Читать книгу Verteidigung in Mord- und Totschlagsverfahren - Steffen Stern - Страница 72
ОглавлениеTeil 1 Einführung › E. Rechtstatsachen zur Effizienz des Pflichtverteidigers
E. Rechtstatsachen zur Effizienz des Pflichtverteidigers
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Sessar[1] hat 1981 aufschlussreiche empirische Daten zur Verteidigungssituation im Bereich der Tötungsdelinquenz erhoben. Er hat nachgewiesen, dass Gerichte eher von der Mordanklage zugunsten minder schwerer Tatbestände abgewichen sind, wenn sich der Beschuldigte eines Wahlverteidigers bedient hat. Bei vollendetem Mord lag der Pflichtverteidiger im Durchschnitt um 25 % „schlechter“ als die Gruppe der gewählten Verteidiger[2]. Vergleichsweise weniger lebenslange und mehr Bewährungsstrafen können die Wahlverteidiger gegenüber den Offizialverteidigern verbuchen. Nur 28 % der von Wahlverteidigern vertretenen, aber 51 % der Angeklagten mit Pflichtverteidigern erhielten Freiheitsstrafen von mehr als 5 Jahren[3]. Die Benachteiligung gegenüber einem Wahlverteidigten trifft auch nicht alle Schichten gleichermaßen: Auf einen Pflichtverteidiger angewiesen sind vornehmlich soziale Randgruppen (58 %) und Angehörige der Unterschicht (51 %), während nur 20 % aller Beschuldigten der unteren Mittelschicht und lediglich 7 % der mittleren Mittelschicht eines Offizialverteidigers bedürfen[4].
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Über die Gründe der auch in amerikanischen Studien[5] vorzufindenden Leistungsunterschiede besteht keine letzte Klarheit. Vogtherr sieht einen der Gründe für das Effizienzdefizit des Pflichtverteidigers in seiner vergleichsweise späten Hinzuziehung[6]. In Kapitalstrafverfahren, die regelmäßig mit der Inhaftierung des Tatverdächtigen einhergehen, erscheint es mit Blick auf die Schwere und Tragweite des Tatvorwurfs ein Gebot der Verfahrensfairness, dem unverteidigten Beschuldigten von der ersten Minute an einen Anwalt beizuordnen. In der Praxis werden jedoch vorläufig festgenommene Totschlagsverdächtige nicht selten über Stunden hinweg verhört, ohne einen Verteidiger hinzuzuziehen. Das erscheint besonders bedenklich bei Ausländern, die der deutschen Sprache nicht hinreichend mächtig sind und eines Dolmetschers bedürfen. Auch in Schwurgerichtsverfahren erfolgte bislang die Beiordnung eines Offizialverteidigers mitunter erst nach Monaten. Zurückzuführen war dies auf die fragwürdige Regelung des § 141 Abs. 3 S. 2 StPO a.F. und ihre überzogen engherzige Auslegung. Im Vorverfahren konnte der Verteidiger bislang generell nur auf Antrag der StA bestellt werden. Der Staatsanwalt blieb jedoch mitunter selbst in Totschlagsfällen allzu lange untätig. Für Haftfälle galt allein die 3-Monats-Höchstfrist des § 140 Abs. 1 Nr. 5 StPO. Das Fehlen einer mit der Vorschrift des § 140 Abs. 1 Nr. 4 StPO n.F.[7] vergleichbaren Regelung bewirkte ein Übriges. Manch Mittelloser musste erst durch Mithäftlinge oder Angehörige bedrängt werden, endlich selbst die Initiative zu ergreifen und einen Verteidiger ausfindig zu machen, der das Mandat in der Erwartung übernimmt, demnächst als Pflichtverteidiger bestellt zu werden. So wundert es kaum, dass es sich bei den Pflichtverteidigern in Schwurgerichtsverfahren in einer Vielzahl um Statuswechsler[8] handelte, d.h. um zunächst wirksam bevollmächtigte Wahlverteidiger, die im Einvernehmen mit dem Beschuldigten – zur Gebührensicherung – auf eigenen Antrag hin später gerichtlich bestellt und üblicherweise als Wahlpflichtverteidiger bezeichnet werden.
