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Samstag

Mit einer schwungvollen Bewegung der Schultern ließ ein Polizist in Schutzkleidung den Rammbock gegen die Tür krachen, die gleich beim ersten Aufprall splitterte. Er holte noch ein paarmal aus, und das dumpfe Geräusch von Metall auf Holz zerriss die Stille des frühen Morgens. Als das Türschloss zerbrach, ging eine Alarmanlage los, und der Polizist versetzte der Tür einen letzten Tritt mit dem Stiefel.

Detective Constable Ben Cooper stand am Rand der Straße im feuchten Farn und beobachtete, wie Polizeibeamte in Kevlar-Westen in das Haus stürmten, während ihr Mannschaftsführer Befehle brüllte. Die Tür hatte für seinen Geschmack etwas zu leicht nachgegeben. Vielleicht hätte der Besitzer etwas mehr Geld in Sicherheit und weniger in Flachglasfenster und Veranden investieren sollen.

»Jedenfalls machen sie nach außen hin den Eindruck von Leuten, die nichts zu verbergen haben«, sagte er. »Aber wer weiß, wie hoch die Heizkosten sind. Bei den vielen Glasflächen.«

Cooper spürte einen feinen Nieselregen in der Luft, der weich wie Federn über sein Gesicht strich. Sonne und Regenschauer wechselten sich so schnell über den Bergen ab, dass einem fast schwindlig werden konnte. Obwohl er sich nicht bewegte, schien er in rascher Folge vom Dunklen ins Helle und wieder zurück zu treten, während die Wolken sich vor die Sonne schoben, ihren Regen auf ihn entluden und vom Wind westwärts getrieben wurden. Die Regentropfen hatten kaum eine Chance, auf seiner Wachsjacke zu trocknen, ehe die nächste Wolkenbank ihn schon wieder erreichte.

Aus irgendeinem Grund trug auch Police Constable Tracy Udall ihre Schutzweste. Zweifellos eine vernünftige Vorsichtsmaßnahme, aber es sah trotzdem ein bisschen komisch aus. Das Gefährlichste weit und breit waren ein paar Brennnesselbüsche. Und bei dem strammen Sitz der Weste konnte Cooper sich des Eindrucks nicht erwehren, dass die Kollegin eine Brustverkleinerung zumindest in Betracht ziehen sollte.

Die gelbe, wasserdichte Jacke von Constable Udall befand sich momentan im Wagen. Aber die dunklen Wolkenbänke, die aus dem Osten auf sie zurasten, ließen vermuten, dass sie es bald bereuen könnte, sich ohne sie so weit vom Wagen entfernt zu haben.

»Wenn wir über ihre Einkommensquelle richtig informiert sind, macht es ihnen sicher nicht viel aus, einen Teil davon an Powergen abzugeben«, stellte sie trocken fest.

Cooper wischte den Regen von seinem Fernglas, um sich das Gebäude näher anzusehen. Früher war es mal ein normales Bauernhaus gewesen, aber ein Teil der Seitenmauer war abgetragen und durch eine deckenhohe Glasscheibe ersetzt worden, durch die mehr Licht fiel, als mehrere Generationen von Bergbauernfamilien aus Derbyshire je in ihrem Leben zu Gesicht bekommen hatten. Im rückwärtigen Teil des Gebäudes waren ebenfalls Mauern durch Glas ersetzt, und in das steingedeckte Dach waren Mansardenfenster eingelassen worden.

Der Fußboden des Zimmers, das Cooper durch das Rechteck aus Glas sehen konnte, bestand aus hellen, gemusterten Holzquadraten und war früher sicher mit Steinplatten belegt gewesen. Durch ein Fenster im hinteren Teil fiel ein Lichtstrahl ins Zimmer. Das konnte nur bedeuten, dass eine Zwischenwand entfernt worden war, um einen einzigen, großen Raum zu gewinnen, der den ganzen hinteren Gebäudeteil einnahm. Ein Immobilienmakler hätte das sicher als großzügige, ineinander übergehende Zimmerfluchten verkauft.

