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Sonntag

Die Sonntagvormittage verbrachte Ben Cooper auf dem Schlachtfeld. Sobald sie die Türen öffneten, war es, als würde man aus den Schützengräben hechten. In den Minuten angespannten Wartens konnte er das Weiße in den Augen der Leute ringsum sehen und spüren, wie ihre Erregung stieg. Fünf vor zehn, und noch immer kein Lebenszeichen von jenseits der Glastüren.

Als er das erste Mal an einem Sonntagvormittag für seinen wöchentlichen Einkauf zu Somerfield’s fuhr, dachte er, er wäre der einzige Kunde in dem Supermarkt. Aber er war mitnichten der Einzige, der um diese Zeit Einlass begehrte. Vor den Türen wartete bereits ein kleines Grüppchen.

Nach den ersten paar Malen stellte Cooper fest, dass er jede Woche dieselben Gesichter sah: den Mann mit der Jeans, die so ausgebeult war, dass sie ihm mit Sicherheit nie richtig gepasst hatte, und die alte Frau mit dem Strickhut, den sie fest über eine Wolke weißer Löckchen gezogen hatte. Und dann war da noch der kleine Mann mit dem Spazierstock, der seine Knie nicht richtig durchdrücken konnte, der viel langsamer als alle anderen war und sich an seinem Einkaufswagen festhielt, um überhaupt laufen zu können.

Bald hatten die Ersten aus der Gruppe angefangen, ihn zu grüßen, als hätten sie ihn in ihren Club aufgenommen. Sobald sie im Laden waren, vollzog jeder eine Art Ritual. Manche stöberten am Gemüsestand herum oder eilten sofort an die Delikatessentheke. Andere steuerten schnurstracks die Katzenfutterecke an oder drehten eine Sondierungsrunde auf der Suche nach den Sonderangeboten: »Kauf zwei, zahl eins.« Gelegentlich traf man sich in den Gängen und beklagte sich, dass wieder mal alles umgestellt worden war. Vor den Regalen mit den Tiefkühlmahlzeiten für Singles kam es regelmäßig zum Stau.

Als endlich der Assistent der Verkaufsleitung erschien und die Türen aufsperrte, trat Cooper zur Seite, damit die Sonntagmorgenkäufer ihre Einkaufswagen in Position bringen und sich vor ihm in den Laden drängen konnten. Der kleine Mann mit dem Stock erreichte als Letzter die Türen, wie immer. Cooper wollte gerade hineingehen, als sein Handy klingelte. Er nahm es vom Gürtel und schaute auf die Nummer im Display. Sie war ihm unbekannt. Das konnte nur Arbeit bedeuten.

Aus irgendeinem Grund ärgerte es ihn mehr denn je, dass er an seinem freien Tag vom Büro angerufen wurde. Früher schien ihm das nie etwas ausgemacht zu haben. Aber jetzt hatte diese Störung seiner Sonntagmorgenroutine Folgen und brachte unter Umständen seine ganze Woche durcheinander. Am Sonntag wurde eingekauft, die Wohnung geputzt oder gebügelt, dann rasch zu Mittag gegessen. Der Nachmittag gehörte der Zeitungslektüre; dann ein kurzer Blick ins Fernsehen, bevor er seine Mutter besuchte. Den Abend verbrachte er im Pub, wo die üblichen Verdächtigen auf ihn warteten und sein üblicher Drink auf dem Tresen bereitstand, kaum dass er einen Fuß über die Türschwelle gesetzt hatte. Innerhalb von knappen drei Monaten hatte er sich in dieser beruhigenden und überschaubaren Routine eingerichtet.

