Читать книгу Palmer :Shanghai Expats - Stephan Lake - Страница 6
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ОглавлениеEine Stunde später saß Palmer in einer Bar im ehemaligen französischen Viertel der Stadt, vor ihm ein kühles Guinness und ein Teller mit Steak und Gemüse. Die Bar hieß Jacks Daniel und war eine Sportsbar, was in diesem Fall Baseball auf sechs Bildschirmen bedeutete und zwei Billardtische in der Ecke.
Es war noch zu früh gewesen unten am Bund, sieben Uhr am Abend. Um diese Zeit würden nur die Verzweifelten in den Bars sein, zusammen mit lärmenden Touristen, die einmal im Leben am Shanghai Bund einen Cocktail mit Verzierung trinken wollten. Für ihn bedeutete es, dass sein Plan nicht funktionieren konnte. Das falsche Publikum.
Er musste warten, zwei Stunden oder drei. Aber das war okay, er war ohnehin müde und hungrig und hatte sich schnell entschlossen. Gegen seinen Hunger konnte er überall in Shanghai etwas tun, und gegen seine Müdigkeit half am besten Bewegung, wenn er schon keine Zeit zum Schlafen hatte.
Die Lösung war simpel. Zuerst Bewegung, dann Essen.
Er war erst ein Mal in Shanghai gewesen, acht oder neun Jahre zuvor, vielleicht zehn; er müsste darüber nachdenken, was er aber nicht wollte, die Erinnerung wäre nicht angenehm. Obwohl er also erst ein Mal in Shanghai gewesen war, erinnerte er sich an einen Stadtteil, in dem er damals ein paar ruhige Stunden in Cafés und Teehäusern verbracht hatte. Es sollte kein Problem sein, dort ein passables Restaurant zu finden.
Also hatte er sich auf den Weg gemacht. Von der Promenade wieder hinunter und die Zhongshan Lu überquert in die erste Seitenstraße, die er sah. Die Straße hatte ihn auf die Nanjing Lu geführt mit ihren grell beleuchteten Läden und Tausenden Passanten, von dort am People’s Square vorbei, wo alte Chinesen neben der überfüllten Ringstraße Drachen steigen ließen und dabei lachten wie Kinder, die nicht wussten, was sie taten oder nicht darüber nachdachten; schließlich zur Shanxi Lu und damit in die ehemalige Französische Konzession. Der Stadtteil mit den Cafés und Teehäusern. Das Jacks Daniel war die erste Bar, die er gesehen hatte.
Das Publikum gemischt, Ältere und Jüngere, Expats und Einheimische. Auf der Karte Steak und Kaffee und Guinness und aus den Lautsprechern Blinded by the light. Bruce Springsteen, nicht Manfred Mann. Ein guter Ort zum Warten.
Er saß an einem Hochtisch am Ende des Raums an einer mit dunklem Holz vertäfelten Wand, gegenüber einem der Bildschirme. An der ebenso dunklen Holzdecke surrte ein Ventilator groß wie eine Schiffsschraube und vertrieb die Zigarettenschwaden der beiden Chinesinnen vom Tisch nebenan und trocknete sein verschwitztes Shirt.
Er aß und trank und lauschte seinen Gedanken.
Shen legte keinen Wert auf Öffentlichkeit, so viel war klar. Andererseits hatte sich Shen bei ihm gemeldet. Shen wusste, dass er nach Shanghai kommen würde, und Palmer hatte eine gute Ahnung, von wem Shen das wusste. Mark Li, Palmers früherer Mentor, hatte ihn an Shen verraten. Li hatte Palmer in Hong Kong gesagt, dass er es war, der das Erbe seiner Eltern zuerst an sich genommen hatte. Aber ihm wäre es selbst wieder genommen worden, von Shen.
Li hatte ihm das nicht ganz freiwillig gesagt. Er hatte dabei in den Lauf einer Glock geguckt.
Shen wusste also, dass Palmer hierher kommen würde, und mit dem Anruf bei ihm hat Shen wohl zum Ausdruck bringen wollen, wie sehr ihn das sorgte: nicht im Geringsten.
Warum sorgte Shen das nicht? Li musste Shen einiges über ihn erzählt haben. Wollte Shen ihn also provozieren? Verleiten, unvorsichtig zu sein? Oder fühlte sich Shen in Shanghai – seiner Stadt – tatsächlich so sicher? Unantastbar? Und sein Anruf war Ausdruck seines Selbstvertrauens?
War Shen unantastbar?