Auf ihrem Weg ins Tal hinunter hatte die Polizeitruppe auf den Einsatz von gleißendem Blaulicht und heulenden Sirenen verzichtet, um in der frühen Morgendämmerung nicht vorzeitig aufzufallen. Aber jetzt war die Zeit für Diskretion vorbei. Einer der Männer des Sondereinsatzkommandos hatte auf dem Weg zur Razzia gefeixt, sie würden zusehen müssen, schnell ins Haus zu kommen, um nicht nass zu werden. Regen schadete den Kevlarfasern ihrer Schutzwesten, und direkter Sonnenbestrahlung sollte man das Material besser auch nicht aussetzen. Das war der Grund, weshalb Polizisten nie bei Sonnenschein in Schutzkleidung ausrückten, hieß es. Aber besser so, als wenn sie die Westen auf dem Revier im Spind hätten hängen lassen. So waren sie wenigstens etwas geschützt.

Ein paar hundert Meter hinter dem Zielobjekt war eine Ansammlung von Dächern zu erkennen – mehrere alte Wirtschaftsgebäude, von denen eines in eine Doppelgarage umgewandelt worden war. Auf der mit Klinkern gepflasterten Auffahrt stand ein Geländewagen – ein Toyota oder ein Mitsubishi, so genau konnte Cooper das aus der Ferne nicht erkennen. In dem Moment kam ein großer, struppiger Hund in Sicht, schnüffelte am Vorderrad des Fahrzeugs, warf einen schuldbewussten Blick über die Schulter und trottete zur Rückseite des Hauses. Neben der Auffahrt befand sich eine Koppel, auf der ein Shetlandpony, ein Jakobsschaf und zwei Moschusenten weideten.

»Was ist mit den Nachbarn?«, fragte Cooper.

»Eigentlich gehört das Haus ja einem Architekten«, erklärte Udall. »Offensichtlich ist er bei der Genossenschaft angestellt und verdient sich seinen Lebensunterhalt mit dem Bau von Supermärkten und Krematorien.«

Cooper mochte Udalls direkte Art. Auf dem Weg von der Dienststelle in Glossop hatte sie ihm im Wagen erzählt, dass sie seit zehn Jahren bei der Polizei war. Sie war allein erziehende Mutter und hatte den Dienst begonnen, sobald ihr jüngstes Kind alt genug für den Kindergarten war. Hatte sie mal Pech mit dem Schichtdienst – was normalerweise immer der Fall war, wie sie sagte –, holte ihre Mutter die Kinder von der Schule ab. Ihr Sohn war jetzt dreizehn und bereitete ihr langsam die altersüblichen Sorgen.

»Supermärkte und Krematorien?«

»Oder, wie Sergeant Boyce es formuliert, der macht alles, von der Grillkohle bis zur Urne. Boyce ist manchmal zum Brüllen.«

»Jede Truppe braucht ihren Klassenclown.«

»Aber der Architekt arbeitet im Ausland. Irgendwo in den Golfstaaten, glaube ich. Deswegen hat er das Haus auf mehrere Jahre vermietet. Der gegenwärtige Bewohner hat noch eine Anschrift in South Manchester. Seine dortigen Nachbarn sagen, er sei Autohändler.«

Unten am Haus war es still geworden. Die davor wartenden Polizisten überprüften nervös ihre Ohrstöpsel. Diese Momente zermürbenden Schweigens im Funkverkehr dauerten nie lange, aber sie waren schlimmer als jedes noch so hektische Gebrüll.

Cooper betrachtete die zweckentfremdeten Farmgebäude und dachte an seinen Bruder Matt, der mehr denn je damit zu kämpfen hatte, seine Familie mit dem Ertrag der Bridge End Farm über die Runden zu bringen. Die Einnahmen aus landwirtschaftlichen Betrieben mit Viehhaltung waren gewaltig in den Keller gesackt, und das nicht nur wegen der Nachwirkungen der Maul- und Klauenseuche. Farmer wie Matt lebten permanent am Rand der Pleite und konnten nur abwarten, ob und wann die Bank ihnen den Geldhahn zudrehen und den Überziehungskredit kündigen würde. Es hatte schon einige Vorteile, ein regelmäßiges Gehalt von der Polizei von Derbyshire zu beziehen.