Cooper ließ das Telefon noch ein paarmal klingeln, während er seinen Einkaufswagen in den ersten Gang schob: frisches Obst und Gemüse. In einer Sekunde würde sich sein Anrufbeantworter einschalten, und er konnte so tun, als sei er nicht erreichbar gewesen. Dann würde ein anderer den Job erledigen müssen, den sie für ihn vorgesehen hatten. Bis Montagmorgen würde er nicht einmal wissen, worum es gegangen war. Er würde nicht wissen, ob es sich um etwas Banales oder um den aufregendsten Fall seines Lebens gehandelt hätte.

»Also gut«, seufzte er und meldete sich vor dem nächsten Klingelton.

»Hallo, Ben. Hier ist Tracy Udall.«

Cooper hatte einen Moment Schwierigkeiten, mit dem Namen ein Gesicht in Verbindung zu bringen. Aber dann tauchte zwischen Stapeln von Karotten und Pastinaken ein Bild von Police Constable Udall in ihrer Schutzkleidung vor ihm auf.

»Guten Morgen, Tracy. Was kann ich für Sie tun?«

»Ich wollte Ihnen nur mitteilen, dass ich morgen Dienst habe und beabsichtige, vormittags noch einmal nach Withens zu fahren.«

»Ja?«

»Ich wollte mit den Oxleys reden. Oder es wenigstens versuchen.«

»Na dann, viel Glück.«

»Ich werde vom Revier in Glossop so gegen zehn Uhr losfahren.«

»Ich arbeite morgen auch«, erwiderte Cooper und versuchte dahinter zu kommen, worauf Udall hinauswollte. Er war für den Tag der Razzia nur ausgeliehen worden. Im Büro der Kriminalpolizei in Edendale gab es mehr als genug zu tun, sogar an einem Montagmorgen.

»Schön«, meinte Udall munter, »dann bis morgen.« Und damit beendete sie das Gespräch.

Cooper steckte kopfschüttelnd sein Handy in den Gürtel. Die Sache war es nicht wert, dass er sich ärgerte. Er sollte sich besser über Obst und Gemüse Gedanken machen.

Er machte sich daran, Äpfel in Plastiktüten zu füllen. Ein paar Meter weiter weg hatte der Mann mit dem Stock die Hand ausgestreckt und betastete ein paar riesige Orangen, die aussahen, als hätte man sie mit Steroiden voll gepumpt. Der alte Mann hängte sich gern an Cooper, um ihm ein Gespräch aufzudrängen. An diesem Morgen trödelte er mit Absicht in der Obstabteilung herum, damit Cooper aufschließen konnte. Der Mann mit dem Stock kaufte nie Orangen, er hatte eher eine Vorliebe für Dosenpfirsiche und Ananasscheiben.

Coopers Telefon klingelte erneut.

»Was ist denn jetzt wieder?«

Dieses Mal konnte er es nicht lange klingeln lassen. Es war eine der Durchwahlnummern aus der Zentrale der Division E in der West Street.

»Ah, Cooper. Ich dachte schon, Sie würden nicht rangehen.«

»Nein, Sir«, sagte Cooper, der Detective Inspector Hitchens’ Stimme sofort erkannte. »Ich meine, ja, Sir. Ich konnte nur gerade nicht, da meine Hände nicht frei waren.«

»Sie sitzen doch nicht am Steuer?«

»Nein, Sir.« Cooper klemmte sich das Telefon zwischen Schulter und Kinn und schob den Einkaufswagen an den Äpfeln vorbei zu den Molkereiprodukten. Er hörte, wie Hitchens schnaufte.