Palmer schob den leeren Teller weg, lehnte sich an die Wand und guckte auf den Bildschirm, ohne zu verstehen, was dort geschah. Er war kein Baseballfan. Aber wenn du alleine in einer Bar sitzt, musst du irgendwohin mit deinem Blick, und er hatte bereits zu lange die Leute um sich herum beobachtet. Besonders die Kerle. Er wollte keine falschen Signale aussenden.
Außerdem konnte er auch mit Blick auf den Schirm gut seine Umgebung beobachten. Wie die beiden Chinesinnen am Tisch nebenan, die immer noch rauchten und in einem fort redeten und jetzt zugleich Pizza aßen. Abbeißen, kauen, reden, schlucken, ein langer Zug an der Zigarette, reden, wieder abbeißen, wieder kauen. Sie sahen aus wie Models und hatten die Geschmacksnerven alter Chinesen, die sich von Stinkendem Tofu und Durian ernährten.
Und die Blonde in ihrem roten Kleid. Sie saß alleine an einem Hochtisch mit Platz für zwei; lange Beine übereinander geschlagen, vor sich ein Glas Rotwein und die noch halbvolle Flasche und eine Schachtel Zigaretten, von der sie in den vergangenen zwanzig Minuten fünf Mal genommen hatte. Öfter als die beiden Chinesinnen. Ihre Handtasche hing über der Stuhllehne. Die Blonde hatte mehrmals zu ihm geschaut. Sie wusste wohl auch nicht, wohin mit ihrem Blick.
Und wie die zwei Männer, Europäer vielleicht oder Amerikaner, die gerade auf ihren Tisch zugingen.
Die beiden waren erst seit einigen Minuten hier, Palmer hatte sie hereinkommen sehen. Der eine lang, dünn, glatzköpfig, eine Zeitung in der Hand; der andere kleiner, dicker und in einem sehr bunten Hemd. Sie hatten sich gesetzt, aber nichts bestellt und immer wieder zu der Blonden geschaut, während die Blonde zu Palmer geguckt hatte. Offensichtlich fanden sie die Frau attraktiv, was Palmer nachvollziehen konnte. Und gingen jetzt zum nächsten Schritt über. Was er nicht nachvollziehen konnte, so, wie die beiden aussahen. Jemand sollte ihnen sagen, wie ihre Chancen standen.
Aber er irrte sich. Nicht mit den Chancen, sondern mit der Absicht dieser Gestalten.
Die Blonde bemerkte die beiden, zupfte an ihrem Kleid, das dadurch aber nicht länger wurde; nickte, wie zur Begrüßung, verschränkte jedoch zugleich ihre Arme. Abwehrhaltung. Sie war angespannt.
Palmer schaute vom Bildschirm weg und zu ihnen hin.
Die beiden blieben vor ihrem Tisch stehen, ihre Gesichter ausdruckslos, wo doch Lächeln sein sollte. Sie setzten sich nicht, und die Blonde lud sie auch nicht dazu ein mit einer Handbewegung, einem Kopfnicken auf die leeren Stühle; stattdessen, die Arme immer noch verschränkt, lehnte sie sich zurück. Und dann legte der Größere die Zeitung auf den Tisch, beugte sich zu der Blonden hinunter, deutete auf die Zeitung, sagte etwas, packte ihren Arm, wollte sie nach vorne ziehen, sagte wieder etwas.
Mit einem Ruck befreite sie sich aus dem Griff.
Sie stand auf.
Der Kleinere ging los. Die Blonde nahm ihre Zigaretten und folgte, Wein und Handtasche zurücklassend. Der Größere, Zeitung wieder in der Hand, folgte ebenfalls, sein Gang schwankend, als hätte er ein Hüftproblem oder wäre gerade vom Pferd gestiegen. Nacheinander gingen sie hinaus, wie bei einer Polonaise, bei der sonst niemand mitmachen wollte.
Als der Lange durch die Tür verschwunden war, stand Palmer ebenfalls auf und ging hinterher. Im Vorbeigehen nahm er von der Ablage an der Tür eine der Zeitschriften und rollte sie fest zusammen. Links, in seiner stärkeren Hand.
Draußen war es wie auf einem Straßenfest. Es war immer noch heiß, und Leute saßen und standen in dem offenen Teil der Bar, eine Art Biergarten, von der Straße durch einen Zaun und Büsche getrennt. Männer hatten Frauen im Arm, Frauen hatten Frauen im Arm, überall wurde gelacht und getrunken. Licht kam aus elektrischen Laternen auf den Tischen. Hinter dem Zaun und den Büschen standen weitere Gäste, auch sie mit Drinks in den Händen. Hinter ihnen rauschte der Verkehr vorbei. Von drinnen hörte er Zappa. Bobby Brown.
