Читать книгу Die einsamen Toten - Stephen Booth - Страница 8

Оглавление

3

Detective Sergeant Diane Fry wusste alles über Angst. Manche Menschen wurden durch sie erregt. Sie liebten es, mit ihrem Geschmack und ihrem Geruch zu spielen, und reizten ihre Sinne bis aufs Äußerste. Aber andere wurden zerstört von ihrem Gift, zerfressen von der sinnlosen, heimtückischen Säure, die sich in ihr Gehirn fraß, bevor sie dagegen angehen konnten.

Man wusste nicht immer, wovor man Angst hatte. Ein Therapeut hatte Diane Fry einmal gesagt, dass eine einzelne Episode genügte, Angst in einem Menschen zu verankern und ihn dementsprechend zu konditionieren. Denn so hatte die Natur das menschliche Gehirn eingerichtet. Eine evolutionäre Errungenschaft, die einen Mechanismus auslöste, der einen davor bewahrte, sich ein zweites Mal in dieselbe gefährliche Situation zu begeben. Einmal Angst gehabt, für immer vorsichtig. Und aus diesem Grund genügten oft ein Geräusch, eine einzige Bewegung oder ein Geruch, um den Strom an Erinnerungen in Gang zu setzen, der Angst auslöste. Das Geräusch eines Schrittes auf einem knarrenden Dielenboden, der huschende Schatten einer sich im Dunkeln öffnenden Tür, der seifige Geruch von Rasierschaum, der sogar jetzt noch Übelkeit in ihr erzeugte.

Der durchsichtige Plastikbeutel mit dem Beweismaterial, den Diane Fry bei sich hatte, enthielt nichts Angsterregendes, nur ein verschrammtes und fleckiges Mobiltelefon. Warum hatte sie dann das Gefühl, am Beginn eines Prozesses zu stehen, der sie in einen langen, dunklen Tunnel in Richtung der Quelle ihrer Angst stoßen würde?

»Wissen die Eltern schon Bescheid, Sir?«, fragte sie.

Auch Detective Inspector Paul Hitchens war nicht zum Fürchten, jedenfalls soweit es Fry betraf. Im Gegenteil, ein fähiger Mann, dessen respektlose Haltung seinen Vorgesetzten gegenüber ihn auf der Karriereleiter jedoch nicht viel weiter nach oben klettern lassen würde. Er schien diese Schwäche ebenso wenig unter Kontrolle zu haben wie Fry den dunklen Schatten, der sich irgendwo in ihrem Hinterkopf bemerkbar gemacht hatte, als sie nach dem Beutel griff.

»Nein, Diane«, antwortete Hitchens. »Wir müssen in der Hinsicht sogar ziemlich vorsichtig sein und uns genau überlegen, wie viele Informationen wir an sie weitergeben werden.«

»Wieso?«

»Mr und Mrs Renshaw sind, tja, wie soll ich mich ausdrücken … Es ist nicht so einfach, mit ihnen zu reden.«

Fry war nicht im Mindesten überrascht. Seit sie aus den West Midlands zur Polizei von Derbyshire versetzt worden war, hatte sie festgestellt, dass mit den meisten Menschen im Peak District nur schwer zu reden war – einschließlich ihrer Kollegen bei der Division E. Sie fanden nicht nur ihre Mundart merkwürdig und exotisch, sondern sie schienen auch in einer völlig anderen Welt zu leben, in einer Welt, in der die Straßen einer Stadt, wie sie sie gekannt hatte, einfach nicht existierten.

»Ich möchte die genaue Stelle sehen, wo das Handy gefunden wurde«, bat sie.