»Hören Sie, es tut mir Leid, Sie an Ihrem freien Tag belästigen zu müssen, aber es hat sich etwas ergeben, das Sie wissen sollten, bevor Sie morgen Ihren Dienst antreten.«

»Ein Fall, Sir? Ist was passiert?«

»Nun, nicht direkt. Wir werden Sie noch einmal ausleihen.«

»Wie bitte?«

»Das Rural Crime Team war gestern höchst zufrieden mit Ihnen. Sie haben nachgefragt, ob sie Sie noch etwas länger haben könnten. Offensichtlich stehen noch mehr Untersuchungen vor einem Abschluss.«

»Oh. Aber, Sir –«

»Sie wissen doch, das RCT steht momentan hoch im Kurs. Alle reißen sich die Beine dafür aus, und es genießt an oberster Stelle höchste Priorität. Sie verstehen, was ich meine.«

»Dann sind Sie also einverstanden, wenn ich von Ihnen abgezogen werde, Sir?«

»Zumindest für kurze Zeit, Cooper. Sie sind bald wieder bei uns, keine Angst. Sie werden diese Provinzverbrechen doch im Handumdrehen aufgeklärt haben. Ich habe vollstes Vertrauen in Sie.«

Cooper griff nach einem Milchkarton und betrachtete ihn. Das Vertrauen von Vorgesetzten war schön und gut, aber für Coopers Geschmack hörte sich Hitchens etwas zu optimistisch an.

»Für wie lange soll es denn sein?«

»Tja … ich weiß nicht genau. Jedenfalls im Moment nicht. Aber wir werden ja sehen, wie es läuft.« Er machte eine Pause. »Aber Sie müssen sich keine Sorgen machen, Ben«, fuhr er fort. »Detective Sergeant Fry wird mit Ihnen in Verbindung bleiben.«

»Sind denn alle glücklich mit dieser Lösung, Sir?«

»Ja, natürlich«, beteuerte Hitchens. »Alle sind glücklich damit.«

Diane Fry saß mit versteinerter Miene da und versuchte, nicht zu zeigen, wie nahe ihr die Neuigkeit ging. Sie fühlte sich, als sei ihr plötzlich das Herz in den Magen gesackt. Einen Moment lang verschwammen die Klematis zu lodernden Flammen, und die Katze sah sie aus gelben Augen an, während ein Schatten über das Fenster fiel.

»Nun, ich muss wohl nicht extra betonen, dass ich nicht glücklich bin mit dieser Lösung«, stieß sie hervor.

»Wir bekommen es alle zu spüren, wenn Leute abgezogen werden«, beschwichtigte Hitchens sie. »Aber wir profitieren doch auch von dieser Regelung, wenn wir jemanden brauchen. Sie müssen das eher aus der Führungswarte sehen.«

»In dem Fall kann ich aber keinen Sinn in dieser Maßnahme erkennen.«

»Das Rural Crime Team argumentiert damit, dass sie bei den vielen laufenden Ermittlungen nicht wissen, wo ihnen der Kopf steht. Sie haben Hilfe angefordert, und sie bekommen sie. Ende der Geschichte.«

»Ich bin nicht glücklich darüber, Sir. Wir sind ohnehin schon unterbesetzt, wie Sie wissen.«

»Natürlich. Aber was ist daran neu?«

»Und ab wann ist die Vereinbarung wirksam?«

»Ab morgen.«

»Mist.«

Eine Zeit lang hatte Fry Ben Cooper loswerden wollen. Sie hatte in ihm sogar eine Bedrohung gesehen. Aber das schien lange her zu sein. Stattdessen machte sie die Vorstellung traurig, dass sie ihn verlieren würde. Mehr als traurig sogar.

»Ach, wie lief es übrigens mit den Renshaws?«, fragte Hitchens.

»Schwierig. Ich denke nicht, dass sie so ohne weiteres die Möglichkeit akzeptieren werden, ihre Tochter könnte tot sein. Sie leben in einer Fantasiewelt, in der sie Emma jeden Moment zurückerwarten. Das macht es schwierig, mit ihnen zu reden.«

»Ja, ich fürchte, Mrs Renshaw ist ein bisschen wunderlich geworden. Und sie merkt es nicht einmal. Bei uns heißen solche Typen nur die von der Rentnerbrigade. Die haben nichts Besseres zu tun, als wegen jeder Kleinigkeit beim Revier anzurufen. Die Kollegen in der Telefonzentrale sind für mich die reinsten Heiligen.«

