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Wie Sie mit der dritten aus zwei Varianten die Leser überraschen
ОглавлениеÜberraschungen bei der Heimkehr
Neulich fiel, zwei Tage vor Antritt einer Reise, mein Internet-Zugang aus. Mir blieb gerade genug Zeit, die Störung meinem Provider zu melden und – vergeblich – nach Ursachen zu forschen. Am Abreisetag bestand die Störung fort. Unterwegs dachte ich: Wenn ich nach Hause komme, habe ich vermutlich noch immer keinen Zugang zum Web. Aber ich hoffte doch darauf, dass der Provider es hinbekommen hatte. Nach siebzehn Jahren im Web und Herumärgern mit Providern schätzte ich die Chancen optimistisch auf 90 (nö) zu 10 (yeah).
Als ich heimkam, funktionierte mein Webzugang noch immer nicht. Aber das war nicht alles: Auch das Telefon ging nun nicht mehr. Statt einem von zwei erwarteten Ereignissen war ein drittes eingetreten. Dass nun auch das Telefon nicht mehr funktionieren könnte, hätte ich nie erwartet. Im Nachhinein muss ich aber sagen: Tja, auch damit hätte ich rechnen, diesem Ereignis zumindest eine kleine Wahrscheinlichkeit zugestehen können.
Dann wurde mir klar, dass ich das Rezept für Überraschungen in einem Roman am eigenen, virtuellen Leib erfahren hatte.
Miranda, die Heldin von Nicci Frenchs Roman »Secret Smile« (Michael Josef 2003 / dt. »Der falsche Freund« / eigene Übersetzung) wird auf ähnliche Weise überrascht. Und mit ihr der Leser.
Miranda verdächtigt den Verlobten ihrer Schwester – die beiden leben vorübergehend bei Miranda –, heimlich in ihr, Mirandas, Zimmer eingebrochen zu sein. Und sie fürchtet, er wird es wieder tun. Sie überlegt, wie sie sich ihren Verdacht beweisen kann.
Ich erinnerte mich an etwas, das ich einmal in einem Film gesehen hatte. Ich riss mir einen schmalen Streifen Papier zurecht, zweieinhalb Zentimeter lang und sechs, sieben Millimeter breit. Als ich die Tür schloss, schob ich das Stück Papier in den Spalt, genau auf der Höhe des unteren Scharniers. (...) Und was würde es mir bringen, was auch immer ich herausfand? Wenn ich das Papierchen an seinem Platz fand, würde mich das beruhigen? Wenn ich es auf dem Boden liegen sah, was würde das beweisen? Kerry [Mirandas Schwester] hätte spontan vorbeigekommen sein können, um sich mein Deo auszuleihen oder den Boden zu staubsaugen. (...)
Als ich zurück in meine leere Wohnung kam und hinauf zu meinem Zimmer lief, fand ich etwas, woran ich nicht einmal gedacht hatte. Der Fetzen Papier wurde von der Tür festgehalten, aber jetzt steckte er mehr als dreißig Zentimeter höher als heute Morgen.
Miranda glaubt, die beiden möglichen Varianten durchzuspielen: Das Papierchen ist entweder heruntergefallen oder es ist noch an seinem Platz. Dass es aber so viel höher in der Tür stecken könnte, damit hat sie nicht gerechnet. Die Überraschung enthält so viel beunruhigendes Potenzial, dass Nicci French damit das Kapitel auf einer hoch spannenden Note enden lässt. Und der überraschte Leser grübelt: Was bedeutet das Versetzen des Papiers? Ist es eine Nachricht? Eine Drohung?
Nicci French hat die Überraschung des Lesers herbeimanipuliert. Sie hätte beschreiben können, wie Miranda das Papier in die Tür steckt, nichts weiter. Das Denken über mögliche Folgen hätte sie dem Leser überlassen. Der aber wäre vermutlich auf mehr als zwei Varianten gekommen. Stattdessen lässt French ihre Heldin die (vermeintlich einzigen) beiden Möglichkeiten durchspielen. Und sorgt so dafür, dass Mirandas Überraschung auch die des Lesers wird.
Genauso arbeiten Illusionisten. Sie zeigen dem Leser mit großartiger Geste beide Seiten eines Tuchs oder das Innere einer Kiste, holen jemanden aus dem Publikum auf die Bühne, der sich stellvertretend für alle überzeugen soll, dass die zu verbiegenden Eisenbahnschienen tatsächlich aus Stahl sind und nicht bloß aus Gummi. Diese Show dient allein dazu, die Aufmerksamkeit vom eigentlichen Trick abzulenken. Wir wissen das. Und fallen doch immer wieder gerne darauf herein.
So wie Ihre Leser gerne auf Ihre Tricks hereinfallen. Um sie (noch besser) zu überraschen, sollten Sie ihren Gedankenspielraum gezielt einschränken – anstatt sich darauf zu verlassen, dass sie sich selbst einschränken. Sorgen Sie dafür, dass sie nicht von sich aus auf die Idee kommen, dass einem Internet-Provider alles zuzutrauen ist. Etwa auch, dass er beim Reparieren des DSL-Anschlusses das Telefon mit abschießt.
Schneller-Bestseller-Trick: Aktuelle Szene Ihres Manuskripts. Ein Problem. Finden Sie mindestens fünf Ideen, wie Ihre Heldin das Problem lösen kann.
Vergessen Sie die, die Ihnen als Erstes in den Sinn kommt – viel zu naheliegend. Lassen Sie Ihre Heldin die zweite und die dritte Idee durchdenken – das sind meist sehr realistische Ideen, aber nicht das harte Klischee. Lassen Sie sie begründen, warum Nummer zwei oder Nummer drei am wahrscheinlichsten ist – wichtig ist, dass der Leser die Logik der Heldin nachvollziehen kann.
Lassen Sie die Fünfte oder Letzte Ihrer Ideen eintreffen – zack!