»Selbstverständlich. Details, Namen und Adressen stehen alle hier drin. Die Mitglieder eines Wandervereins haben das Handy gefunden. Während ihrer Frühjahrsputzaktion. Sie haben einen zugewachsenen Wanderweg in der Nähe von Chapel-en-le-Frith von Abfall gesäubert. Das Telefon lag unter einer Unmenge Müll, den sie eingesammelt haben. Wäre es nicht so fest in eine Plastiktüte eingewickelt gewesen, wäre wahrscheinlich nichts mehr zum Identifizieren übrig geblieben.«

Trotz seines ramponierten Zustandes hatte die SIM-Karte noch in dem Mobiltelefon gesteckt. Über den Netzanbieter Vodafone hatte die Polizei eine Miss Emma Renshaw, Altes Pfarrhaus, Main Street, Withens, als Besitzerin ausfindig gemacht.

Fry schlug die Akte auf, die Hitchens ihr gegeben hatte. Kaum fiel ihr Blick auf das erste Foto, glaubte sie zu wissen, was ihre Angst ausgelöst hatte. Emma Renshaw stand in einem Garten, in einem weißen Pullover mit springenden Delphinen auf der Brust. Ihr Haar, das fast bis auf die Schultern reichte, war hell und glatt, und sie machte einen glücklichen Eindruck, wenngleich sie schüchtern und auch ein bisschen nervös wirkte.

Die zweite Aufnahme war etwas jüngeren Datums. Daneben stand, dass das Foto während Emmas Studienaufenthalt in Italien gemacht worden war. Aber sie hatte die Zeit nicht in Venedig, Florenz oder gar Rom verbracht, wo normalerweise jeder hinfuhr, um sich Kunst anzuschauen. Sie war in Mailand gewesen und hatte Werkstätten für zeitgenössisches Design abgeklappert. Das Wetter in Mailand war warm und sonnig gewesen. Das Foto zeigte Emma vor einem Café, zusammen mit einem asiatisch aussehenden Mädchen. Emmas Haar war nach hinten gekämmt und betonte ihre ausgeprägten Wangenknochen und die kleinen Ohren, wodurch sie trotz ihres selbstsicheren Lächelns viel verletzlicher wirkte. Sie trug ein ärmelloses T-Shirt, das die nackte, rosige Haut ihrer Arme und ihres Nackens entblößte.

»Emma Renshaw ist vor etwas über zwei Jahren verschwunden«, erklärte Hitchens. »Sie studierte in Birmingham, an der Hochschule für Kunst und Design der University of Central England. Zuletzt war sie von den jungen Leuten gesehen worden, mit denen sie in einem Haus in Bearwood, ungefähr drei Meilen von der Kunsthochschule entfernt, zusammenwohnte. Bearwood liegt im Black Country.«

»Ja, ich weiß«, sagte Fry.

»Gewiss doch, natürlich.«

Fry konnte ihm ansehen, wie die Informationen aus ihrer Personalakte in die Erinnerung des Detective Inspectors zurückkehrten. Sein Gesichtsausdruck änderte sich, als ihm die schlimmen Details einfielen. Einen Moment wirkte er verlegen, ehe er wieder seine professionelle Miene aufsetzte.

»Sie stammen selbst aus dem Black Country, nicht wahr, Diane?«

»Ja, Sir. Da komme ich her.«

Black Country, so nannte man das Gebiet westlich der Stadt Birmingham. Alte Industriestädte wie Wolverhampton, West Bromwich, Dudley, Sandwell und Walsall lagen im Black Country. Und auch viele kleinere Gemeinden wie Warley, wo Fry mit ihren Pflegeeltern gelebt hatte, eine Ansammlung von Wohnsiedlungen, die zwischen Birmingham und die Autobahn M5 gequetscht waren. Bearwood lag genau daneben.

»Äh, ja. Also, das Haus, das die jungen Leute bewohnten, liegt in der Darlaston Road in Bearwood. Emmas Mitbewohner sagten aus, sie hätten sie allein im Haus zurückgelassen. Emma habe über die Osterferien mit dem Zug nach Hause nach Derbyshire fahren wollen. Zumindest habe sie ihnen das so erklärt, und sie hätten keinen Grund gehabt, an Emmas Worten zu zweifeln.«

»Ihre Mitbewohner waren Alex Dearden, Debbie Stark und Neil Granger«, fügte Fry nach einem Blick in die Akte hinzu.

