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EIN SCHRITT VOR, ZWEI ZURÜCK

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Seit den 1980er Jahren erschienen etliche Untersuchungen und Studien zur weiblichen Ejakulation. Mediziner_innen untersuchten das Phänomen anatomisch, biochemisch, endoskopisch und radiologisch, sie gingen ihm mit Ultraschall und Kernspintomografie auf den Grund. Und trotzdem sind sich Sexualwissenschaftler_innen, Urolog_innen, Patholog_innen, Anatom_innen und Gynäkolog_innen bis heute nicht einig, wo und wie genau die Flüssigkeit entsteht und wie und wohin Frauen ejakulieren. Irritierenderweise wurden und werden neue Erkenntnisse zur Ejakulation und zu den Teilen der weiblichen Anatomie – weibliche Prostata, Klitoriskomplex, Harnröhre (Urethra) –, die mit ihr in engster Verbindung stehen, immer wieder »vergessen«. So hat zum Beispiel dasFederative International Committee for Anatomical Terminology (FICAT), dessen Ziel die Festlegung einer international einheitlichen, verbindlichen medizinischen Terminologie ist, bereits 2001 beschlossen, den Begriff »weibliche Prostata« (»female prostate«) in die nächste Ausgabe der bis heute weltweit geltenden Terminologia Histologica aufzunehmen.10 Sucht man heute in aktuellen medizinischen Standardwerken und Lehrbüchern nach Informationen über die weibliche Prostata oder konsultiert populäre Online-Portale, wird man enttäuscht: Falls die weibliche Prostata erwähnt wird, dann vereinfachend und ohne eine einheitliche Terminologie zu verwenden.11 Dass die weibliche Prostata ein funktionierendes Organ ist und das Homolog (also auf die gleiche embryologische Anlage zurückzuführen) der männlichen Prostata, bleibt meist unerwähnt.12 Die Prostata und die Ejakulation werden in der Regel ausschließlich im Zusammenhang mit dem männlichen Körper beschrieben und erklärt.13 Die Artikel zur »Prostata« in der deutschen Wikipedia oder auf Net-Doktor sind Beiträge zur männlichen Vorsteherdrüse.

Medizin und Anatomie waren und sind keine stable sciences, sondern geprägt von sozialen, kulturellen, politischen und ökonomischen Faktoren. Lange lagen sie in der Hand von Männern und wurden so von männlichen Perspektiven, Wünschen und Bedürfnissen geformt. Strukturen des weiblichen Körpers, die nicht in ein bestimmtes Konzept von Weiblichkeit passten, wurden nicht wahrgenommen oder ignoriert. Gesellschaftlich verankerte Frauenverachtung spiegelte sich auch im Desinteresse am weiblichen Körper, seiner Anatomie, sexuellen Reaktion und Lust. Frauenkörper wurden lange als minderwertige Ausgaben des männlichen Körpers verstanden. Selbst heute lesen sich einige Formulierungen in Standardwerken der Medizin noch wie ein schwaches Echo dieser Sichtweise: Die weibliche Urethra sei »nur« drei bis fünf Zentimeter lang, die Muskelschicht der Scheide »nur«14 schwach entwickelt, die Klitoris entspreche »entwicklungsgeschichtlich dem Penis«15 (dass das männliche Genitale auch als »Abweichung von der grundsätzlich weiblichen Strukturierung« verstanden werden kann, wird Mary Jane Sherfey zeigen, die den Penis als »wuchernde Klitoris«16 interpretiert).

Männer sahen, was sie sehen wollten, und Männer erforschten oder finanzierten, was sie interessierte, auch deshalb, weil Frauen der Zugang zu Wissenschaft und Forschung so lange verschlossen war. Anna Fischer- Dückelmann, eine der ersten Frauen, die Medizin studierten, bedauert in ihrem 1900 veröffentlichten Bestseller Das Geschlechtsleben des Weibes: »Untersuchungen über das Geschlechtsleben existierten bis jetzt nur von dem Manne und in wissenschaftlich ernster Form nur für den Mann. Er allein erforschte es, er allein machte auch das Weib zum Gegenstand des Studiums.«17

Der weiblichen Sexualanatomie und Lust wurde überraschend lange nur wenig Aufmerksamkeit geschenkt und selbst heute gelten Sexualität und Anatomie der Frau als »partie obscure et inconnue de la médecine«18. Das weibliche Geschlechtsorgan wurde lange insbesondere im Hinblick auf seine reproduktiven Aufgaben und seine sexuelle Funktion für den Mann (vaginale Penetration) beschrieben, erklärt und definiert. »Der Eingang der Mutterscheide hat eine dem männlichen Glied angemessene Größe«19 heißt es beispielhaft in einer Publikation von 1800.