»Ich könnte auch ein paar Heilige gebrauchen«, sagte Fry. »Ich habe nur Gavin Murfin.«

Der Mann mit dem Spazierstock erkannte ein potentielles Opfer auf den ersten Blick, und so musste sich Ben Cooper jede Woche die neueste Verbrechensstatistik anhören. Der Mann konnte natürlich nicht ahnen, dass Cooper Polizist war. Die meisten seiner Geschichten stammten aus der Zeitung und waren folglich ungenau. Aber gelegentlich konnte er aus erster Hand aus Southwoods berichten, dem Teil von Edendale, in dem er wohnte.

»Was soll ich Ihnen sagen, aber viele alte Damen bei mir oben machen Fremden die Tür nicht mehr auf. Die lassen nur noch die Leute von ›Essen auf Rädern‹ ins Haus«, erzählte er, während Cooper versuchte, sich an der Käsetheke an ihm vorbeizuquetschen. »Sie haben zu viel Angst, wissen Sie. Erst kürzlich waren diese Gauner wieder unterwegs, die so tun, als wollten sie die Gasleitungen auf undichte Stellen überprüfen. Manche lassen sie ins Haus, weil sie Angst haben, dass sie nachts am Gas ersticken oder dass ihnen ihr Bungalow um die Ohren fliegt. Der eine Gangster lenkt sie ab, während der andere durchs Haus geht und ihnen die Geldbörse und andere Sachen klaut.«

»Trickdiebstahl«, sagte Cooper.

»Es ist widerlich. Es sind immer die Alten, auf die sie es abgesehen haben.«

»Ja, ich weiß.«

»Weil sie denken, dass wir alle blöd sind. Sicher, ein paar der alten Mädchen sind wirklich nicht die Hellsten.«

»Die haben jeden im Visier, der sich nicht zu helfen weiß«, erklärte Cooper.

»Ich weiß mir zu helfen. Wenn die in mein Haus wollen, müssen sie mir erst ihren Ausweis zeigen. Und dann rufe ich auf der Gemeinde oder sonst wo an und frage nach, ob sie wirklich die sind, für die sie sich ausgeben. Manchen gefällt das gar nicht, aber ich lasse sie einfach vor der Tür stehen.«

»Das ist sehr vernünftig.«

»Und wenn ich sehe, dass einer eine falsche Bewegung macht, kriegt er meinen Stock zu spüren.«

»Das ist nicht so vernünftig.«

»Wieso nicht?«

»Na, zum einen könnten Sie ernsthaft verletzt werden, wenn die zurückschlagen.«

»Das ist mir egal.«

»Und hinterher bekommen Sie vielleicht noch eine Anzeige wegen tätlichen Angriffs, wenn Sie gewalttätig werden.«

»Das ist mir auch egal.«

»Falls Sie einen Verdacht haben, ist es das Beste, Sie rufen die Polizei.«

»Quatsch. Was können die schon tun? Die lassen sich doch erst blicken, wenn die Mistkerle schon längst verschwunden sind. Und dann fällt ihnen nichts anderes ein, als einem eine Nummer aufzudrängen, wo man seine Ansprüche an die Versicherung geltend machen kann.«

Coopers Handy klingelte zum dritten Mal. Da war er gerade in der Abteilung für Tiefkühlkost, wo er und seine Konsumgenossen mit Ellenbogeneinsatz versuchten, an die Angebote in den Tiefkühlregalen zu kommen.

»Ach, lasst mich doch in Ruhe«, stöhnte er.

Die Frau neben ihm, die mit ihrem Einkaufswagen neckisch an den seinen stieß, warf ihm einen Blick zu. Sie war Cooper zuvor schon aufgefallen. Er schien sie immer zwischen den Tiefkühlregalen zu treffen, wo ihre Einkaufswagen regelmäßig aneinander gerieten.