»Alles alte Freunde, wie es scheint. Die beiden jungen Männer sind im selben Dorf wie Emma aufgewachsen, in Withens. Debbie Stark stammt aus Mottram, ein paar Meilen weiter weg, aber sie war Emmas beste Freundin in der Highschool.«

Die Polizei der West Midlands hatte Kopien aller ihrer Akten nach Derbyshire geschickt. Darunter waren auch die Protokolle der Befragungen von Dearden, Stark und Granger und die mehrerer anderer Freunde, Nachbarn, Kommilitonen und Dozenten von Emma Renshaw an der Kunsthochschule. Fry fiel auf, dass der mit dem Fall der Vermissten beauftragte Beamte der lokalen OCU, der operativen Kommandozentrale, in Smethwick stationiert gewesen war. Den Ort kannte sie ebenfalls gut.

Fry wusste sogar, wie die Darlaston Road in Bearwood aussah. Sie war sich nur nicht sicher, an welchem Ende der Straße sie die Hausnummer 360B, Emmas Adresse, finden würde. Bearwood mit seinen Geschäften fungierte quasi als Einkaufszentrum für Warley. Sie war oft dort gewesen.

»Ich bin mir nicht ganz im Klaren über Emmas letzte bekannte Schritte«, sagte sie. »Wer genau war nun der Letzte, der sie gesehen hat? Oder haben die jungen Leute das Haus gemeinsam verlassen?«

»Neil Granger hat einige Minuten später als die anderen als Letzter das Haus verlassen. Er war auf dem Weg zur Arbeit, hatte aber verschlafen. Er sagte aus, er habe am Abend zuvor zu viel getrunken.«

»Ist Granger noch rechtzeitig zur Arbeit erschienen?«

»Ein paar Minuten zu spät«, erwiderte Hitchens. »Er hatte einen Wagen, mit dem er nach Birmingham fuhr. Er behauptete, an dem Morgen sei der Verkehr sehr heftig gewesen, und er sei deswegen noch mehr aufgehalten worden. Der Vorarbeiter auf der Baustelle sagte aus, es habe Granger gar nicht ähnlich gesehen, zu spät zu kommen. Normalerweise sei er sehr zuverlässig gewesen. Deswegen glaubte er auch Grangers Erklärung und dachte sich nichts dabei. Er meinte, mit seinen anderen Angestellten habe er weitaus mehr Ärger.«

Emma war neunzehn Jahre alt, als sie verschwand, und die Richtlinien besagten, dass im Fall einer vermissten weiblichen Person unter einundzwanzig umgehend Nachforschungen angestellt werden mussten. Frauen dieser Altersgruppe galten als besonders gefährdet und fielen, wenn sie als vermisst galten, statistisch gesehen überproportional oft einem Verbrechen zum Opfer.

Deshalb hatte sich auch der mit dem Fall betraute Polizeibeamte in Smethwick präzise an die Anordnungen gehalten. Zum größten Teil jedenfalls. Er hatte nachgeforscht, ob Emma bereits früher ein ähnliches Verhalten an den Tag gelegt hatte, und hatte die Informationen zur Person der Vermissten, die er von den Eltern erhalten hatte, mit ihren Unterlagen verglichen. Er hatte ausgeschlossen, dass Emma in irgendwelche kriminellen Machenschaften verwickelt war, für den Fall, sie hätte sich aus dem Staub gemacht, um der Strafverfolgung für etwas zu entgehen, wovon die Eltern keine Ahnung hatten. Er hatte alle notwendigen Details für eine Identifizierung zusammengestellt, hatte ihren vollständigen Namen, ihr Alter, ihre Adresse und ihre Beschreibung notiert und die zwei Fotos dazugeheftet, die er von den Renshaws erhalten hatte.

»Aber wenn Emma plante, mit dem Zug nach Hause zu fahren, wie wollte sie dann zum Bahnhof kommen?«, fragte Fry.

