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MAULBEERBÄUME UND JADEWASSER – DIE WEIBLICHE EJAKULATION IN TEXTEN AUS DEM ALTEN CHINA DAS SPIEL VON WOLKEN UND REGEN

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Im alten China ist Sex hoch angesehen. Die erotische Begegnung und die sexuelle Vereinigung von Mann und Frau sind Kulturtechnik, Körperkunst, medizinische Anwendung und beglückende Lusterfüllung in einem. In der sexuellen Begegnung von Mann und Frau spiegeln sich universale, kosmische Kräfte. Schläft ein Paar miteinander, vereinigen sich Himmel und Erde. Yün-yü, das Spiel von Wolken und Regen, ist ein jahrtausendealter und bis heute geläufiger Begriff für das Liebesspiel, und die Vermischung der sexuellen Säfte wird sowohl in den alten Sexhandbüchern vorchristlicher Zeit als auch in der mittelalterlichen erotischen Literatur gefeiert.36 Sex ist viel mehr als nur ein Akt der Reproduktion. Sex erhält die Gesundheit beider und harmonisiert das Verhältnis der Geschlechter. Die körperliche Lust ist zugleich eine spirituelle, Sex ist physische und spirituelle Therapie und kann Erleuchtung und ein langes Leben schenken.

Die Welt gründet auf zwei komplementären Aspekten: yang und yin. Yang ist das positive, yin das negative Prinzip, yang steht für Himmel, Sonne, Feuer, Licht, Sommer und den Mann, yin für Erde, Mond, Wasser, Dunkelheit, Winter und die Frau. Yin und yang beziehen sich aufeinander, sie ergänzen sich und stellen so ein lebendiges, fließendes Gleichgewicht her. In der körperlichen Begegnung von Mann und Frau wiederholt sich dies. Miteinander vervollständigt man sich, im fließenden Spiel wird aus zwei Gegensätzen ein Ganzes. Flüssigkeiten wie Speichel, Schweiß, Milch und sexuelle Säfte zirkulieren zwischen den Körpern. Man trinkt einander, atmet den Atem und den Duft des Liebsten, nimmt die Energie und die Kraft des Geliebten über alle Öffnungen des Körpers auf. Sex ist essenziell, um die Kraft und Gesundheit zu erhalten, den Fluss der ch’i-Energie anzukurbeln und vielleicht sogar unsterblich zu werden. Bekommt ein Mann zu wenig yin, kann er sterben.37 Mann und Frau begegnen sich im Sex als Ebenbürtige, kein Körper ist dem anderen überlegen. In einem wichtigen Punkt unterscheiden sich Mann und Frau allerdings erheblich, und dieser hat mit der weiblichen Ejakulation zu tun: Dem Mann steht sein Samen nur in begrenzter Menge zur Verfügung, während die genitalen Säfte der Frau aus unerschöpflichen Quellen fließen und nie versiegen. Während der Mann seine Ejakulation deshalb kontrollieren muss, der Verlust seines Samens ihn schwächt und wertvolle Lebenskraft kostet, kommt die Frau mehrmals zum Orgasmus und ejakuliert so häufig wie möglich. In diesem Konzept von Sex und Erotik ist die Frau potent. Sie spendet ihre wertvolle Flüssigkeit großzügig und genießt ihre unbegrenzte Lust. Als idealer Sex gilt häufiger, langsamer und abwechslungsreicher Sex, bei dem die Frau kommt und ejakuliert, der Mann seine Energien genussvoll auffrischt und nur dann ejakuliert, wenn eine Schwangerschaft erwünscht ist (als fruchtbare Zeitspanne gelten die fünf Tage nach dem Ende der Menstruation).

Wie genau sieht dieser »ideale« Sex aus? Wie berührt und küsst man sich, um die weiblichen Säfte zum Fließen zu bringen? Wie feiert man die gemeinsame Lust und die körperliche Vereinigung? Und wie hütet man sich vor »falschem« Sex, Sex, bei dem der Mann ejakuliert, die Frau aber nicht auf ihre Kosten kommt? All das erklären die chinesischen Sexhandbücher, die ältesten unter ihnen vor mehr als 2000 Jahren geschrieben. Sie sind die Aufklärungs- und Ratgeberliteratur der chinesischen Oberschicht und werden zum Beispiel zur Hochzeit verschenkt. Texte wie das Sexhandbuch von Master Wu-Ch’eng (Wu-ch’eng-tzu-yin-tao) oder Über das Vereinen von Yin und Yang (Hé yīn yáng) beschreiben den menschlichen Körper, die sexuelle Reaktion und den Höhepunkt präzise und erläutern die gesundheitlichen Auswirkungen körperlicher Erregung und Vereinigung. In Diskussion der optimalen Methode unter den Himmeln (Tiān xià zhì dào tán), einem über 2200 Jahre alten Text, heißt es erklärend:

»der mensch wird geboren und hat zweierlei nicht zu lernen:

zum einen das atmen und zum andern das essen.

ausser diesen zweien gibt es nichts,

was nicht zu erlernen und einzuüben wäre.

darum ist, was das leben reproduziert, das essen,

was das leben mindert, die sinneslust;

für weise personen ist es darum

beim vereinen von mann und frau unumgänglich

über verhaltensrichtlinien zu verfügen.«38

Jīng, der »Seim«, ist eine der wichtigsten Körperflüssigkeiten. Der Begriff umfasst alle Säfte, die weißlich oder halbdurchsichtig, zähflüssig oder schleimig sind. Speichel, Schweiß und Milch sind jīng, die männlichen und weiblichen Sexflüssigkeiten sind jīng. Das Ejakulat des Mannes wird auch als yīng jīng bezeichnet, »Seim der verborgenen Partien«39. Die jīng-Essenz der Frau umfasst all ihre genitalen, sexuellen Flüssigkeiten: Die Feuchtigkeit der Vagina, die gleich zu Anfang des Vorspiels einsetzt, und eine zweite, quantitativ weit darüber hinausgehende Flüssigkeit, die kurz vor oder parallel zum Höhepunkt aus der Vulva oder Harnröhrenöffnung fließt oder spritzt – die weibliche Ejakulation. Dieser Saft hat viele Namen: yīng jīng, ch’i40, Brunnensaft, Ambrosia, Mondblumenwasser, Pfirsich- oder Melonensaft.41 Der Mann kann ihn mit seinem Penis »trinken« (he), »konsumieren« (shih) oder »inhalieren« (hsi).42

Von der vorchristlichen Zeit bis ins 17. Jahrhundert gibt es kein chinesisches Handbuch über Sex, das nicht diesen wesentlichen Unterschied zwischen den Geschlechtern thematisiert. Der Seim des Mannes, Quelle seiner Gesundheit und Lebenskraft, muss mit größter Umsicht »verwaltet« werden. Jede sexuelle Begegnung kann ihn schwächen, krank werden und vor der Zeit altern lassen. Ein Mann zieht seinen größten gesundheitlichen Vorteil deshalb aus dem coitus reservatus und ejakuliert nur dann, wenn eine Schwangerschaft erwünscht ist. Der Verzicht auf den Samenerguss wird mit Gesundheit und Verjüngung belohnt. Eine gelungene sexuelle Begegnung kann weißes Haar wieder schwarz werden, ausgefallene Zähne nachwachsen lassen. Hält der Mann seinen Samen beim Orgasmus zurück, kann dieser über die Wirbelsäule ins Gehirn steigen und zu »geistiger Erhellung« und Erleuchtung führen. Der Mann, der

»sämigfeinen geist [den männlichen Samen; S. H.] hochschlürft,

vermag erst dauerhaft zu sehen

und mit himmel und erde gleichgestellt zu bestehen.«43

Ein hundertfaches Anwachsen seiner Kräfte verspricht der mittelalterliche Text Xuang Nü Chin (Lehrbuch des einfachen Mädchens oder Klassiker des einfachen Mädchens) dem Mann, der nicht ejakuliert:

»Sobald das Weib Freude verspürt, wird sie selbst anfangen, sich zu bewegen, und ihre Säfte werden frei zu fließen beginnen. Alsdann kann er so weit eindringen, wie es möglich ist. Wenn sie ihren Orgasmus erreicht hat, halten sie ein. Praktiziere dies, ohne [dein Sperma] zu verlieren, und deine Kräfte werden um das Hundertfache anwachsen.«44 Die unerschöpfliche yin-Essenz der Frau ist von anderer Qualität. Ihre Säfte sind für den Mann Nahrung und Medizin. Eine Frau darf ungestraft masturbieren oder mit anderen Frauen schlafen, denn es gilt: Je häufiger sie Sex hat, umso energiereicher werden ihre Säfte. Und davon profitiert wiederum ihr männlicher Partner. Der Mann setzt deshalb alles daran, seiner Partnerin sexuelles Vergnügen zu schenken, ihre Säfte zum Fließen zu bringen und den Koitus zu verlängern, damit er lange und reichlich »trinken« und »saugen« kann. Auch andere weibliche Substanzen wie Atem, Schweiß, Speichel oder Milch kräftigen ihn. Nichts aber schenkt ihm so viel Energie wie ihre yin-Essenz.45 Beim Sex kommt es zu einer Umkehrung der sozialen Rollen: Der Penis wird zum »Gast« in der Vagina der Frau. »Seimbedürftige« Männer, die die Frau um ihr yin beneiden, treffen beim Sex auf verschwenderische »Lebensspenderinnen«46.