Er meldete sich und hörte eine weitere vertraute Stimme.

»Oh, du bist es, Diane.«

Die Frau mit dem Einkaufswagen wählte genau diesen Moment, um sich an ihm vorbeizudrängen und zu den chinesischen Tiefkühlmahlzeiten für Singles hinunterzubeugen.

»Entschuldigung«, sagte Cooper und machte ihr Platz.

»Ben, ist jemand bei dir?«, fragte Fry.

»Oh – da wollte nur jemand an die Gefriertruhe.«

»An was?«

Die Frau schwenkte eine Packung pikante Nudeln.

»Ich finde, wenn man allein lebt, ist so was ungeheuer praktisch«, sagte sie und lächelte.

»Oh, danke.«

Frys Stimme war so eisig wie die Luft, die aus dem Deckel der Gefriertruhe emporstieg.

»Und was macht sie jetzt, Ben? Offeriert sie dir einen Eiswürfel?«

»Nein, Nudeln.«

»Du bist im Supermarkt, habe ich Recht?«

»Ja.«

»Du gehst am Sonntagmorgen immer zum Einkaufen in den Supermarkt, stimmt’s, Ben?«

»Stimmt.«

»Ich wusste doch, dass du tief drin ein Gewohnheitstier bist. Ich wette, du kaufst jede Woche exakt dieselben Dinge und unterhältst dich mit denselben Leuten. Habe ich Recht?«

»Mag sein.«

Cooper beschloss, seinen Weg fortzusetzen, während er mit Fry telefonierte. Er passierte den Essig und den Zitronensaft und bog in die Abteilung mit den Haushaltswaren ein. Er benötigte dringend ein Desinfektionsmittel, falls eine der Katzen im Wintergarten wieder eine Schweinerei angerichtet hatte.

»Bist du jetzt fertig mit deiner Analyse?«, fragte er.

»Ich habe eben erfahren, dass das Rural Crime Team dich wieder angefordert hat.«

»Das habe ich selbst erst erfahren.«

»Hast du um eine Versetzung zum RCT gebeten?«

»Wie kommst du auf die Idee, Diane?«

»Na ja, sie dehnen ihre Operationen aus. Sie haben dich angefordert. Da dachte ich mir, vielleicht hast du ja mit jemandem gesprochen.«

»Nein, habe ich nicht.«

»Aber du bist genau der Typ, den sie brauchen können, Ben, oder? Du hast den richtigen Hintergrund. Und du kennst die Probleme auf dem Land. Ich vermute, jemand mit Einfluss hat dich empfohlen.«

»Ich habe nicht um diese Versetzung gebeten. Hör mal, Diane, ich habe zu tun, also, wenn es nichts Dringendes gibt –«

»Dann beabsichtigst du also nicht, deine Freunde von der Kripo zu verlassen?«

Fry hatte bestimmt nicht beabsichtigt, das so zu formulieren, dachte Cooper. Aber sie wäre sicher nicht überrascht, wenn er mit der Antwort zögerte.

»Okay, ich habe mit dem Gedanken gespielt«, erwiderte er schließlich.

»Du weißt, dass du mit mir über solche Dinge sprechen solltest. Ich bin deine unmittelbare Vorgesetzte.«

»Tut mir Leid.«

»Oder bin ich der Grund, warum du weg willst?«, fragte Fry.

»Nein, Diane.«

»Ich würde es verstehen, wenn es so wäre.«

»Ich sagte doch, ›nein‹.«

Cooper wurde nervös. Die Frau mit dem Einkaufswagen warf ihm einen fragenden Blick zu. Er lächelte entschuldigend und stellte sich etwas weiter weg.

»Okay«, sagte Fry. »Solange das zwischen uns klar ist.«

»Richtig.«

»In dem Fall kannst du mit mir jederzeit über deine Pläne sprechen, Ben«, fuhr sie fort. »Wir machen einen Termin aus und besprechen die Sache gründlich. Ich hätte eventuell ein paar Vorschläge, was deine zukünftige Karriere betrifft.«

Cooper verschlug es vor Staunen die Sprache.