»Mit dem Taxi – jedenfalls sagte sie das zu ihren Mitbewohnern. Die Beamten in West Midlands konnten jedoch keinen Taxifahrer ausfindig machen, der sie von ihrem Haus in der Darlaston Road abgeholt oder irgendwo in der Nähe aufgenommen hätte. Es gab in dieser Gegend auch keine Vorbestellung für einen Wagen, bei dem der Fahrgast nicht aufgetaucht wäre. Aber ich vermute, sie könnte auch auf der Straße ein Taxi angehalten haben.«

»In der Gegend ziemlich unwahrscheinlich.«

Hitchens nickte. »Aber die Kollegen in West Midlands haben auch das überprüft.«

»Es wundert mich, dass Neil Granger ihr nicht angeboten hat, sie zum Bahnhof mitzunehmen. Wenn er schon mit dem Wagen fuhr.«

»Er sagte, er habe es deswegen nicht getan, weil er bereits zu spät dran gewesen sei und Angst gehabt habe, Ärger zu bekommen. Und Emma habe ihm glaubwürdig versichert, dass es nicht notwendig sei, sie mitzunehmen.«

»Hat er gesagt.«

Fry wandte sich wieder den Aussageprotokollen zu. Man hatte Nachforschungen in mehreren Pubs und Clubs angestellt, in denen Emma verkehrte. Man hatte mit Freunden und Kommilitonen gesprochen. An der Universität war nicht bekannt, dass Emma Probleme mit ihrer Arbeit gehabt, sich in emotionalen oder finanziellen Schwierigkeiten befunden oder gar die Absicht gehabt hätte, das Semester abzubrechen. Am Schluss des Berichts des Polizeibeamten befand sich eine Notiz, dass die Eltern der Vermissten mit einer Veröffentlichung der Daten einverstanden seien.

Auf den ersten Blick machte alles einen recht schlüssigen Eindruck. Sicher hatte es nur wenige Anhaltspunkte gegeben, die die Polizei von West Midlands hätte verfolgen können, aber die üblichen Nachforschungen waren angestellt worden. Niemand hatte einen triftigen Grund angeben können, weshalb Emma beschlossen haben könnte, zu verschwinden, oder irgendwelche Sorgen, die sie belastet hätten. Niemand hatte eine Ahnung, wo sie hätte hinfahren sollen, außer natürlich nach Hause, nach Withens.

»Wir werden noch mal mit ihren Mitbewohnern sprechen müssen«, sagte Hitchens. »Alex Dearden lebt und arbeitet hier in Edendale. Neil Granger ist auch von Withens weggezogen, aber nicht weit, nur ein paar Meilen das Tal von Longdendale hinunter, nach Tintwistle. Debbie Stark, fürchte ich, ist in West Midlands geblieben. Sie hat dort nach ihrem Studienabschluss eine Stelle gefunden.«

»Na, sie hätten auch in alle Himmelsrichtungen verschwinden können«, meinte Fry. »Wir können noch von Glück reden.«

Aber für Frys kritisches Auge ließen die Unterlagen der Polizei von West Midlands doch einiges vermissen. So schien der Fall keinerlei Dringlichkeit gehabt zu haben. Die Untersuchungen hatten sich über einen längeren Zeitraum hingezogen – genauer gesagt, über mehrere Wochen. Es machte den Eindruck, als hätte der mit dem Fall betraute Beamte die Arbeit daran immer irgendwie dazwischengeschoben, wenn es gerade zeitlich gepasst hatte. Es war auch nirgends ein Hinweis auf Unterstützung von Seiten der örtlichen Kripo zu finden. Nicht ein Name eines Kriminalbeamten tauchte in einem der Untersuchungsberichte auf.

Eigentlich überraschte Fry das nicht. Im Großraum einer Stadt wurden jedes Jahr Tausende von Personen als vermisst gemeldet. Fälle von Frauen unter einundzwanzig Jahren wurden zwar vorrangig behandelt, aber wie viele waren das? Und wie viele Kinder und junge Leute? Vermisste Kinder standen ganz oben auf der Prioritätenliste der Polizei. Wie viel Aufmerksamkeit konnte sich da Emma Renshaw erwarten, wenn kein Hinweis auf ein Verbrechen vorlag? Und das angesichts der bereits bis an die Grenzen ihrer Kapazitäten belasteten Kripomannschaften, die sich mit Serienmorden, anderen Gewaltverbrechen, Drogenproblemen, Einbrüchen und Autodiebstählen herumschlagen mussten?

