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Genrewechsel innerhalb eines Romans

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Wenn Hänsel und Gretel von Aliens entführt werden

Es waren einmal zwei Geschwister, Hänsel und Gretel. Eines Tages gingen sie in den Wald. Da stand ein Häuschen ganz aus Lebkuchen und Zuckerwerk und duftete gar vortrefflich.

»Du, Hänselein, ich habe solchen Hunger. Wollen wir nicht in das Häuslein fein hinein?« Gretel wartete nicht ab, was ihr Bruder erwiderte. Mit wehendem Röckchen lief sie durch die weit offenstehende Tür.

Hinter ihr aber schlug die Tür zu. Aus dem Boden des Hauses stieg beißender Rauch, der Hans die Sicht vernebelte. Ein Quietschen und Ächzen ertönte, und langsam erhob sich das Haus auf einer Rauchwolke und stieg in den Himmel.

»Schon wieder Außerirdische«, fluchte Hans vor sich hin und sprach in die in seinen Hals implantierte ComUnit: »Sie haben Grete. Code Wicked Witch. Sofort XC12 nach BC9. Ich wiederhole: BC9.«

Zu den Dingen, die der Autor festlegen sollte, noch bevor er den ersten Satz seines Romans schreibt, gehört das Genre. Das klingt banal, ist aber alles andere als das. Mit dem Genre legen Sie eine Reihe von Regeln fest und geben sich und Ihren Charakteren Entscheidungen vor. Etwa die, dass in einem Märchen Grete eben nicht von Außerirdischen entführt wird.

Mit dem Genre bestimmen Sie (manchmal auch erst Ihr Verlag), wo in einer Buchhandlung sich Ihr Roman wiederfindet: auf den hohen Stapeln am Eingang des Ladens, als einzelnes Exemplar im Regal der Autoren von A bis Z – oder irgendwo weit hinten im Kartoffelkeller Ihrer Verlegerin.

Genres folgen Konventionen. Viele davon werden heute nicht mehr so eng ausgelegt. Gerade in der phantastischen Literatur verwischen die Grenzen. Subgenres sprießen aus dem Boden wie genmanipulierte, respektive verzauberte, Pilze. Ein Krimi ohne Mord ist dagegen noch immer schwer vorstellbar, ein Thriller ohne schnelle Action ebenso wenig. Wo die Grenzen zwischen Krimi und Thriller verlaufen, lässt sich längst nicht mehr entscheiden.

Eine Entwicklung, die ich begrüße, als Autor und als Leser. Wie jeden Ausbruch aus der Schublade.

Ein ganz anderer Fall ist es, wenn ein Roman als Science-Fiction beginnt, mit einer Weltraumschlacht und technischem Firlefanz exklusiv für Maschinenbaustudenten, und im zweiten Teil als Krimi im viktorianischen London endet. (Für Trekkies: Wer erinnert sich nicht an jene legendäre Folge von »Raumschiff Enterprise: Das nächste Jahrhundert«, als Captain Picard und seine Crew im Holodeck der Enterprise als Sherlock Holmes und Konsorten ins viktorianische London »reisten«?)

Ich spreche von Erwartungen.

Für den Leser regelt das Genre seine Erwartungen an den Text. In einem Thriller etwa erwartet er Spannung, temporeiche Action und sich zuspitzende Dramatik. Findet er stattdessen ausufernde Landschaftsbeschreibungen, mehrseitige Schachtelsätze und philosophische Debatten, werden seine Erwartungen enttäuscht.

Moment mal. Sollten Autoren denn nicht die Erwartungen der Leser enttäuschen? Durchaus. Aber auf eine dem Leser angenehme Weise. In der Geschichte. Und nicht außerhalb, eben zum Beispiel im Genre.

Kleiner Tipp: Vermeiden Sie in Ihrem ersten Roman solche Wechsel des Genres. Überschätzen Sie auch nicht die Zahl der Leser, die lieber überrascht werden. Die ist leider erstaunlich klein. Sie bezweifeln das? Sehen Sie sich die Verkaufszahlen der entsprechenden Bücher an.

Ob und wie Sie die Erwartungen der Leser gewichten, liegt bei Ihnen. Aber bedenken Sie: Der Leser kauft Ihren Roman, weil er ganz bestimmte Erwartungen an das Buch mitbringt. Die Sie mit der Wahl des Genres begründet haben. Sie (und Ihr Verlag) machen dem Leser ein Versprechen. Das Versprechen zu brechen und die Lesererwartungen zu ignorieren, ist keine kluge Idee, wenn Sie vom Romane Schreiben leben möchten. Und lieber Leser hätten, die mehr als ein Buch von Ihnen kaufen.

Romane, in denen von einem Genre zum anderen gewechselt wird, erblicken selten das Licht der Buchhandlungen. Denn sie schaffen es erst gar nicht, einen Verlag zu finden. Für Sie heißt das: Wenn Sie das Genre im Roman wechseln oder mehrere Genres mischen, machen Sie es sich schon bei der Agenten- und Verlagssuche viel schwerer.

Hier taucht sie wieder auf, die Zweischneidigkeit dieser Filterfunktion der klassischen Verlage. Einerseits hilft Ihnen der Filter, ein bewährtes Genre zu bedienen und damit Lesererwartungen zu erfüllen. Andererseits hält der Filter aber eben das Neue zurück, das die Genregrenzen weitet oder bricht und dem offeneren, dem experimentierfreudigeren Roman-Genießer ein noch nie dagewesenes Lesevergnügen beschert.

