Читать книгу Die einsamen Toten - Stephen Booth - Страница 10

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Sarah Renshaw sah aus, als hätte sie sich an diesem Morgen nicht gekämmt. Ihre Dauerwelle war schon einige Wochen alt, und die Löckchen standen, wie bei einer aufgeplatzten Matratze, in alle Richtungen ab. Ihr karierter Rock war voller Hundehaare, und an den Rändern ihrer Schuhsohlen klebte getrockneter Schlamm.

Zudem glänzten ihre Augen, und ihr Gesicht war von einer unnatürlichen Röte überzogen. Bei einer jüngeren Frau hätte Diane Fry Alkohol oder anderen Drogenmissbrauch vermutet. Aber bei einer Frau in Mrs Renshaws Alter galt ihr erster Gedanke dem Klimakterium. Hitzewallungen und irrationales Benehmen waren die Spezialitäten dieser Jahre.

Fry zuckte innerlich zusammen, wie immer, wenn ihr in einem jener seltenen Momente die eigene Zukunft ihre unfreundliche Fratze entgegenstreckte und sie spöttisch ansah.

Gavin Murfin hatte auf der Treppe fortwährend auf die Renshaws eingeredet, während er sie nach oben begleitete. Und die gesamte Länge des Korridors über hatte Fry ihn seine Witze darüber machen hören, wie schwierig es heutzutage sei, gute Kriminalbeamte zu bekommen. Beim Näherkommen hörte sie Murfin sagen, dass er nach zwölf Jahren Dienst bei der Kripo als Belohnung wieder Streife schieben dürfe, weil man maximal zwölf Jahre als Detective Constable arbeiten könne.

»Natürlich heißt man heutzutage nicht mehr Streifenpolizist«, fügte er hinzu. »Heute heißt man ›Kontaktbereichsbeamter‹. Kommt wahrscheinlich daher, weil alle stöhnen: ›Mann, bitte, keinen Kontakt mit dem.‹«

Murfin hatte die Renshaws in das Büro geschoben und über ihre Köpfe hinweg eine Grimasse in Richtung Fry geschnitten. Sie begriff, weshalb er das Schweigen mit so vielen Worten gefüllt hatte. Alles nur, damit die Renshaws ihm kein Gespräch aufdrängen konnten. Sarah und Howard Renshaw konnten es kaum erwarten, endlich über ihre Tochter zu sprechen. Es war surreal, dass sie in der Gegenwartsform von ihr sprachen, was mit Frys Meinung zu dem Fall kollidierte, die zusehends deutlichere Formen annahm.

»Emma hatte uns am Tag zuvor angerufen, um uns zu sagen, dass sie Donnerstagnachmittag heimkommen würde«, erzählte Mrs Renshaw. »Man kann sich immer darauf verlassen, dass sie anruft.«

»Ja.«

»Aber dann ist sie nicht gekommen. Wir dachten, sie hat es sich anders überlegt oder in Birmingham ist etwas dazwischengekommen. Auf ihrem Handy konnten wir sie aber nicht erreichen, weil es ausgeschaltet war. Deshalb haben wir in dem Haus angerufen, in dem sie während des Semesters wohnt, und ihre Mitbewohnerin hat uns gesagt, dass sie über Ostern nach Hause gefahren sei. Aber sie ist nicht nach Hause gefahren. Sie ist nie angekommen.«

»Nein.«

»Also riefen wir bei der Polizei in Birmingham an, aber die zeigten keinerlei Interesse«, sagte Mrs Renshaw.

»Es war die Polizeidienststelle in Smethwick«, erklärte ihr Mann.

Howard Renshaw war groß und gut gepolstert wie ein Geschäftsmann, der oft üppige Mahlzeiten aß. Doch für einen Geschäftsmann trug er die Haare zu lang. Wenigstens versuchte er nicht, die kahle Stelle auf seinem Hinterkopf zu verbergen, indem er die Haare darüber kämmte. Er wirkte auf jeden Fall gepflegter als seine Frau, als achtete er mehr auf sein Äußeres. Aber den Auftritt überließ er Sarah, denn er hatte seinen Stuhl ein Stück hinter den ihren geschoben.