Fry war selbst in dieser Situation gewesen. Sie hatte in einem der Büros der Kriminalpolizei gesessen und gearbeitet. Wahrscheinlich hatte der Beamte sein Bestes gegeben. Aber gegen Ende seines Berichts, als er zu dem Schluss kam, alle Fakten würden darauf hindeuten, dass Emma Renshaw – wie vermutet – die West Midlands verlassen hätte, sprang ihr aus diesen Seiten beinahe ein Gefühl der Erleichterung entgegen. Der Beamte hatte das Problem einfach nach Derbyshire zurückverwiesen.

Fry schüttelte den Kopf. Sie wusste nicht, ob sie es aus Ratlosigkeit tat oder ob sie versuchte, das unangenehme Gefühl loszuwerden, das sich ihrer bemächtigt hatte, seit sie den Beutel mit dem Beweismaterial in der Hand hielt.

»Wissen Sie, das ist mir alles ein bisschen zu vage, Sir«, sagte sie. »Mir kommt es so vor, als hätte keiner von Emma Renshaws Mitbewohnern genügend Interesse an ihr gehabt, um sich zu vergewissern, dass sie tatsächlich sicher allein zum Bahnhof kommt. Sie denken, dass sie ein Taxi nehmen wird, aber sie wissen weder wann, noch wo, noch wie oder welche Taxigesellschaft sie abholen kommt. Und keiner hat sie mit eigenen Augen das Haus verlassen sehen.«

Hitchens zuckte die Schultern. »Tja, so ist es nun mal, Diane. Sie wissen doch, dass so etwas andauernd passiert. Die Leute verschwinden einfach in irgendwelchen schwarzen Löchern.«

Sie nickte. Hitchens hatte natürlich Recht. Landauf, landab verschwanden permanent Teenager und wurden nie mehr gesehen. Aber Emma Renshaw war das letzte Mal in Bearwood gesehen worden, im Black Country, keine Meile von dem Zuhause ihrer Kindheit entfernt. Das machte einen Unterschied.

»Und wir müssen auch noch eine andere Möglichkeit in Betracht ziehen …«, fügte Hitchens hinzu.

»Sir?«

»Die Möglichkeit, dass Emma Renshaw vielleicht alle angelogen hat – ihre Eltern, ihre Freunde und ihre Mitbewohner. Sie hatte vielleicht überhaupt nicht die Absicht, nach Hause zu fahren.«

»Natürlich.«

Fry warf einen Blick auf den Zugfahrplan, der dem Bericht beigefügt war. Emma hätte an diesem Donnerstagmorgen, am zwölften April, wenige Minuten vor elf Uhr vom Bahnhof Birmingham New Street aus den Zug nehmen müssen. Virgin Trains hätte sie nach Manchester Piccadilly gebracht, wo sie eine Viertelstunde Zeit zum Wechseln des Bahnsteigs und zum Umsteigen in einen Nahverkehrszug gehabt hätte. Um zwanzig nach eins hätte sie am Bahnhof von Glossop eintreffen sollen, wo ihre Eltern Howard und Sarah Renshaw auf sie gewartet hatten. Aber Emma war nicht aus dem Zug gestiegen. Die Renshaws hatten versucht, sie auf ihrem Handy anzurufen, hatten aber nur die Mailbox erreicht. So hatten sie auf den nächsten Zug aus Manchester gewartet. Und dann wieder auf den nächsten.