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Ob sich die Verhältnisse durch die Neuregelung des § 140 Abs. 1 Nr. 4 StPO nachhaltig bessern, bleibt abzuwarten. Zweifel sind schon deshalb berechtigt, weil nach dem Gesetzeswortlaut mit der Bestellung eines Pflichtverteidigers bis zur Vollstreckung der Untersuchungshaft gewartet werden kann. Die der Haftbefehlsverkündung vorangestellte polizeiliche oder richterliche Vernehmung findet demgemäß auch heute noch viel zu oft ohne Verteidiger statt.
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Zum Teil ist die scheinbar geringere Leistungsbereitschaft und Leistungsfähigkeit des Pflichtverteidigers gewiss auch aus dem Fehlen wirtschaftlicher Anreize und seiner Ohnmacht erklärbar, Beweiserhebungen zugunsten des mittellosen Mandanten zu erzwingen. Ungeachtet deutlicher Verbesserungen erhält der Offizialverteidiger nach Maßgabe des RVG keine vollkommen leistungsgerechte Vergütung[9]. Zwar werden auch Haftprüfungs- oder kommissarische Vernehmungstermine vergütet (Nrn. 4102/4103 VV RVG); Haftzuschläge werden für jeden Hauptverhandlungstag gewährt (Nr. 4121 VV RVG) und besonders zeitaufwendige Sitzungstage lösen weitere Zeitzuschläge aus (Nrn. 4122/4123 VV RVG). Für zeitraubende Mandantenbesuche in der JVA, ausgefeilte Haftbeschwerden oder anwaltliche Ermittlungen gibt es aber kein gesondertes Honorar. Die (immerhin noch 20 % unter den Wahlverteidiger-Mittelgebühren liegenden) Pflichtverteidigergebühren sind angesichts der hohen fachlichen Anforderungen und des für Aktenstudium, Sichtung von Fachliteratur und Mandantenbetreuung notwendigen überdurchschnittlichen Zeitaufwands immer noch unzureichend. Wer als Mordverdächtiger auf einen Offizialverteidiger angewiesen ist, wird auch kaum imstande sein, ein – zulässigerweise[10] – daneben frei vereinbartes Verteidigerhonorar aufzubringen. In welchem Umfang und ob überhaupt das OLG eine Pauschvergütung gem. § 51 RVG zubilligen wird, kann man zu Beginn des Mandats weniger denn je abschätzen, weil ein Festsetzungsanspruch nur besteht, wenn dem Offizialverteidiger eine Beschränkung auf die gesetzlichen Gebühren „nicht zuzumuten“ ist. Wann im Einzelfall die Grenze des Zumutbaren erreicht ist, kann im Einzelfall niemand zuverlässig prognostizieren.
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Die Gebührenregelung mitsamt der völlig unwägbaren Erhöhungsmöglichkeit des § 51 RVG[11] erweist sich im Ergebnis als kontraproduktiv und schafft zusätzliche Abhängigkeiten des Offizialverteidigers vom Gericht[12]. Der wirtschaftlich schwache Anwalt steht, wenn er nicht auf Vorschlag des Beschuldigten bestellt wurde, zuweilen im Verdacht, sich anzupassen, um nicht seine Chancen zu mindern, auch in künftigen Verfahren berücksichtigt zu werden. Vielleicht auch fällt die Wahl des Vorsitzenden eher auf wenig berufserfahrene oder tendenziell „anpassungsbereite“ Anwälte, weil deren Terminpläne nicht prall gefüllt und sie (deshalb) auf Pflichtverteidigungen angewiesen sind[13], sodass sich der Kreislauf leistungshemmender Faktoren zum Nachteil des Rechtsuchenden schließt.
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Anders als der Pflichtverteidiger kann der Wahlverteidiger gem. § 9 RVG die Mandatsübernahme oder -fortführung von einer großzügigen Honorarvereinbarung und angemessenen Gebührenvorschüssen abhängig machen. Ist der Mandant betucht, stehen der Verteidigung auch Gelder für entlastende Ermittlungen, insbesondere für die Konsultation von Experten zur Verfügung. Der Pflichtverteidiger hingegen, der dringenden Nachermittlungs- und Kontrollbedarf sieht, ist im Vorverfahren weitgehend auf das „Wohlwollen“ des Staatsanwalts angewiesen.