»Auf jeden Fall hatten sie kein Interesse«, fuhr Sarah unbeirrt fort. »Sie sagten, Emma ist erwachsen und kann tun und lassen, was sie will. Bis wir keinen Beweis für ein Verbrechen hätten, könnten sie nichts unternehmen.«

»Ganz so stimmt das nicht, denke ich«, warf Fry ein. »Ihre Tochter war noch keine einundzwanzig, und unter diesen Umständen werden immer Nachforschungen angestellt.«

Mrs Renshaw schüttelte kurz den Kopf, als belästigte sie eine kleine Fliege. »Also fuhren wir selbst zu diesem Haus in Bearwood, in der Darlaston Road Nummer 360B. Wir mussten den Hauswirt bitten, uns Emmas Zimmer zu öffnen, weil jeder Mieter seinen eigenen Schlüssel hat. Eine von Emmas Taschen fehlte. Sie muss auch ein paar Kleidungsstücke eingepackt haben.«

»Was war mit ihren persönlichen Gegenständen? Geldbörse? Autoschlüssel?«

»Sie besitzt ein paar Umhängetaschen und mehrere dieser kleinen Rucksäcke, deshalb war es schwer, zu sagen, welche Tasche sie mitbringen würde. Aber ihre Geldbörse war nicht da, auch keine Kreditkarten oder ihre Schlüssel.«

»Sie hat einen Wagen, wollte ihn aber nicht in die West Midlands mitnehmen«, erklärte Howard. »Der Wagen steht noch in unserer Garage. Ein Audi.«

»Er ist erst zwei Jahre alt«, fügte Sarah hinzu.

»Aber wenn sie ihr Portemonnaie, Geld, ihre Kreditkarten –«

»Ja, das wissen wir. Die Polizei sagte, sie kann sonst wohin gefahren sein, wenn sie Geld bei sich hat.«

»Ich fürchte, solche Dinge passieren immer wieder, Mrs Renshaw. In einer Stadt voller Studenten hat die Polizei jedes Jahr mit vielen ähnlichen Fällen zu tun.«

»Emma studiert an der Hochschule für Kunst und Design in Birmingham«, belehrte sie Sarah, als unterschiede sie dieser Umstand von allen anderen Studenten. »Sie will ihren Bachelor-Abschluss in bildender Kunst machen. Ihr Interesse gilt vor allem der Kombination Marketing und Design. Letztes Jahr hätte sie einen Platz bekommen, aber den konnte sie natürlich nicht antreten. Es wird schwer für sie werden, das alles aufzuholen.«

»Emma ist ungemein begabt, wissen Sie«, sagte Howard. »Sie müssen sich ihre Arbeiten mal anschauen. Wir haben alles Mögliche von ihr zu Hause. Ein paar Sachen haben wir aus ihrem Zimmer in Bearwood mitgebracht – die Projekte, an denen sie während des Semesters arbeitete.«

»Ihr wäre es bestimmt nicht recht, wenn sie verloren gehen«, sagte Sarah. »Manches ist noch nicht fertig.«

Noch nicht fertig? Diane Fry betrachtete das Paar genauer. Hoffnung war eine Sache, aber glaubten die Renshaws wirklich, dass ihre Tochter morgen oder übermorgen wieder vor der Tür stünde, um ihre Projekte zu beenden oder eine Runde mit ihrem Audi zu drehen?

Sie bemerkte, wie Sarah Renshaw sich zu ihrem Mann umdrehte, einen bedeutungsvollen Blick und ein kleines Lächeln mit ihm tauschte, als wären sie allein im Raum.

