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EXKURS: DIE WEIBLICHE EJAKULATION IM TANTRA, TEIL I

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Im tantrischen Buddhismus, der seit der Pala-Zeit (8.–12. Jahrhundert n. u. Z.) als wichtige religiöse Bewegung ganz Asien prägt, werden Frauen und ihr Körper verehrt. Es gibt weibliche Buddhas und »Gründungsmütter«, denen man huldigt. Und es gibt sogar eine ganz besondere Schöpfungsgeschichte: Die tantrische Göttin Kubjika, auch Śukrādevī, »Samengöttin«93, genannt, lebt zurückgezogen und alleine in einer Höhle. Als sie ihres asketischen Lebens überdrüssig wird, leckt sie ihre Vulva. Dieser akrobatischen Haltung verdankt Kubjika ihren Namen: die Krumme oder Bucklige.94 Die Göttin kommt zum Orgasmus und ejakuliert. Ihr »Samen« spritzt aus der Vulva, dem Zentrum ihrer yoni, dem Mandala Kubjikas.95 Kubjika erschafft das Universum aus Masturbation und weiblichem Ejakulat.96

Das Sanskritwort yoni bedeutet Quelle, Schoß, heiliger Ort, es wird zur Bezeichnung des inneren und äußeren weiblichen Genitales verwendet und steht für die weibliche, göttliche Energie. Die yoni und ihre sexuellen Flüssigkeiten sind heilig. Im Tantra gibt es zahlreiche Rituale zur Verehrung der yoni und ihrer Sexualflüssigkeiten97, eines davon das maithuna oder yoni-puya. Die tantrische Philosophie ist das gemeinsame Werk von Männern und Frauen und herausragend in der Wertschätzung des weiblichen Körpers. Frauen nehmen aktiv und gleichberechtigt an der tantrischen Bewegung teil. Sie lehren und praktizieren wie die Männer auch. Tantrische Texte erläutern, wie Frauen respektvoll behandelt und wie sie rituell geehrt werden sollen. Die ideale Beziehung von Mann und Frau gründet auf Partnerschaft, Kooperation und Gleichheit:98

»Frauen sollten geehrt werden.

Frauen sind der Himmel, Frauen sind die Wahrheit,

Frauen sind das höchste Feuer der Transformation.

Frauen sind der Buddha,

Frauen sind die religiöse Gemeinschaft,

Frauen sind die Vollendung der Weisheit.«99

Die Erleuchtung ist für Mann und Frau das Ziel religiöser Praxis. Meditation, yoga, und mudrā, symbolische Handgesten, helfen, sie zu erreichen. Und Sex. Der rituell ausgeführte Geschlechtsverkehr, mit Orgasmus und Ejakulation von Mann und Frau, stimuliert sexuelle und spirituelle Energien. Je länger der Sex dauert, umso effektiver ist er. Die sexuelle Begegnung im Tantra ist lustvoll und spirituell. Der Atem, die Flüssigkeiten und Energien wandern zwischen den Körpern, sie werden ausgetauscht und erneuert. Der Mann kontrolliert seine Erektion, seinen Orgasmus und seine Ejakulation und bringt die Flüssigkeiten seiner Partnerin zum Fließen. Beide setzen »die Energien und Sekrete ihrer Körper ein, um erleuchtete Wesen (…) zu werden«100. Die Erleuchtung und nicht die Fortpflanzung ist das Ziel von Sex und dem Vermischen der Säfte. Männliches und weibliches Ejakulat werden als śukra bezeichnet. Die weibliche Sexualflüssigkeit heißt auch madhu, das ist etwas Süßes wie Honig, Wein oder Nektar, oder »Blumenwasser«, »Moschus des Verlangens«, »Moschus des Berauschtseins«.101 Alte tantrische Texte bezeichnen das weibliche Ejakulat manchmal als »rot«, wobei sich dies nicht auf die Farbe der Flüssigkeit bezieht, sondern auf den hormonellen Anteil der weiblichen Sexualflüssigkeit.102 Die Erwähnung der Farbe führt allerdings zu zahlreichen Übersetzungsfehlern, die das weibliche Ejakulat in den übersetzten Texten zum Verschwinden bringen. In den Übersetzungen, u. a. auch ins Deutsche, wird aus dem Ejakulat Menstruationsblut. Bei der tantrischen Vereinigung vermischen sich männliche und weibliche Sexualflüssigkeiten:

»In der heiligen Zitadelle der Vulva

einer überragenden, geschickten Partnerin,

vollziehe die Praxis, den weißen Samen

mit ihrem Ozean roten Samens zu vermischen.