»So macht man das nun mal in einer anständig geführten Abteilung«, erklärte sie.

»Wenn du das sagst, Diane.«

Er konnte hören, wie Fry ausatmete und mit Papier raschelte. Fast hätte er auf den Knopf gedrückt und das Gespräch beendet, aber er spürte, dass sie noch über etwas anderes reden wollte. Vielleicht war das sogar der eigentliche Grund ihres Anrufs.

»Ich nehme an, du erinnerst dich an den Fall Emma Renshaw, Ben?«

»Die vermisste Studentin?«, fragte er. »Das ist ungefähr zwei Jahre her.«

»Stimmt genau. Wie war die generelle Meinung damals? Waren alle der Ansicht, dass sie tot ist?«

»Himmel, keine Ahnung. Es gab keinen Grund für sie, von zu Hause wegzulaufen, soweit ich mich entsinne.«

»Nein, jedenfalls keinen, der uns bekannt wäre.«

»Wieso fragst du?«

»Ihr Handy ist gefunden worden, und deswegen nehmen wir die Ermittlungen neu auf. Aber fast alles, was ich hier an Hintergrundmaterial geerbt habe, ist alter Krempel aus den West Midlands. Und das macht die Sache nicht leichter.«

»Dann hast du auch noch Mr und Mrs Renshaw geerbt«, feixte Cooper. »Ich beneide dich nicht.«

»Wie wahr. Wieso weiß eigentlich jeder außer mir über die Renshaws Bescheid? Ist das hier nicht Usus, seine Kollegen zu informieren? Oder finden das alle so lustig?«

»Da kann ich doch nichts dafür, Diane«, protestierte Cooper.

Fry schwieg einen Moment. Cooper telefonierte ungern mit ihr. Er musste ihr Gesicht sehen, um aus ihrer Miene Schlüsse ziehen zu können. In der letzten Zeit hatte sie immer so angespannt und verhärmt gewirkt. Ihre hageren Schultern und das schmale Gesicht hatten den Eindruck nur noch verstärkt. Sogar ihr Haar trug sie noch kürzer geschnitten als sonst. Cooper versuchte immer, in Frys Augen zu lesen, was sie dachte, statt auf das zu hören, was sie sagte.

»Ich nehme an, am Montag hast du keine Zeit?«, fragte sie. »Du wirst genug mit dem Rural Crime Team zu tun haben.«

»Tut mir Leid.«

»Dann treffen wir uns ein anderes Mal. Ach, und Ben? Ich würde deine Freundin mit ihrem Angebot beim Wort nehmen, wenn ich du wäre.«

Cooper steckte sein Telefon weg und schielte über die Schulter zurück. Die Frau mit dem Einkaufswagen zwinkerte ihm zu.

Der Parkplatz vor dem Supermarkt hallte von Scherbenklirren wider. Paare in Kombis standen Schlange, um die Wochenration an Wein- und Bierflaschen in den Recyclingtonnen zu entsorgen. Cooper überlegte, ob dieser Brauch an Stelle des sonntagmorgendlichen Kirchenbesuchs getreten war. Statt in einer zugigen Kirche zu sitzen und die eigene Seele zu retten, verbrachte man lieber ein paar Minuten auf dem Parkplatz von Somerfield’s und half, den Planeten Erde zu retten.

Der Mann mit dem Stock hatte Cooper aufgelauert, um ihr Gespräch dort fortzusetzen, wo sie es beendet hatten. Leider hatte Cooper komplett vergessen, worüber sie gesprochen hatten.

»Ich habe ihre Nummern, wissen Sie.«

»Wie bitte?«, sagte Cooper.

