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Wie Handlung und Backstory sich optimal ergänzen
ОглавлениеEin toter Vogel zum Valentinstag
Romane können und wollen nur einen Ausschnitt eines Lebens erzählen, sie picken sich die Punkte in der Chronologie des Helden heraus, die das Thema am besten transportieren. So auch in Melissa Jacobys Roman »Der verführerische Charme der Durchschnittlichkeit« (Droemer 2011):
Neben der Frau sitzt ein hübsches blondes Mädchen: ihre Tochter Hayley. Sie sieht aus, wie ihre Mutter wahrscheinlich ausgesehen hat, bevor die Jahre ihren Tribut gefordert haben, nur ohne das ganze Make-up.
»Ich weiß, wer du bist«, sagt Hayley. »Wir waren zusammen in der ersten Klasse.«
»Ich war nie in der ersten Klasse«, sagt Mead [, der Held und Erzähler].
»Doch, das warst du. Ich habe dir einen Schuhkarton mit einem toten Vogel drin zum Valentinstag geschenkt. Du weißt schon, weil dein Vater Bestatter ist. Das war ziemlich gemein von mir, aber ich war auch erst sechs. Ich hoffe, du kannst mir verzeihen.«
Großartig: Am schlimmsten Tag seines Lebens muss er also von all den Leuten in High Grove ausgerechnet neben der Person sitzen, die für den zweitschlimmsten Tag seines Lebens verantwortlich ist.
Jacoby verrät uns hier, wie man für maximale Dramatik sorgt: Das schlimmste – allgemeiner: das emotional dramatischste – Ereignis in der Erzählgegenwart trifft auf das emotional dramatischste aus der Backstory. Und sorgt so für den, bei richtiger Ausführung, emotional dramatischsten Moment des Buchs. Keine Sorge. In Jacobys Roman ist die zitierte Stelle nicht der dramatischste Moment. Der sollte nicht schon auf Seite 34 von 456 kommen.
Übrigens: Ich verwende den Begriff Backstory hier zur Beschreibung der Zeit, die chronologisch vor der Erzählgegenwart des Romans liegt. Die ursprüngliche Bedeutung des Wortes stammt aus der Bühnensprache und beschreibt das, was hinter den Kulissen vorgeht, für den Zuschauer unsichtbar.
Stellen Sie sich die Dramaturgie der Handlung in der Erzählgegenwart und die der Backstory als zwei Kurven vor, die im Lauf des Buchs immer weiter ansteigen. Die Dramatik des Romans ist die Summe dieser beiden Kurven.
Für maximale Dramatik sorgen Sie, wenn Sie beide Kurven etwa im selben Moment stark ansteigen lassen, sprich: indem Sie genau dann einen emotional packenden Moment der Backstory in die Handlung einfließen lassen, wenn die Handlung selbst schon hoch dramatisch ist.
Das Zusammenlegen der Dramatik in der Backstory mit der in der Erzählgegenwart hat einen wichtigen Vorteil: Je emotional packender es gerade in der Handlung zugeht, desto mehr können Sie an dieser Stelle an Backstory hineinpacken. Genauer: Nach einem irrsinnig dramatischen Cliffhanger dürfen Sie sich eine ausführlichere Rückblende leisten, ohne den Leser zu verlieren.
Dennoch rate ich zur Vorsicht bei solcher Dramaturgie. Die Rückblende sollte organisch kommen und nicht wie ein Eingriff des Autors wirken. Geben Sie Ihren Leser niemals das Gefühl: »Ah, klar, ein Cliffhanger, und jetzt kommt die Rückblende. Ein übler Trick.« Sie dürfen und Sie sollen Erzähltricks anwenden. Aber bitte so, dass der Leser diese Tricks nicht bemerkt.
An der Analyse von Romanen kommen Sie nicht vorbei. Nur wenn Sie darin geübt sind, holen Sie aus Ihren eigenen Texten das Bestmögliche heraus. Der analytische Blick schmälert zwar manchmal das Lesevergnügen, eben weil er das Eintauchen in die Handlung und die Welt des Romans stört. Aber wenn Sie die Mechanismen von Literatur verstehen wollen, müssen Sie diesen Preis zahlen.
Anderseits werden Sie das gute Gefühl zu schätzen lernen, wenn Sie hinter einen Trick des Autors gekommen sind und – das ist das Allerbeste daran – wissen, wie Sie damit den eigenen Roman besser machen.
Wie aber finden Sie nun die wichtigsten, die richtigen Stellen im Leben des Helden – in seiner Backstory?
Kommt darauf an. Falls Sie schon die Handlung im Jetzt des Romans kennen, bei der Backstory aber noch unentschieden sind, können Sie sich die dramatischste Stelle der Backstory so zurechtschneidern, dass sie thematisch optimal zum dramatischsten Moment der Handlung passt.
Klar können Sie das, Sie sind der Boss in Ihrem Roman.
Im Beispiel oben wäre das ein Moment im Leben des Helden, der eng mit dem Thema des Romans oder einem zentralen Motiv verbunden ist, etwa dem Bestattungsunternehmen des Vaters.
Hayley erklärt das lernwilligen Autoren sogar:
»Ich habe dir einen Schuhkarton mit einem toten Vogel drin zum Valentinstag geschenkt. Du weißt schon, weil dein Vater Bestatter ist.«
Sollten Sie die Backstory vor der Handlung kennen, setzen Sie beim dramatischsten Moment der Backstory an und fragen sich, was in der Erzählgegenwart geschehen müsste – besser, da aktiver: was der Held tun müsste –, um diese Dramatik wiederzuspiegeln und die dazugehörigen Gefühle zurückzubringen.
Dieser dramatische Moment hängt häufig mit der Verletzung des Helden oder seinem tiefsten Bedürfnis zusammen.
Falls Sie, in unserem Beispiel aus Jacobys Roman, als Erstes dieses Bild mit dem toten Vogel im Karton vor Augen haben, fragen Sie sich: Wie kann die Erzählgegenwart dem am besten angepasst werden? He, ich könnte die Mutter des Jungen zu einer Schuhverkäuferin machen. Weil der Vogel in einer Schuhschachtel lag. Oder, hm, nein, noch besser: Ich mache den Vater zu einem Bestattungsunternehmer!
Ganz wichtig: Die Ereignisse in der Erzählgegenwart des Romans sollten die Backstory an dramatischer Wucht und Intensität von Gefühlen (auch denen, die Sie beim Leser hervorrufen) übertreffen. Und wenn nicht? Dann überdenken Sie Ihren Roman und fragen Sie sich, ob Sie ihn nicht besser zur Zeit der Backstory spielen lassen sollten.
Sie wollen ja nicht bloß das zweitschlimmste Ereignis im Leben des Helden ins Zentrum Ihres Romans stellen.
Schneller-Bestseller-Trick: Was sind die schlimmsten Ereignisse im Leben Ihrer Heldin? Schreiben Sie sie auf und bringen Sie sie in eine Reihenfolge, sortiert danach, wovon die Heldin am heftigsten mitgenommen und berührt wurde.
Überlegen Sie sich zu jedem Ereignis, zu jeder Tat eine glaubhafte Steigerung. Schieben Sie alle Ereignisse in der Chronologie nach vorne. Gibt es welche, die von der Backstory, von der Erzählvergangenheit in die Erzählgegenwart rutschen können? Beginnen Sie bei dem am wenigsten schlimmen Ereignis. Wie macht es sich als Anfang Ihres Romans?