Читать книгу Palmer :Shanghai Expats - Stephan Lake - Страница 10
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ОглавлениеElf Uhr in der Nacht, und Palmer war zurück am Bund. Elf Uhr. Die perfekte Zeit. Jetzt würden die Bars bevölkert sein, jeder Trinker bereits auf halbem Weg zu dem vertrauten Kater am nächsten Morgen.
Er sah sich um. Gegen die Lichter Pudongs zeichneten sich die Silhouetten Hunderter Menschen ab, die auf der Promenade standen oder gingen oder auf den Bänken saßen und sich unterhielten. Unaufhörlich flackerten Blitzlichter. Jeder schien zu fotografieren: die Skyline von Pudong, den Bund, sich selbst.
Auf der Zhongshan Lu standen sie Stoßstange an Stoßstange. Asiatische Mittelklassewagen, hochglanzpolierte deutsche und italienische Nobelkarossen, amerikanische SUVs. Touristen bestaunten die Auslagen teurer Boutiquen und die herausgeputzten chinesischen Brautpaare, die sich zu Dutzenden den Bund als Kulisse für ihre Hochzeitsfotos ausgesucht hatten und vermutlich die gesamten Ersparnisse ihrer Familien in Fotos und Feier investierten. Palmer beobachtete ein Paar, das auf Anweisung eines jungen Menschen posierte, der mit seinen zwei Fotoapparaten – einer in der Hand, ein zweiter baumelte vor seiner schmalen Brust – sehr professionell aussah. Zwei Helferinnen puderten unablässig die Braut, die offensichtlich mehr schwitzte, als sie sollte, während der Fotograf den Bräutigam auf den Boden hocken ließ und die hinter ihm stehende Braut anwies, ihren nackten Fuß auf seine Schulter zu stellen und ihr rotes Hochzeitskleid bis übers Knie nach oben zu ziehen. Sie wackelte hin und wackelte her, brachte es aber schließlich doch fertig. Die Helferinnen hörten auf zu pudern und der Fotograf drückte den Auslöser. Die Pose musste eine Bedeutung haben, die nur er verstand.
Freitag Nacht auf dem beliebtesten Platz in einer der größten Städte der Welt.
Und dazu Polizisten in Uniform. Palmer zählte vierzehn auf fünfzig Metern. Und zwanzig Überwachungskameras. Die Geheimpolizisten in Zivil zählte er nicht.
Interessant auch, was er hier nicht sah. Garküchen und alte Chinesen in Schlafanzügen und Straßenhändler, die raubkopierte DVDs anboten für zwölf Yuan das Stück oder gefälschte Rolex oder Stinkenden Tofu. Der Bund war wohl zu vornehm für das andere Shanghai. Der Bund gehörte den Reichen und Schönen und solchen wie Leo Shen.
Palmer schlenderte vorbei an den Häusern. Banken hauptsächlich, Boutiquen, Hotels, manche von ihnen hell erleuchtet, manche dunkel, aber alle entweder hervorragend erhalten oder kostspielig restauriert.
Nach wenigen Minuten steuerte er auf sein erstes Ziel des Abends zu. Hausnummer zwei. Sechs Stockwerke hoch. Der ehemalige Shanghai Club, in dem noch vor achtzig Jahren nur wohlhabende und mächtige weiße Männer Mitglied werden durften. So hatte er gelesen. Und besonders beliebt im Club war die Long Bar, der exklusivste Treffpunkt der weißen Herren in Shanghai vor dem Zweiten großen Krieg. Der Shanghai Club wurde irgendwann zum Waldorf Astoria, aber die Long Bar blieb und war heute immer noch beliebt. Heute allerdings bei reichen und mächtigen Chinesen. Hatte er auch gelesen.
Die Long Bar passte perfekt zu seinem Plan.
Er ging die drei Stufen hinunter zum Concierge am Eingang. Welcome to the Waldorf Astoria.
Palmer nickte. Die Long Bar?
Die Treppen hinauf und in der Halle links, Sir.
Palmer ging fünf Stufen hinauf, eine Pendeltür hindurch, noch einmal vierzehn Stufen hinauf und eine weitere Pendeltür hindurch. Dann stand er in einer weitläufigen Halle. Weiße Marmorsäulen, die hohe Decken trugen, weiße Wände, weißer Marmorboden. Türen und eine Treppe rechts führten in andere Bereiche. Von dort hörte er Geigenspiel, er konnte hineinsehen in den Saal, die Tür stand offen. Eine junge Chinesin strich die Saiten und unterhielt damit Gäste, die an Tischen vor feinem Geschirr saßen.