»Die der Einbrecher. Der Diebe. Ich habe mir ihre Autonummern notiert.«

»Ich bin sicher, die ermittelnden Beamten finden das sehr nützlich.«

»Von wegen. Sie interessieren sich einen Scheiß dafür.«

»Oh.«

Seufzend stellte Cooper fest, dass er versehentlich an einen von der militanten Rentnerbrigade geraten war.

»Es ist sogar auf der anderen Seite der Siedlung eingebrochen worden – in Southwoods Grange, dem großen Anwesen. Das gehört dem National Trust, soviel ich weiß. Die Einbrecher haben Antiquitäten mitgehen lassen, die ein Vermögen wert sind. Und dabei müssen sie genau an meinem Haus vorbeigefahren sein. Aber bei der Polizei stößt man ja nur auf taube Ohren. Die haben keine Zeit für unsereins.«

»Ich bin sicher, dass die Beamten Ihre Beobachtungen notiert haben«, sagte Cooper. »Wahrscheinlich haben sie noch viele andere Spuren zu verfolgen.«

»Sie hören sich ja an wie einer von diesen Superdetektiven, wenn sie im Fernsehen erklären, wieso sie einen Mörder nicht geschnappt oder ein vermisstes Kind nicht gefunden haben. Die faseln immer was von zu vielen Spuren, die sie verfolgen müssen. Sie sind doch kein Kriminaler, oder?«

»Nein«, sagte Cooper.

»Dafür hätte ich Sie auch nie gehalten. Wahrscheinlich hängen Sie auch nur zu viel vor der Glotze wie ich.«

»Da haben Sie sicher Recht.«

»Auf jeden Fall ist das alles großer Mist. Die haben überhaupt keine Spuren. Sie haben nicht den geringsten Hinweis, wenn man nachfragt, nicht den geringsten. Und wenn ich ihnen meine Hilfe anbiete, wollen sie sie nicht. Wofür bezahlen wir unsere Polizei eigentlich, frage ich Sie?«

»Keine Ahnung.«

»Aber ich wette mit Ihnen, wenn ich wieder mal zufällig vergesse, auf der Straße meine Hose hochzuziehen, stürzen die sich wie die Geier auf mich.«

Cooper machte vorsichtige Anstalten, sich in Richtung seines Autos zu entfernen, und zog seinen Einkaufswagen hinter sich her. Der Mann mit dem Stock folgte ihm.

»Wo wohnen Sie eigentlich?«, wollte er wissen.

»Oh, nicht hier in der Nähe.«

»Dachte ich mir. Sie haben ja keine Ahnung von Edendale.«

Nachdem Ben Cooper seine Einkäufe nach Hause gefahren und ausgepackt hatte, war es Zeit, einen Blick in die Sonntagszeitung zu werfen. Aus irgendeinem Grund kaufte er immer den Telegraph, obwohl er wusste, dass er niemals alle Teile lesen würde – selbst wenn er Interesse daran gehabt hätte, ein historisches Anwesen in Suffolk zu erwerben oder wenn ihn Sorgen wegen fallender Kurse der FTSE-100-Aktien plagen würden.

Als Nächstes in seiner sonntäglichen Routine stand ein Besuch im Old School Nursing Home an, dem Pflegeheim, in dem seine Mutter seit kurzem lebte. Ihre Krankheit, sie litt unter Schizophrenie, hatte die Familie letztendlich gezwungen, die Tatsache zu akzeptieren, dass sie sie zu Hause auf der Bridge End Farm nicht länger würde pflegen können. Cooper warf einen Blick auf sein Telefon und widerstand der Versuchung, es für diesen Tag ganz auszuschalten.

Eine Stunde später saß er bei seiner Mutter im Gemeinschaftsraum der Old School und versuchte, die Gerüche zu analysieren, die nur zum Teil von dem Desinfektionsmittel überdeckt wurden. Da wurde er zum vierten Mal an diesem Tag angerufen.

Die einsamen Toten

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