Das weibliche Genitale wurde in Anatomiebüchern jahrhundertelang unvollständig dargestellt. Sein Verschwinden-Lassen aus dem medizinischen Diskurs und der öffentlichen Wahrnehmung ist für die androzentrische »Erforschung« des Frauenkörpers exemplarisch und wurde jüngst als »einer der größten Diebstähle der Geschichte«20 bezeichnet. Dass die Klitorisperle nur der sichtbare Teil eines viel größeren, komplex agierenden, bei Erregung anschwellenden Organs ist, wurde im 20. Jahrhundert immer wieder erklärt: Alfred Benninghoff und Kurt Goerttler zeigen in ihrem Lehrbuch der Anatomie des Menschen (1957) eine präzise Zeichnung und Beschreibung der Klitoris des Menschen, die u. a. 1974 in der DDR in der dreibändigen Ausgabe Sexuologie. Geschlecht, Mensch, Gesellschaft (1974) reproduziert wird,21 die US-amerikanische Psychiaterin Mary Jane Sherfey beschreibt die tief in den Körper reichenden Strukturen der Klitoris in den 1970er Jahren, die feministische Frauengesundheitsbewegung verbreitet die neue Darstellung der Klitoris in den 1980er Jahren u. a. über den Bestseller Frauenkörper neu gesehen, die australische Urologin Helen O’Connell »entdeckt« Ende der 1990er Jahre die innere Klitoris und vermarktet diese »revolutionäre« Entdeckung medienwirksam. Trotzdem ist es heute alles andere als Allgemeinwissen, dass das sichtbare Stück der Klitoris nicht »die Klitoris« ist. Die Klitoris reicht mit bis zu neun Zentimetern Länge und sechs Zentimetern Breite tief in den Körper, umfasst neben Perle und Kapuze den Schaft, zwei Schenkel und zwei Schwellkörper. Der sichtbare Kopf ist mit bis zu 8000 Nerven- und Sinneszellen der neben den Fingerkuppen am dichtesten innervierte Teil der Körperoberfläche des Menschen. Und doch nur die Spitze des Eisbergs.


Zeichnung aus Sexuologie. Geschlecht, Mensch, Gesellschaft (1974). 10 Glans clitoridis/Eichel des Kitzlers; 11 Crus clitoridis/Schwellkörperschenkel des Kitzlers; 12 äußere Harnröhrenmündung; 13 Vorhofschwellkörper; 14 Scheideneingang; 15 Bartolinische Drüse

Sylvia Groth und Kerstin Pirker resümieren 2009 in clio, der vom Berliner Feministischen Frauen Gesundheits Zentrum herausgegebenen Zeitschrift für Frauengesundheit: »Diese Erfahrungen und das durch Selbstuntersuchungen erworbene Wissen über Klitoris, Vulva und Vagina der Frauengesundheitsbewegung der 70er Jahre schlugen sich nicht in den sexualpädagogischen Materialien nieder, sie fanden und finden sich nicht in der medialen Berichterstattung, nicht in Schulbüchern, in Literatur oder Film. Die neue Sicht der Klitoris und der weiblichen Sexualität hat bisher auch kaum Eingang gefunden in die Ausbildung der Gesundheits- und Bildungsberufe, z. B. der Ärztinnen.«22

Nicht nur der Transfer bedeutender Forschungsergebnisse aus der Wissenschaft in die Öffentlichkeit ist oft missglückt, auch Expert_innen wissen häufig zu wenig. Der Wiener Urologe Florian Wimpissinger, der zu weiblicher Prostata und Ejakulation geforscht und publiziert hat, wundert sich: »Interessant ist, dass selbst anatomisch und chirurgisch versierte Spezialisten aus den Reihen der Fachärzte für Urologie und Gynäkologie sowie Anatomie die Frage nach der Existenz einer Prostata der Frau meist nicht sicher beantworten können.«23 Oder, um eine US-amerikanische, auf Vaginalschmerzen (Vulvodynie) spezialisierte Ärztin und Therapeutin zu zitieren: »Was die medizinische Versorgung und das Wissen um den Bereich der Vagina betrifft, befinden wir uns absolut im Mittelalter.«24 Wer hätte gedacht, dass die Physiologie von Vagina, Klitoris und Harnröhre auch im 21. Jahrhundert noch zu Teilen unerforscht ist? Die disparaten Sichtweisen auf die weibliche Ejakulation und die Prostata der Frau spiegeln dieses fehlende Wissen und das mangelhafte oder widersprüchliche Verständnis weiblicher Sexualphysiologie.

Ein weiteres Hindernis in der Erforschung der weiblichen Ejakulation war und ist die medizinische Trennung des weiblichen Harn- und Genitalsystems. Beide werden als »funktionell vollständig voneinander getrennt«25 beschrieben und erforscht. Damit sind zum einen die Urolog_innen, zum anderen die Gynäkolog_innen für die Organe und die sie umgebenden Strukturen »zuständig«. Dabei haben sich beide Organsysteme aus einer gemeinsamen embryologischen Anlage, dem Sinus urogenitalis, entwickelt und Gebärmutter, Vagina und Harnröhre sind eng miteinander verbunden. So ist beispielsweise die Harnröhre fast über ihre ganze Länge in das Bindegewebe der vorderen Vaginalwand eingebettet. Um die weibliche Ejakulation zu verstehen, müssen Ergebnisse aus urologischer und gynäkologischer Forschung zusammengebracht, müssen Klitoriskomplex26, Harnröhre, Prostata und Vagina als anatomische und funktionale Einheit begriffen werden. Daraus folgt zum Beispiel auch, wie u. a. die Psychologin Josephine Lowndes Sevely nachgewiesen hat, dass die weibliche Harnröhre ein Sexualorgan ist.

Spritzen. Geschichte der weiblichen Ejakulation

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