»Wir haben Plakate drucken lassen«, erzählte Howard. »Mein Bruder hat das für uns in seinem Büro organisiert. ›Haben Sie dieses Mädchen gesehen?‹, stand darauf. Wir haben sie bei Zeitungshändlern und in den Häusern von Studentenvereinigungen aufgehängt. Auch an anderen Orten, die sie in Birmingham und im Black Country häufig aufsuchte. Nicht unbedingt immer die angenehmsten Orte. Sie wissen schon – Bars und Clubs, nicht die Art Etablissement, die wir – oder Emma – normalerweise aufsuchen würden. Aber sie studiert nun mal und führt ein völlig anderes Leben als wir. Dafür haben wir auch Verständnis.«

»Sie studiert schließlich Kunst«, ergänzte Sarah. »Als Kunststudentin darf man ruhig ein bisschen unkonventionell sein, nicht wahr?«

»Aber niemand hatte sie dort gesehen?«

»Nein.«

»Mr und Mrs Renshaw, Ihnen ist bekannt, dass die Polizei in West Midlands damals Ermittlungen angestellt hat.«

»Ach ja? Aber was waren das für Ermittlungen? Wir dachten, sie würden von Haus zu Haus gehen, alles gründlich durchsuchen. Oder Hubschrauber mit Wärmekameras einsetzen. Alles das, was man immer in den Nachrichten sieht, wenn die Kinder anderer Leute verschwinden. Aber nichts davon ist geschehen. Und wir haben uns immer wieder darüber beschwert. Mehrmals haben wir mit einem Inspector gesprochen. Wir haben uns an die Zeitungen gewandt, um darauf hinzuweisen, wie wenig die Polizei in unserem Fall unternimmt. Aber es hat nichts genützt. Wir waren denen allen nur lästig.«

»Bei Kindern würde man zu den von Ihnen erwähnten Maßnahmen greifen. Aber Emma war neunzehn. Und, wie ich bereits sagte …«

»… so etwas passiert immer wieder. Ja, das wissen wir. Hunderte junger Menschen werden jedes Jahr vermisst, und fast alle kehren unbeschadet wieder nach Hause zurück. Das hat man uns alles erzählt. Aber bei unserer Tochter ist das etwas anderes.«

»Mir ist bewusst, wie schwierig die Lage für Sie ist. Es muss wirklich nicht leicht sein, damit zu leben.«

»Nicht leicht? Wissen Sie, wir bekommen schon panische Angst, wenn wir in einer Menge getrennt werden. Oder wenn es nur so aussieht, als hätten wir einander verloren. Erst wenn Sie selbst erlebt haben, was es heißt, plötzlich einen Menschen zu verlieren, der zu Ihnen gehört, können Sie das begreifen. Es ist, als würde man von einem Teil von sich selbst abgeschnitten. Diese Angst hat Sie vollständig im Griff, ein Leben lang. Ich glaube nicht, dass einer von uns jemals wieder dieses Gefühl loswird. Jedenfalls nicht, solange wir Emma nicht gefunden haben.«

»In welcher psychischen Verfassung war Emma denn vor ihrem Verschwinden?«

»Verfassung? Na ja, wie immer, würde ich sagen.«

»Bekanntlich bedeutet ein Studium oft einen großen Druck für junge Menschen«, sagte Fry behutsam. »Manchmal ist es sehr schwierig für sie, das erste Mal weit weg von zu Hause zu leben, sich vielleicht mit Geldsorgen herumschlagen zu müssen. Und dann sind da noch die vielen Examen und so weiter. Hatte Emma vielleicht Sorgen? War sie bedrückt? Was denken Sie?«

»Da war bestimmt nichts, jedenfalls nichts Besonderes.«

»Ich verstehe. Aber das Heimweh, der Geldmangel, die permanenten Prüfungen … Da stürmt allerhand ein auf die jungen Leute. Und wenn dann noch irgendwelche emotionalen Probleme dazukommen, läuft das Fass über.«

Die Renshaws sahen sie verwirrt an.