Dann absorbiere den Nektar,

laß ihn aufsteigen und sich verteilen –

für einen Strom von Ekstase,

Ekstase, wie du sie nie zuvor gespürt hast.«103

Die Sexualflüssigkeiten besitzen eine besondere Kraft, sie nähren den Geist. Deshalb werden sie, nachdem sie sich vermischt haben, entweder über den Penis (vajroli-mudra104), die Vagina oder oral aufgenommen: »Dies ist die vorzüglichste Nahrung, die alle Buddhas ernährt.«105 Es gibt eine Vielzahl von Tantraritualen, bei denen das weibliche Ejakulat pur oder vermengt mit männlichem Samen oder Wein getrunken wird.106 Obwohl Mann und Frau ihre Flüssigkeiten mischen und wechselseitig aufnehmen, wird auch im tantrischen Buddhismus etwas mehr Aufmerksamkeit darauf gelegt, dass der Mann weibliche Flüssigkeit absorbiert. Das Hevajra-Tantra fordert den Mann sogar auf, schreibt die Religionswissenschaftlerin Miranda Shaw in ihrer großen Studie zu Frauen im Tantra-Buddhismus, »die weibliche Essenz in allen zukünftigen Leben aufzunehmen, bis er Erleuchtung erlangt«.107 Tamilische Tantratexte beschreiben eine weibliche Sexualflüssigkeit (tiravam), die dem männlichen Samen (vintu) entspreche und spirituell, medizinisch und therapeutisch eingesetzt werden könne. Männlicher Samen und weiblicher Sexualsaft werden aufgefangen, gemischt und den Gottheiten geopfert. Trinkt ein Tantriker beide Säfte, fördere dies seine Potenz und Gesundheit. Die Säfte werden gemischt und zu Tabletten verarbeitet, mit denen psychische Krankheiten behandelt werden.108 Einen cunnilingischen Liebesakt beschreibt das mittelalterliche tamilische Gedicht Kāmapānacāstiram (Traktat über den Pfeil der Lust). Der Text feiert das Lecken, Küssen, Saugen und zärtliche Beißen der yoni, ihr Schwellen, Feuchtwerden und Sich-Ergießen. Er lädt dazu ein, die »zarten Düfte der Yonisäfte« tief einzuatmen, denn sie sind wohlriechend und, vermischt mit dem männlichen Samen, ein belebendes Getränk.109

Die große Wertschätzung der Frau, die Feier des weiblichen Körpers, die Gleichwertigkeit von Mann und Frau und die hierarchielose Begegnung der Körper im Sex sind Aspekte, die das Tantra ab den 1960er Jahren für westliche Emanzipationsbewegungen, für Hippies, Feministinnen oder New-Age-Anhänger_innen so interessant machen wird. Westliche Tantrapionier_innen wie Margo Anand oder Caroline und Charles Muir popularisieren Tantra und vermitteln in ihren Workshops, Büchern und Videos auch altes Wissen über die weibliche Ejakulation.

Die vorgestellten indischen Liebeslehren und tantrischen Texte widmen sich den unterschiedlichen Aspekten einer weiblichen Genitalflüssigkeit, die mit Sex, Genuss und Orgasmus verknüpft ist, nicht mit der Fortpflanzung. Auch in Indien gibt es aber die Vorstellung eines weiblichen Zeugungsstoffes. Die Idee, dass ein Kind aus der Mischung von weiblichem mit männlichem110 Samen entstehe, reicht bis weit in die vorchristliche Zeit zurück. Der Rigveda, einer der wichtigsten Texte des Hinduismus, der vermutlich in der zweiten Hälfte des zweiten Jahrtausends v. u. Z. entsteht oder der Taittiryasamhita (ca. 800 v. u. Z.), erzählen davon. Wie genau der männliche und weibliche Samen das Ungeborene formen und wie sie es prägen, wird unterschiedlich konzipiert. Suśruta, der als erster Chirurg Indiens gilt, glaubt, dass der Fötus dann männlich werde, wenn der männliche Samen überwiege, und das Kind dann ein Mädchen werde, wenn es bei der Zeugung mehr weiblichen Samen (ārtava) gebe.111 Sind die Anteile ausgewogen, könne eine hijra gezeugt werden, ein Kind des dritten Geschlechts.112 Ein weiterer alter Text bringt einen anderen Aspekt als geschlechtsbestimmend ins Spiel: Der »Samen-Stoff« der Frauen sei an geraden Tagen so »gering«, dass aus der ehelichen Vereinigung ein Knabe hervorginge. An ungeraden Tagen sei er hingegen stärker, sodass das Kind ein Mädchen werde.113 Dieser Zahlenzauber ist längst Geschichte. Allerdings findet sich auch im heutigen Indien die Vorstellung eines zeugungsfähigen weiblichen Samens – rāja.114

Spritzen. Geschichte der weiblichen Ejakulation

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