Frauen erhitzen beim Sex nur langsam, kühlen aber, vergleichbar dem Wasser, auch nur langsam wieder ab. Deshalb lieben Frauen »Langsamkeit« (hsü) und »Dauer« (chiu) und verabscheuen »Hast« (chi) oder »Gewalt« (pao).47 Ein ausgedehntes Vorspiel gilt in den chinesischen Texten als unverzichtbar und Männer penetrieren ihre Partnerinnen erst spät, dann variantenreich. Flache und tiefe, schnelle und langsame Stöße wechseln einander ab. Alte Sexhandbücher beschreiben für die Penetration bis zu 30 Positionen wie »der Weg des Tigers«, »die kämpfenden Affen« oder »der umgekehrte Drache«. Chinesische Texte inszenieren den Geschlechtsverkehr als trickreiches Spiel um die lebensverlängernde Energie des jeweils anderen.48 Da nämlich auch Frauen vom Seim ihres Partners profitieren, versuchen sie, ihn zu »stehlen«. Verführt sie ihn zum unbeabsichtigten Samenerguss, ist sie Siegerin. Nichts ist gefährlicher als unkontrollierte Lust: »Wenn sich der Samen anzukündigen beginnt, verlasse schnell das Land! Mit einem Weib zu schlafen, ist wie auf ein galoppierendes Pferd mit morschen Zügeln aufzusitzen, wie am Rande eines tiefen Abgrunds zu wandeln, dessen Grund mit Schwertern gespickt ist, und in den zu fallen man sich fürchtet. Spare mit deinem Samen, damit dein Leben nicht ein Ende nimmt!«49 Eine unbefriedigte Frau ist nicht »zu halten« und Frauen, die beim ehelichen Sex nicht auf ihre Kosten kommen, setzen ihrem Ehemann beim Beischlaf mit fähigeren Liebhabern Hörner auf – das wissen schon vorchristliche Texte. Ist eine Frau sexuell hingegen erfüllt, beglückt das Zusammenleben in vielerlei Hinsicht. Für den Mann lohnt es sich unbedingt, ein guter Liebhaber zu sein und Ausdauer, Körperbeherrschung, Beobachtungsgabe, Empathie und »Technik« zu üben und zu vervollkommnen.

Damit sich Mann und Frau in Harmonie vereinigen können, soll der Mann lernen, die Lust der Frau zu »lesen«. Die alten chinesischen Texte zeichnen ihre sexuelle Reaktion lückenlos nach und geben präzise Anleitung, wie er auf welches Zeichen von ihr reagieren soll. Wie rötet sich das Gesicht der Liebsten, wie stöhnt und seufzt sie, wie krümmen sich ihre Zehen, wie hebt sich ihr Becken, wie duften und fließen ihre Säfte? Ist jetzt das Streicheln ihrer Arme angebracht, wünscht sie tiefes oder flaches Stoßen, schnelle oder langsame Bewegungen, einen Wechsel der Position oder ein Innehalten? Der weibliche Körper wird genau beobachtet, Farbe, Größe, Tiefe und Flüssigkeiten ihres Genitales mit Detailfreude und Poesie beschrieben. Die Texte kartografieren Teile der Vagina, für die wir heute höchstens Fachbegriffe kennen. Aber ein erotisches Wort, für die Fläche links und rechts neben dem Gebärmutterhals? Eine Wahrnehmung von und ein Wort für die Wände des Vaginalkanals, die G-Fläche ausgenommen?

Zwei über 2200 Jahre alte chinesische Texte, die »weltweit zu den frühesten erhaltenen zeugnissen eines solch detaillierten sexualwissens zählen«50, zeugen von diesem Blick auf Körper und Sex: die Bambustexte aus Mawangdui. Der Schweizer Sinologe Rudolf Pfister hat die Texte übertragen und kommentiert. Und er entdeckt in den uralten Aufzeichnungen zwei Phänomene, die mehr als zwei Jahrtausende später heftig debattiert werden: die Ejakulation und die G-Fläche der Frau.

Spritzen. Geschichte der weiblichen Ejakulation

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