»Ein Freund«, erklärte Fry. »Hatte Emma womöglich Probleme mit einem Freund?«

»Das wissen wir nicht.«

»Vielleicht war sie an diesem Abend, am Donnerstag, mit jemandem verabredet. Es könnte doch etwas passiert sein, das sie aus der Fassung gebracht hat. Vielleicht hatte sie Streit mit ihrem Freund. Wissen ihre Mitbewohner denn nicht, ob sie mit jemandem näher befreundet war?«

Mrs Renshaw schüttelte den Kopf. »Ihre Freunde sagen, es gab niemanden. Jedenfalls niemand Speziellen, sie war immer in einer Gruppe mit Kommilitonen unterwegs. Sie trafen sich auf ein Bier in der Kneipe oder fuhren abends nach Birmingham hinein. So was in der Art. Es sei denn, Emma hatte Kopfschmerzen und keine Lust, auszugehen.«

»Litt sie denn öfter unter Kopfschmerzen?«

»Hin und wieder. Das sei der Stress, sagte sie. Manche der Hausaufgaben und Prüfungen empfand sie manchmal als belastend.«

»War sie wegen ihrer Kopfschmerzen in Behandlung?«

»Nein, soweit wir wissen nicht.«

»Oder wegen des Stresses?«

»Wir denken nicht.«

»Stress zu bewältigen kann für junge Menschen, die nicht zu Hause leben, recht hart sein. Es ist nicht gut, Probleme in sich hineinzufressen.«

Noch während sie das sagte, wusste Fry, dass sie sich diesen Rat hätte sparen können. Das Gegenteil von hineinfressen war, dass man jemanden hatte, mit dem man über diese Dinge sprechen konnte. Sie selbst konnte ihren eigenen Rat nicht befolgen und hätte ihn sich auch verbeten. Aber die Renshaws verübelten es ihr nicht.

»Sie sprach mit uns nicht viel über solche Dinge, aber in dem Haus wohnte noch ein anderes Mädchen, Debbie. Sie waren befreundet.«

»Wie viele Personen wohnten insgesamt in dem Haus?«

»Vier.«

»Dann waren da also noch zwei junge Männer?«

»Ja.«

»War das für Sie in Ordnung?«

»Wir haben Vertrauen zu unserer Emma«, sagte Sarah. »Außerdem kennen wir Alex Dearden. Er ist ein netter Junge. In der Hinsicht machten wir uns keine Sorgen.«

Fry wartete, dass einer von beiden über Neil Granger dasselbe sagen würde, aber es kam nichts. Stattdessen tauschten die Renshaws wieder einen bedeutungsschwangeren Blick aus.

»Emma kannte die beiden jungen Männer also schon seit längerem«, mutmaßte Fry.

»Sie haben beide als Kinder in Withens gewohnt und sind zusammen zur Schule gegangen.«

»Dann waren Alex Dearden und Neil Granger also alte Freunde von Emma. Sie kannten beide gut und freuten sich für Ihre Tochter, dass sie zusammen ein Haus mit ihnen bewohnte.«

»Wir kennen sie beide«, sagte Howard.

»Eine derartige Konstellation könnte unter bestimmten Umständen aber auch zu Spannungen führen.«

»Ich denke nicht, dass das für Emma ein Problem ist. Sie ist ein sehr ausgeglichener Mensch.«

»Abgesehen von dem Stress, den ihr die Arbeit und die Prüfungen manchmal bereiteten.«

»Ja.«

Mr Renshaw hatte seine Frau reden lassen und wandte sich nun an Fry. »Emma ist nicht der Mensch, der sich umbringt«, warf er ein. »Da sind wir ganz sicher.«

»Oh, ganz sicher«, bestätigte seine Frau.

»Vielen Dank.« Fry seufzte. Ihr war nicht entgangen, dass sie jedes Mal, wenn sie in Bezug auf Emma die Vergangenheitsform benutzte, sanft von einem der beiden Renshaws korrigiert wurde.

»Sie sehen also, es gibt keinen Grund, weshalb sie nicht zurückkommen sollte«, sagte Sarah.