Palmer sah die drei nicht und ging weiter, vor den Zaun, vor die Büsche. Sie standen unter einem Baum an der Straße. Eng nebeneinander, wie Freunde. Zehn Meter vor ihm.
Der Größere schlug der Blonden gerade die Zeitung ins Gesicht.
Sie hob ihre Arme, viel zu spät, und rief, „Hey.“
Ein paar junge Leute schauten hin.
Palmer ging weiter und sagte, „This is not polite.“
Der Größere drehte sich um. „What you say? Asshole?“
Ein harter, unverkennbarer Akzent.
„Ich habe gesagt, Das ist nicht nett“, sagte Palmer auf Deutsch und blieb stehen. Drei Meter vor ihnen.
„Kümmere dich um deinen eigenen Scheiß“, sagte der Kleinere, ebenfalls auf Deutsch. Und kam auf ihn zu. Einen kurzen Schritt.
Weiches Gesicht, weiche Unterarme, die Hände leer. Ein dicker Bauch unter dem geblümten Hemd ohne Platz für ein Messer.
Palmer lockerte den Griff um die Zeitschrift.
„Ihr müsst die Frau jetzt gehen lassen“, sagte Palmer.
„Oder was?“, sagte der Größere.
Sie hatten Zuschauer. Die jungen Leute. Sechs oder sieben. Jeder mit einem Mobiltelefon in der Tasche, keine Frage, erpicht zu filmen, was da passierte und ins Internet zu stellen. Oder die Polizei zu rufen. Oder beides. Erst der Film, dann die Polizei.
Wenn er Shen finden wollte, hatte er keine Zeit für so etwas. Ein Film im Internet war kein Problem, es war dunkel, sein Gesicht würde kaum zu erkennen sein, und seinen Namen kannte hier sowieso niemand. Ein kurzes Filmchen, in dem ein Unbekannter zwei andere Unbekannte vor einer Bar in Shanghai verhaute. Ein paar Hundert Klicks vielleicht. Kein Problem.
Aber Polizei war ein Problem. Polizei war schnell zur Stelle in Vierteln mit Bars und Kneipen, das war in den meisten Städten der Welt so. Erst recht in Shanghai. Und dann? Er müsste in einem kahlen Raum ohne Fenster Fragen der Polizisten beantworten. Und auf chinesischen Polizeirevieren konnten dabei schnell Stunden vergehen oder ein ganzer Tag oder mehrere Tage. Chinesische Polizisten durften das, Leute tagelang festhalten.
Palmer verzichtete daher darauf, diesen Rüpeln zu erklären, dass man Frauen nicht schlägt und sagte, „Nichts Oder was. Lasst sie einfach gehen.“
Der Größere hielt Palmers Blick. „Wir lassen sie gehen, dieses Mal“, sagte er. Und zu der Blonden, „Du weißt jetzt Bescheid“, und warf ihr die Zeitung ins Gesicht.
Die Blonde ließ ihre Arme sinken und fingerte nach einer Zigarette. Palmer sah ihre Hände zittern.
„Und was machen wir mit dem?“ Der Kleinere nickte in seine Richtung.
„Sollten wir dich hier nochmal sehen, dann bist du dran“, sagte der Größere aus der Entfernung.
„Genau“, sagte der Kleinere und machte einen Schritt zurück, „Arschloch.“
Die Blonde kam zu ihm.
„Danke.“ Sie hielt die Zigarette zwischen den Fingern, wollte sie anzünden, aber ihre Hände zitterten immer noch.
Palmer nahm das Feuerzeug aus ihrer Hand und hielt ihr die Flamme hin. Dabei sah er den beiden Deutschen hinterher. Der Größere hatte sein Telefon herausgenommen und sprach hinein, der Kleinere winkte einem Taxi. Das Taxi hielt, sie stiegen ein und fuhren davon. Der Größere telefonierte weiter, Palmer sah seine Silhouette.
Die Blonde zog an der Zigarette, ihre Augen auf Palmer, „Danke“. Sie nahm das Feuerzeug aus seiner Hand, ihre Finger berührten seine, und ging hinein.
Er hob die Zeitung auf. Shanghai Daily, die Ausgabe von heute. Seite vier.
Dann ging er ebenfalls wieder hinein. Er hatte noch nicht bezahlt.