In den USA gibt es diesen Trend von Cross-Genre-Romanen schon länger. Dort werden den Verlagen wahrscheinlich immer mehr Geschichten angeboten, die so gut sind, dass sie sie einfach veröffentlichen müssen, egal welches Genre.

Auch in Deutschland zeichnen sich vergleichbare Tendenzen ab, nicht nur weichere Grenzen zu durchbrechen (etwa zwischen Thriller und Krimi, zwischen SF und Fantasy), sondern auch die härteren wie die zwischen Thriller und Phantastik oder zwischen historischem Roman und Krimi.

Ich bin zuversichtlich, dass wir das Ende dieser richtigen und überfälligen Entwicklung noch nicht gesehen haben. Sie wird stehen und fallen mit dem Erfolg selbstveröffentlichter Romane als E-Book oder Print-On-Demand. Viele der Autoren dort scheren sich nämlich nicht um Grenzen, weil sie nie gelernt haben, sie bewusst wahrzunehmen. Haben diese Autoren Erfolg, werden sich auch die großen Verlage diesem Geschäft nicht verschließen. Und so ist es ja in vielen Bereichen des Marktes: Die flexiblen Kleinen strömen in die Nischen und die unbeweglichen Großen preschen nach, sobald sie Geschäfte wittern.

Ein bizarrer Wechsel von einem düsteren Neo-Heimatroman zu einem Werk der Phantastik vollzieht Stefan Kiesbye in seinem empfehlenswerten »Hemmersmoor« (Tropen 2011). Nicht weiter verwunderlich, dass ein Kritiker auf Amazon seine Besprechung mit »Etikettenschwindel?« überschreibt. (Die meisten Kritiken dort sind allerdings positiv bis sehr positiv.)

Bei einem Volksfest im Dorf – ein Koch- und Back-Wettbewerb – kippt die Stimmung urplötzlich. In abergläubisch motivierter Wut, ja, im Blutrausch stürzt sich das ganze Dorf auf eine zugezogene Familie und reißt sie in Stücke. Nachdem auch noch das Haus angezündet ist und die Spuren der armen Familie ausgelöscht sind, macht die Gemeinschaft von Hemmersmoor weiter, als wäre nichts geschehen.

An dieser Stelle hätte ich beinahe das Buch in die Ecke geschmissen.

Ich war völlig überrascht.

Diesen irren Blutrausch habe ich den Leuten nicht abgenommen.

Zugleich war ich fasziniert. Und habe weitergelesen.

Die sonderbaren Dinge, die sich dann noch ereignen – oder spielen sie sich nur in der Phantasie eines Kindes ab? – habe ich akzeptiert. Den unerwarteten Wechsel des Genres konnte ich mitgehen.

Der Autor ist ein hohes Risiko eingegangen und der Verlag mit ihm, was sicher nicht die Regel ist – aber Tropen (Klett-Cotta) ist eben auch keiner der ganz großen deutschen Verlage. Trotzdem, Kiesbye hat fertiggebracht, was vielen anderen Autoren nicht gelungen wäre.

Zweifellos haben nicht alle Leser diesen Umschwung mitgemacht, sicher wurde das Buch von einigen zur Seite gelegt.

Trotz dieser positiven Entwicklung: Unterschätzen Sie das Risiko nicht, wenn Sie Genres mischen oder im selben Roman von einem Genre ins andere wechseln. Die meisten Verlage werden Ihr Manuskript allein aus dem Grund ablehnen. Warum? Weil sie die meisten Romane ablehnen und sich das leisten können. Schließlich bekommen sie haufenweise Genreliteratur angeboten. Und weil sie am liebsten Bücher veröffentlichen, die ein möglichst geringes Risiko bedeuten – sprich: bei denen Handel und Leser wissen, was sie kriegen.

Bleiben Sie realistisch und erwarten Sie nicht, dass Ihr Roman so sensationell und herausragend ist, dass Ihnen dieser Genre-Mix verziehen wird. Betrachten Sie ein Genre nicht als Einengung. Sehen Sie es vielmehr als freundliche Leitplanke, die Sie in der Spur halten will.

Wenn Sie erst einmal erfolgreich sind, wird man Ihnen das Umherwandern in den Genres eher verzeihen. Eher! Machen Sie sich jedoch keine Illusionen: Selbst Bestseller-Autoren und vielleicht gerade sie können sich nicht alles leisten. Die Kosten des Scheiterns sind in ihrem Fall nämlich besonders hoch. Ein wildes Vermischen von Genres ist daher auch für sie in den meisten Fällen ein ähnliches No-Go wie ein Lebkuchenhausraumschiff mitten im Märchenwald.

Schneller-Bestseller-Trick: Welche Versatzstücke, Wendungen, Charaktere, Verhaltensweisen, Ereignisse sind typisch für Ihr Genre? Machen Sie sich eine Liste. Vieles davon benutzen Sie auch, stimmt’s? Greifen Sie etwas davon heraus und verkehren Sie es in sein Gegenteil. Mutig? Dann tun Sie das mit einem zweiten. Einem dritten ...

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