»Mittlerweile sind über zwei Jahre vergangen, Mrs Renshaw.«

»Aber es gibt keinen Grund, weshalb sie nicht zurückkommen sollte.«

Howard Renshaw beugte sich lächelnd vor wie ein wohlwollender Mediator, der versuchte, die plötzlich entstandene Spannung zu entschärfen und die Wogen zu glätten.

»Es gibt viele junge Menschen, die lange Zeit vermisst sind«, versuchte er zu vermitteln.

»Ja, ich weiß, Mr Renshaw«, antwortete Fry.

»Und viele tauchen wieder auf, gesund und munter – manchmal erst nach vielen Jahren.«

»Ja.«

»Und Sie wissen sehr wohl, dass die polizeilichen Ermittlungen damals keinerlei Hinweise auf ein Verbrechen erbrachten.«

»Richtig«, erwiderte Fry.

Aber Howard Renshaw war hellhörig genug, um ihr kurzes Zögern zu bemerken.

»Zumindest hat man uns das damals erklärt«, sagte er und fixierte sie mit einem vorwurfsvollen Blick.

»Jetzt gibt es neue Beweise«, fuhr Fry fort.

»Beweise?«

»Ich fürchte, wir haben Emmas Handy gefunden.«

»Wo?«, fragte Howard.

»Im Wald etwas außerhalb von Chapel-en-le-Frith.«

»Können Sie uns Näheres dazu sagen?«

»Im Augenblick noch nicht, Sir. Wir wollen das Gebiet erst gründlich absuchen, ehe wir irgendwelche Schlussfolgerungen ziehen.«

Sarah Renshaw lächelte. »Wenn sie ihr Handy verloren hat, erklärt das natürlich, weshalb wir sie nie erreicht haben. Aber ich vermute, es wurde ihr gestohlen.«

»Ja, das ist durchaus eine Möglichkeit«, erwiderte Fry. »Aber man kann diesen Sachverhalt auch noch anders interpretieren. Wir halten uns vorerst noch alle Optionen offen.«

»Was wollen Sie damit ausdrücken?«

Fry entging der leicht hysterische Unterton in Sarah Renshaws Stimme nicht, und ihr Unbehagen wuchs. Sie bemerkte, dass Gavin Murfin neben ihr ebenfalls unruhig auf seinem Stuhl hin und her rutschte, als wollte er am liebsten aufstehen und aus dem Raum stürzen.

»Ich will Sie nicht beunruhigen, Mrs Renshaw. Wir müssen uns nur erneut die Umstände näher ansehen und –«

»Und was?«

Sarah Renshaws Gesicht rötete sich. Fry sah sich verzweifelt nach etwas um, das sie beruhigt hätte. In der Hoffnung auf einen erneuten Auftritt von Mr Renshaw als besänftigenden Vermittler warf sie ihm einen flehenden Blick zu, aber er reagierte nicht. Doch Sarah beruhigte sich von selbst wieder.

»In der Nacht, in der sie nicht nach Hause kam, zündete ich eine Kerze an«, sagte sie. »Seitdem brennt ständig eine Kerze für sie.«

Fry nickte. Sie wusste nicht, was sie erwidern sollte, und beschloss, nicht darauf einzugehen.

»Ich muss zunächst noch ein paar Informationen einholen«, sagte sie, »aber dann würde ich Sie gern zu Hause besuchen, wenn es Ihnen recht ist. Morgen vielleicht.«

»Morgen Nachmittag wäre gut«, antwortete Sarah.

»Werden Sie noch mal mit Emmas Freunden reden?«, wollte Howard wissen.

»Ja. Ich habe vor, mit Alex Dearden und Neil Granger zu beginnen.«

»Alex ist ein netter junger Mann«, sagte Sarah. »Ich hoffe, dass er und Emma eines Tages zusammenkommen.«

Die Renshaws sahen auf die Wanduhr und dann auf ihre Armbanduhren.

»Wir müssen jetzt gehen«, sagte Howard.