Der zeitliche Ablauf löste in Fry ein Gefühl der Verzweiflung aus. Kein Wunder, dass der Beamte der Polizei von West Midlands froh gewesen war, den Fall vom Schreibtisch zu haben. Wenn Emma das Haus in der Darlaston Road wie geplant verlassen hatte, gab es zwei Möglichkeiten. Entweder war sie bereits in Birmingham verschwunden und hatte den Zug nie erreicht, oder sie hatte sich beim Umsteigen in Manchester in Luft aufgelöst.

Fry betrachtete die Namen von zwei der größten urbanen Konglomerate Großbritanniens, zwei Städte, in denen ein Mädchen von neunzehn Jahren mit Leichtigkeit untertauchen konnte. Die junge Frau wechselte einfach ihre Identität, und ihre Familie sah sie nie mehr wieder, wenn sie es nicht wollte. Fry wusste darüber nur allzu gut Bescheid.

Andererseits hielt sie hier einen Beutel mit Beweismaterial in der Hand, in dem sich ein Motorola Talkabout mit einem hellblauen Inlay über den Tasten befand, ein Handy, das laut Auskunft von Vodafone Emma Renshaw gehört hatte. Ohne eine Gruppe Wanderer, die beschlossen hatten, dass es Zeit zum Frühjahrsputz war, wäre das Telefon womöglich für immer unentdeckt geblieben. Und wäre einer dieser Wanderfreunde nicht die Mutter eines Teenagers gewesen, dessen Mobiltelefon aus der Handtasche geklaut worden war, wäre es zusammen mit dem restlichen Abfall auf der Müllkippe der Gemeinde gelandet. Und wäre da nicht der Polizist in Chapel-en-le-Frith gewesen, der sich die Zeit genommen und die Mühe gemacht hatte, den Besitzer des Handys ausfindig zu machen, wäre niemand auf die Idee gekommen, es kriminaltechnisch untersuchen zu lassen.

Aber genau das war geschehen, und das Ergebnis befand sich nun in Frys Händen. Auf der rechten Seite des Handys, auf dem blauen Inlay, zogen sich in Schlieren die getrockneten Überreste einer dunkelbraunen Flüssigkeit entlang. Die Flüssigkeit hatte die Tasten verklebt und war in das kleine Loch geflossen, wo man das Kabel zum Aufladen hineinsteckte. Laut Beschriftung des Beutels waren die Flecken als menschliches Blut identifiziert worden.

Fry wusste, dass sie möglicherweise auf die letzten verbliebenen biologischen Spuren von Emma Renshaw blickte. Ihre Finger berührten quasi die jämmerlichen Überreste von Emmas Leben, einen eingetrockneten Tropfen ihrer DNS.

Und das hatte den Tunnel der Angst in ihr geöffnet, den sie bereits die ersten Meter entlangschlitterte.

Detective Constable Gavin Murfin hatte rotblondes Haar und ein rosiges Gesicht. Seiner Unterlippe schienen immer ein paar Tupfer Tomatensauce anzuhaften. Er war schon weit über vierzig, schien sich jedoch keinerlei störende Gedanken über den Zustand seines Herzens zu machen. Aber er verfügte über große Erfahrung, und das war heutzutage Gold wert. Das musste selbst Diane Fry zugeben.

Fry fand Detective Constable Murfin an seinem Schreibtisch im Büro der Kriminalpolizei, wo er gerade telefonierte und nebenbei etwas aus einer Papiertüte knabberte. Fry wartete geduldig, bis er den Hörer auflegte.

»Und über Sie werde ich mich beim Chief Constable auch beschweren, Madam«, schnauzte er das Telefon an. Er hob den Kopf und grinste Fry an. »Unser Kundendienst entspricht leider nicht dem hohen Qualitätsstandard, der der Lady ihrer Ansicht nach für ihre Gemeindesteuer zusteht.«

»Hoffentlich warst du wenigstens höflich zu ihr, Gavin«, sagte Fry.

»Höflich? Ich habe ihr so viel Honig ums Maul geschmiert, dass sie jetzt gleich vor der Tür stehen wird, um mich flachzulegen.«

Fry war nicht in der Stimmung für Murfins speziellen Humor.