Von links hörte er ebenfalls Musik. Jemand spielte Klavier, eine dunkle Frauenstimme sang dazu ein langsames Lied. Er ging hin und blieb an der geöffneten Tür stehen. Ein schneller Blick rechts und links und er wusste, er war richtig. Ein langgestreckter Raum mit einer ebenso langen Theke entlang der Wand.
Die Long Bar.
Derselbe Blick sagte ihm aber, dass niemand hier Shen kannte. Der Barmann kam aus dem Westen genau wie die dunkle Sängerin in ihrem viel zu engen Abendkleid und die meisten der Gäste. Expats oder Touristen aus Europa oder Australien oder Amerika. Die einzigen Chinesen, sieben oder acht junge Frauen und Männer in ihren Zwanzigern, saßen eng nebeneinander an zwei Tischen, jeder einen Cocktail und seine eigene Flasche Wein vor sich und die Tische voll mit Snacks. Palmer sah Sushi und Dim Sum und Sandwiches und kleine Kuchen. Studenten aus reichem Haus oder Internetmillionäre, solche Typen.
Hier jemanden zu finden mit Beziehungen zu den Triaden, schien ihm so wahrscheinlich wie einen Wanderarbeiter an dieser langen Theke sitzen zu sehen mit einem Glas Champagner in der Hand und eine Nacht in der Präsidentensuite des Waldorf vor sich.
Das falsche Publikum.
So viel zu Informationen aus Reiseführern.
Eine Chinesin in dunklem Hosenanzug und mit einem geübten Lächeln um den Mund kam auf ihn zu und griff nach den Speisekarten auf der Ablage neben der Tür. „Wie viele Personen, Sir?“
„Keine“, sagte Palmer. „Hat das Waldorf eine Präsidentensuite?“
Die Chinesin zuckte mit der Schulter und drehte sich um und ging.
Sein nächstes Ziel war nur wenige Fußminuten entfernt. Club EightyEight. Unter den Gästen sah er nur wenige Ausländer. Exakt vier. Zwei Paare um die sechzig an einem Tisch in der Mitte des Raums, sie zeigten sich gegenseitig Fotos auf den Displays ihrer kleinen Kameras. Amerikaner, wie er hörte, ihre lauten Kommentare übertönten das Gemurmel im Raum. Nicht, dass er die Kommentare gebraucht hätte, um die vier als Amerikaner zu identifizieren. Ein Blick genügte. Ihre Stühle schienen die Last dieser Körper kaum bewältigen zu können.
Alle anderen Gäste waren Chinesen. Mitte dreißig die jüngsten, die ältesten mussten weit über achtzig sein. Wie die drei Männer in ihren Sesseln in der Ecke, Zigaretten mit aufgesetzten Elfenbeinmundstücken zwischen den Lippen, eine teuer aussehende Flüssigkeit in teuer aussehenden Gläsern auf dem Tisch. Einer von ihnen hatte zu ihm hochgeguckt, als er hereingekommen war, und guckte noch immer. Der Mann war klein, er saß tief im Polster und trotzdem berührten seine Sohlen kaum das Parkett. Aber es war nicht Shen. Da war sich Palmer sicher, auch wenn er nicht wusste, wie Shen aussah. Er hätte im Internet nach einem Foto von ihm suchen sollen, aber das hatte er versäumt. Er würde es nachholen. Aber der kleine Chinese auf der Couch, der ihn immer noch anguckte, war mindestens fünfzehn Jahre älter als Shen sein musste.
Auch die beiden Barmänner waren Chinesen, ebenso die fünf jungen Frauen, die an den Tischen für stets gefüllte Gläser sorgten.
Vielversprechend.
Palmer saß noch nicht auf seinem Stuhl, da legte ihm bereits einer der Barmänner eine Getränkekarte hin. Die Karte war in Leder gebunden und dick wie die Terminplaner britischer Bankleute in den Kneipen von Soho auf Hong Kong Island. Der Barmann gab ihm Zeit zu lesen; er nahm ein Glas und trocknete ab.