»Wir wollen bei der Unterführung auf Emma warten«, fügte Sarah hinzu.

Fry starrte sie an. »Wie bitte?«

Sarah stand auf, lächelte und tätschelte Frys Ärmel. »Keine Sorge«, sagte sie. »Wir haben Führung.«

Sobald die Renshaws gegangen waren, ließ Diane Fry sich von Gavin Murfin die Akten bringen. Murfin hatte Recht gehabt; es hätte geholfen, wenn sie vorgewarnt gewesen wäre. Aber alle in der Division E schienen die Geschichte zu kennen und hatten wahrscheinlich angenommen, sie wüsste ebenfalls Bescheid. Wieder eine dieser kleinen Störungen im Kommunikationsweg, die manchmal so frustrierend sein konnten. Wahrscheinlich hatten alle, außer Detective Inspector Hitchens, vergessen, dass sie selbst aus Warley stammte, wo Emma das letzte Mal gesehen worden war. Fry hatte hier in Edendale nur mit wenigen Menschen über ihre Vergangenheit gesprochen.

Fry ging davon aus, dass Howard und Sarah Renshaw einmal ganz normale Menschen gewesen waren. Bis zu diesem Abend vor zwei Jahren waren sie ein nettes Mittelklassepaar in mittleren Jahren gewesen, mit einem Einfamilienhaus in Withens und einer Tochter, die Kunst in Birmingham studierte. Wahrscheinlich hatten sie einen Barbecuegrill auf der Veranda und verbrachten die Urlaube in einem Wohnwagen in Abersoch.

Fry konnte den Akten nicht viel mehr Details über sie entnehmen. Offensichtlich hatte Howard mit dem Gedanken gespielt, vorzeitig in Pension zu gehen und seinen Job als Geschäftsführer einer großen Baufirma in Sheffield an den Nagel zu hängen. Vielleicht hatte er jeden Morgen die kahle Stelle auf seinem Kopf betrachtet und sich gefragt, ob sie nicht schon zu groß war, um sich noch die Mühe zu machen, die wenigen Haare darüber zu kämmen. Und Sarah wäre turnusmäßig an der Reihe gewesen, die Präsidentschaft des örtlichen Frauenverbands zu übernehmen. Wahrscheinlich hatte sie bereits Veranstaltungen für das vor ihr liegende Jahr geplant und sich überlegt, wie viel Geld sie für neue Garderobe ausgeben konnte.

Eines war sicher. Beide hatten sich darauf gefreut, dass ihre Tochter über die Osterferien von der Universität nach Hause kommen würde. Sie hatten für den nächsten Abend sogar ihre Freunde und Nachbarn Michael und Gail Dearden zum Abendessen eingeladen, damit sie Emmas Fortschritte bewundern konnten.

Doch jetzt hatten sich die Renshaws zu zwei skurrilen Außenseitern entwickelt, die – wie Fry selbst gesehen hatte – ein wenig zu oft bedeutungsvolle Blicke tauschten, zu schnell aufbrausten, zu übergangslos mit plötzlichem Erröten und übertriebener Begeisterung, gefolgt von Niedergeschlagenheit und Tränen, reagierten.

Aber den Akten war auch zu entnehmen, dass sie sich in den vergangenen vierundzwanzig Monaten zu einer regelrechten Landplage entwickelt und die Polizei mit Theorien, Vorschlägen, Bitten, Forderungen, Briefen und Anrufen bombardiert hatten. Jeden Polizeibeamten, dessen Namen sie ausfindig machen konnten, hatten sie Dutzende Male persönlich aufgesucht. Immer wieder hatten sie gemeldet, es seien junge Frauen gesehen worden, die Ähnlichkeit mit ihrer Tochter besaßen. Und zum größten Ärger der Dienststelle waren sie mehrere Male von der Verkehrspolizei aufgegriffen worden. Sie hatten mitten auf der Straße gestanden, die Autofahrer belästigt und den Leuten peinliche Fragen gestellt. Zweimal hatte man die Renshaws sogar aufs Revier gebracht und sie quasi abgemahnt.