»Gavin, was machst du im Moment?«

»Häh?«

»Nicht viel, wie es aussieht.«

»Ich mache gerade mal eine Minute Pause.«

»Okay, die Minute ist um. Es gilt Verbrechen aufzuklären.«

»Ich habe in dem Jahr schon eines aufgeklärt, Diane.«

»Na, dann wird es Zeit, deinen Schnitt zu heben. Mal sehen, ob wir ihn nicht auf eins Komma fünf hochkriegen.«

Murfin seufzte. »Lass mich wenigstens noch das Teil hier fertig essen.«

Fry sah sich das Sandwich näher an. »Gavin, ist es das, was ich denke?«

»Speck und Würstchen.« Murfin leckte sich das Fett von den Fingern und verteilte den Rest auf einem Laborbericht.

»Der Speck besteht zur Hälfte aus reinem Fett, Gavin. Hast du noch nie was von Cholesterin gehört?«

»Selbstverständlich habe ich das. Ich war mit meiner Frau im letzten Sommerurlaub zwei Wochen dort.«

Fry atmete langsam ein und unterdrückte das dringende Bedürfnis, laut loszuschreien. Sie wusste, dass es die Angst war und nicht ihre Wut auf Murfin. Damit würde sie sich später beschäftigen müssen.

»So, hör auf, den Clown zu spielen, Gavin«, ermahnte sie ihn. »Hier steht jetzt gleich ein Ehepaar namens Renshaw vor der Tür.«

Murfin, der den Mund voller Würstchen hatte, gab ein gepresstes Stöhnen von sich. »Das ist nicht dein Ernst! Doch nicht Emma Renshaws Eltern?«

»Du erinnerst dich an den Fall?«

»Alle erinnern sich an den Fall. Was haben sie denn jetzt schon wieder angestellt?«

»Wer?«

»Die Renshaws natürlich.«

»Weshalb sollten sie etwas angestellt haben?«

»Na, die sind doch mittlerweile Stammkunden von uns. Frag mal die vom Verkehr.«

»Gavin, ich habe keine Ahnung, wovon du sprichst.«

»Dann solltest du dir schleunigst ein paar der Renshaw-Akten zu Gemüte führen. Vielleicht ist der Schock dann nicht gar so groß.«

Es klingelte. Murfin ging ans Telefon und schnitt eine Grimasse in Richtung Fry.

»Zu spät. Sie sind schon da.«

»Bring sie herauf, Gavin. Nein, halt, warte eine Minute. Komm her.«

Murfin blieb auf seinem Weg zur Tür vor Frys Schreibtisch stehen. Sie öffnete eine Schublade, holte ein Kleenex aus einer Box, wischte ihm sorgfältig die Tomatensauce vom Kinn, knüllte das Tuch zusammen und warf es in den Papierkorb.

»Okay. Jetzt siehst du nicht mehr aus wie ein übergewichtiger Vampir. Sonst machst du den Renshaws noch Angst.«

»Du spinnst wohl. Um mich müsstest du dir Sorgen machen, Diane. Die zwei sind grusliger als jeder Vampir. Die scheinen direkt aus der Nacht der lebenden Toten zu stammen.«

»Du schaust dir wohl noch immer die falschen Videos an, Gavin. Versuch es doch mal mit etwas feinfühligeren Themen.«

»So was liegt mir nicht«, knurrte Gavin und machte sich auf den Weg zu den Renshaws.

Fry setzte sich und atmete abermals tief durch. Dabei fiel ihr Blick auf die andere Seite des Büros. Gegenüber von Gavin Murfins chaotischem, papierübersätem Schreibtisch befand sich ein zweiter, der einen verlassenen Eindruck machte. Sein Besitzer hatte ihn vor seiner Versetzung zum Rural Crime Team noch vollständig ausgeräumt. Beim Anblick des leeren Schreibtisches stellte Fry sich die Frage, ob es mal so weit kommen würde, dass sie niemanden mehr hätte, an den sie sich wenden könnte, wenn sie mal Hilfe brauchte.

Die einsamen Toten

Подняться наверх