Palmer ließ die Karte, wo sie war und sagte, „Welche Single Malts habt ihr hier?“
Der Barmann schaute Palmer an. Dann stellte er das Glas hin, warf mit weiter Geste das Tuch über die Schulter und nahm die Karte, blätterte, und legte die Karte wortlos vor Palmer auf den Tresen.
Palmer guckte auf die geöffnete Seite und sagte, „Okay, mein Freund, Glenfiddich. Den zwölf Jahre alten.“
Der Barmann nickte.
„Mit Eis“, sagte Palmer.
Der Barmann nickte wieder.
„Du verstehst Mandarin, oder?“
Der Barmann nickte zum dritten Mal.
„Kannst du es auch sprechen?“
Der Barmann nickte zum vierten Mal, nahm die Karte und ging.
Wenige Minuten später kam der andere Barmann, Glas mit Whiskey in der einen und ein kleine Schale mit gerösteten Wasabi Nüssen in der anderen Hand.
„Kannst du sprechen?“
„Sir?“
„Oder bist du auch so drauf, wie dein Kollege?“
Der Chinese stellte Whiskey und Nüsse vor Palmer und sagte, „Er redet nicht viel.“
„Da kann man so sagen. Wie ist dein Name?“
„Johnny.“
„Johnny ... Von einem Barmann wird erwartet, dass er sich mit seinen Gästen unterhält, Johnny. Das steht so in der Jobbeschreibung jedes Barmanns auf dieser Welt.“
Johnny nickte und nahm Glas und Tuch seines Kollegen und trocknete ab.
Palmer sah ihm eine Weile zu und kaute Nüsse und sagte, „Nicht viel los heute, huh?“
„Es ist spät, die meisten Gäste sind schon nach Hause“, sagte Johnny. Er stellte das Glas hin, nahm ein anderes.
„Spät? Es ist noch nicht einmal Mitternacht.“
„Um eins machen wir zu. Das EightyEight ist eine respektable Bar.“
„Im Vergleich zu ...?“
„Zu anderen Bars.“
„Zum Beispiel?“
„Uh ... anderen Bars, Sir. Ich möchte da lieber keine Namen nennen. Aber Sie sollten früher kommen, am Nachmittag oder ab sechs, da ist hier mehr los“, sagte Johnny und ging. Glas und Tuch nahm er mit.
Ab sechs Uhr?
Palmer nippte am Whiskey und steckte ab und zu eine Nuss in den Mund und schaute in den Spiegel über der Theke. Die Amerikaner waren gegangen. Nach ein paar Minuten winkte er Johnny zu sich.
Der Barmann guckte auf das noch fast volle Glas und sagte, „Noch einen Whiskey, Sir?“
„Einen Kaffee, stark und schwarz, wenns geht.“
„Kein Problem.“
Als er den Kaffee brachte, sagte Palmer, „Sag mal, Johnny, war Shen heute schon hier?“
Johnny guckte. „Shen?“
„Leo Shen?“
„Leo Shen? Ich kenne keinen Leo Shen.“
„War hoher Beamter? In der Hauptstadt?“
„Ich bin aus Nanjing, wir hatten einen Nachbarn namens Shun. Aber den meinen Sie nicht.“
Palmer grinste. „Shen kommt aber ursprünglich aus Shanghai und lebt jetzt wieder hier?“
Johnny nahm einen anderen Lappen und ein anderes Glas und wischte, „Leo ... Shen ...“ und zuckte mit der Schulter.
„Wen kann ich denn hier fragen, der ein wenig mehr weiß als du?“
„Niemand hier weiß mehr als ich“, sagte Johnny.
Nach einem Moment sagte Palmer, „Leo ist ein guter Freund, ich würde ihn gerne wiedersehen.“
Johnny wischte und drehte das Glas gegen das Licht und sagte, „Wenn Sie ein guter Freund von diesem Leo Shen wären, dann wüssten Sie, wo Sie ihn finden.“
„Das ist scharf beobachtet, Johnny, aber leider falsch. Wir haben uns aus den Augen verloren ... Traurig, wirklich traurig, aber so etwas passiert, nicht? Sogar nach jahrzehntelanger Freundschaft.“
„Ja, so etwas passiert“, sagte Johnny. „Ich bringe Ihnen noch ein paar Nüsse.“