Und jetzt redeten sie von Führung. Wie es sich herausstellte, meinten sie damit die Anweisungen eines so genannten Hellsehers, den sie konsultiert hatten. Er gab ihnen Ratschläge, wo sie nach Emma suchen und an welchen Straßen sie zu welchen Zeiten stehen sollten – in der Hoffnung auf eine wundersame Begegnung. Fry schüttelte sich bei dem Gedanken an diesen Menschen, der sich an dem Paar bereicherte und skrupellos ihren Glauben ausnutzte.

Die Renshaws waren immer noch ein nettes Mittelklassepaar in mittleren Jahren mit Haus und Wohnwagen. Nur eine Tochter hatten sie nicht mehr. Sie schienen in einer Art Parallelrealität zu leben, in der Emma am Leben war und einfach ein wenig später den Zug von Birmingham aus nehmen wollte. Zwei Jahre später.

Diane Fry ließ die Akten aufgeschlagen auf dem Schreibtisch liegen und trat ans Fenster. Vom obersten Stockwerk der Zentrale der Division E in West Street konnte sie einen Teil der Tribünen des Fußballplatzes und die Dächer der Häuser sehen, die sich den Hang hinunter Richtung Stadtzentrum von Edendale zogen. Alles wirkte merkwürdig sauber und frisch, was nur daran lag, dass die Schieferdächer noch nass von den morgendlichen Regengüssen waren. Die Feuchtigkeit reflektierte auch noch die diffusesten Sonnenstrahlen, welche die graue Wolkendecke durchdrangen. Ein bisschen Licht konnte sehr trügerisch sein.

Fry erschauderte, aber nicht wegen des Anblicks, der sich ihr bot. Eine Frage hatte sich in ihrem Kopf festgesetzt. Kann man Angst bannen, indem man die Realität einfach ignoriert? Vielleicht hing es davon ab, ob man je gezwungen war, die Realität als solche zu akzeptieren. Howard und Sarah Renshaw schienen alles zu tun, um die Realität zu verleugnen, dass ihre Tochter mit großer Wahrscheinlichkeit nicht mehr am Leben war. Und sie, Diane Fry, war es, die sie eventuell dazu zwingen musste, sich dieser Wirklichkeit zu stellen.

Ausgerechnet sie. Wie konnte sie nur darüber reden, sich der Wirklichkeit zu stellen? Seit Jahren hatte sie ihre eigene Technik, genau das Gegenteil davon zu tun und ihre Angst zuzuschütten, perfektioniert. Ihre eigene Realität bestand aus einer Schwester, die sie seit fünfzehn Jahren nicht mehr gesehen hatte, seit Angie damals als Teenager das Haus ihrer Pflegeeltern im Black Country verlassen hatte und seit der brutalen Vergewaltigung, die zu ihrer Versetzung von den West Midlands nach Derbyshire geführt hatte. Und es gab Vorfälle in ihrer frühen Kindheit, an die sie erst recht nicht zu rühren wagte. Schwer zu sagen, was die genaue Ursache ihrer Angst war.

Ihr Therapeut hatte ihr erklärt, dass phobischem Verhalten eine Angstkonditionierung zugrunde läge, der Wunsch, bestimmte Auslöser zu meiden, welche die Angst ursprünglich verursacht hatten. Aber man könne dieses Verhalten überwinden, indem man sich in einem geschützten Raum diesen Auslösern stelle. Eine Art kognitive Verhaltenstherapie mit Behandlung der Medulla. Es sei Ziel dieser Therapie, sagte ihr Therapeut, neue Erinnerungen anstelle der alten zu schaffen und damit die Angst zu überlagern. Die alten Erinnerungen auszulöschen. Ein neues Leben als Ersatz für das alte zu schaffen.

