Qualifikation nicht mehr erwarten dürfte, als von jedem anderen „Generalisten“ auch.

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Da die auf § 140 Abs. 1 Nr. 4 StPO gestützte Beiordnung des Verteidigers u.U. auch über die Haftentlassung des Tatverdächtigen hinaus fortgilt (§ 140 Abs. 3 StPO), sollten in Kapitalstrafsachen nach Möglichkeit in erster Linie zur Übernahme von Pflichtmandaten bereite Fachanwälte für Strafrecht als Pflichtverteidiger herangezogen werden. Man kann deshalb nur an die Richterschaft appellieren, in Mord- und Totschlagsverfahren möglichst keinen Gelegenheitsverteidiger beizuordnen, der unter Umständen mehr auf seinen eigenen Ruf bedacht sein muss als auf eine streng an den Interessen eines Beschuldigten orientierte Verteidigung seines Schutzbefohlenen. Neben einem fundierten Fortbildungsangebot und der Fachanwaltsqualifikation ist „Einsteigern mit Schwurgerichtsambitionen“ auf lange Sicht mehr Möglichkeit zu bieten, praktische Schwurgerichtserfahrungen an der Seite eines gestandenen Fachanwalts zu erwerben. Die finanziellen und organisatorischen Voraussetzungen hierfür wären freilich erst noch zu schaffen. Schwurgerichtsvorsitzende könnten den Anfang machen und mehr Großzügigkeit walten lassen, wenn in einem nicht ganz einfach gelagerten Mordverfahren die Bitte geäußert wird, einen zweiten, vom Beschuldigten benannten Assistenzverteidiger beizuordnen.

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