Fry hatte sich das so vorgestellt, als würde man eine alte, gebrauchte Leinwand mit einem neuen Bild übermalen. Als Kind und als junger Teenager hatte sie gerne gezeichnet. Das konnte sie allein machen und sich in ihrem Zimmer in Warley ganz in ihre Bilder vertiefen. Manchmal hatte ihr eine fertige Bleistiftzeichnung nicht mehr gefallen, und sie hatte sie schnell wieder ausradiert. Ihre Zeichnungen hatten eigentlich nie ihren Ansprüchen genügt. Und so hatte sie die Zeichnung immer wieder neu begonnen und versucht, eine immer positivere Version auf dem Papier zu erschaffen, das bereits schmuddelig und voller Spuren der alten Zeichenkohle war.

Einmal hatte ein Freund sie an einem verregneten Nachmittag mit in die Birmingham City Art Gallery genommen, um ihr kulturelles Niveau anzuheben. Dort hatte eine Sonderausstellung stattgefunden, und bei der Gelegenheit hatte Fry eine der Höllenvisionen von Breughel dem Jüngeren gesehen. Da waren noch viele andere Bilder ausgestellt gewesen, aber es war der Breughel, der sie am meisten beeindruckt hatte. Die Erinnerung daran hatte sich länger gehalten als ihr Freund. Der hatte nur zwei Wochen überlebt. Aber die Vision der Hölle begleitete sie noch zwölf Jahre später.

Heute stellte Fry sich ihre Angst wie eine von Breughels Höllenvisionen vor, überall Dämonen und Flammen. Mit Hilfe des Therapeuten hatte sie gelernt, dieses mentale Bild mit einer pastoralen Landschaft in Pastelltönen zu überlagern: braunweiße Kühe auf einer Wiese voller Wildblumen, daneben ein Cottage, neben dessen Tür sich Klematis emporrankt, eine Katze, die auf dem Fensterbrett in der Sonne liegt. Und immer war auf diesem Bild auch ein junges Mädchen. Sie stand in der Mitte des Bildvordergrunds, trug einen geflochtenen Korb auf den nackten Armen und fütterte lächelnd die Hühner, sie sich um ihre Beine scharten, mit Getreidekörnern.

Eine Zeit lang war das Bild intakt geblieben. Den Kühen schien nie das Gras auf der Weide auszugehen, die Sonne brannte immer auf die Katze herunter. Und das Mädchen wurde nie alt, ihre Haut blieb rosig, frisch und glatt. So wie das Foto von Emma Renshaw.

Aber Frys Bild besaß nicht die Vorzüge fotografischer Permanenz. Es war mit billigen Farben gemalt. Nach ein, zwei Jahren war die Farbschicht dünn geworden. Ihr ständig prüfendes Tasten, ob das Bild noch intakt sei, hatten sie abgenutzt. Sie hatte das Bild zu oft in die Hand genommen, und der Breughel fing an, wieder hindurchzuschimmern. Zu dem Zeitpunkt hatte sie erneut therapeutische Hilfe benötigt. Sie musste verhindern, dass sich die Fratzen der gepeinigten Seelen wieder zwischen den roten Blütenblättern des Klatschmohns hervordrängten; sie musste sich vergewissern, dass die Hufe im Gras die von Rindern und nicht die bocksbeiniger Dämonen waren. Und sie brauchte Unterstützung, um nicht wieder aus dem Höllenschlund züngelnde Flammen statt der Klematisblätter zu sehen. Sie war auf Hilfe angewiesen, damit sie weiter die Unschuld des Mädchens und nicht die schuppigen Krallen der Vögel zu ihren Füßen sah.

Und jedes Mal musste sie danach die Farbe noch dicker auftragen, eine Schicht um die andere, mit immer größeren Pinseln und in immer grelleren Tönen. Schließlich schien das Bild wie zugespachtelt, so dass sie nicht länger erkennen konnte, was darunter lag. Sie sah nur noch Blut statt Klatschmohn und Moder statt Gras. Fry sah die Knochen unter der Haut des Mädchens.

Die einsamen Toten

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