»Was ist mit der umgebauten Scheune?«

»Da sind jetzt Ferienwohnungen drin«, erklärte Udall. »Zwei Apartments mit einer gemeinsamen Terrasse nach hinten raus. Zweifellos ein willkommenes Zubrot, falls es auf dem Krematoriumssektor mal eng wird.«

»Da sehe ich keine große Gefahr. Es wird immer genügend Leute zum Verbrennen geben. Und heutzutage wird der Platz für Erdbestattungen knapp.«

»Ja, die Plätze auf den Friedhöfen sind wirklich sehr begehrt. Die Leute tun alles, um dorthin zu kommen. Sogar sterben.«

»Ist das auch auf Sergeant Boyce’ Mist gewachsen?«

Udall errötete leicht, erwiderte aber nichts. Stattdessen zupfte sie am Saum ihrer Weste und zog sie über ihre Hüften. An ihrem Dienstgürtel hingen Gummiknüppel, Handschellen, Tränengas und eine Reihe von Gürteltaschen, deren Sinn und Zweck Cooper vergessen hatte. Er meinte sogar, sich zu erinnern, dass es damals, als er noch in Uniform Dienst geschoben hatte, das alles nicht gegeben hätte. Die Veränderungen im Polizeidienst erfolgten immer schneller, und sechs Jahre in Zivil waren lange genug, um jeden Kontakt mit der uniformierten Truppe zu verlieren.

Tracy Udall hatte das dunkle Haar schmerzhaft straff nach hinten zu einem kurzen Pferdeschwanz gebunden, der vorwitzig unter ihrem weißen Hut mit der kurzen Krempe hervorlugte. Aus dem, was sie ihm erzählt hatte, hatte Cooper geschlossen, dass der Vater ihrer Kinder sich gleich nach der Geburt aus dem Staub gemacht hatte. Jetzt war sie wahrscheinlich knapp über dreißig. Leider war Sergeant Jimmy Boyce verheiratet und hatte selbst vier Kinder.

Cooper wusste, dass er eine Menge von Police Constable Udall und ihren Kollegen lernen konnte – die alltägliche Routine und die Basispolizeiarbeit, die ihm nach sechs Jahren am Schreibtisch bei der Kripo in Edendale fremd geworden waren. Sein Chief Superintendent bei der Division E hatte als Erster etwas von »Zusatzqualifikation« gemurmelt, als das mit der erhofften Beförderung in den Rang eines Detective Sergeant doch nicht geklappt hatte. Zusatzqualifikation bedeutete in dem Fall eine Versetzung in eine Spezialabteilung, jedoch ohne die Vorteile und Vergünstigungen einer Beförderung. Unausgesprochen schwang dabei mit, dass sich eine breiter gefächerte Erfahrung vorteilhaft auf zukünftige Aufstiegschancen auswirken würde. Nichts als leere Versprechungen, hätte Coopers Mutter wahrscheinlich gesagt.

Aber jetzt war er plötzlich hier, vorübergehend versetzt zum Rural Crime Team, zur Landpolizei, und in beratender Funktion für Sergeant Boyce’ Einsatztruppe uniformierter Polizisten tätig. Diese Leute hier kannten die Probleme der Dörfer des Peak District bestens. Ihr Wissen entstammte langen Jahren als Gemeindepolizisten, in denen sie regelmäßigen Kontakt zu den Einheimischen pflegten und immer ein offenes Ohr für deren Sorgen und Nöte hatten. Oft ging es dabei um eine Anzahl von Einbrüchen, kleineren Diebstählen, Sachbeschädigungen und Verkehrsvergehen, die praktisch ungestraft blieben. Prioritätensetzung lautete heutzutage die Devise, und Eigentumsdelikte waren da ganz unten angesiedelt. In manchen ländlichen Gebieten mussten sich die Bürger schon glücklich schätzen, wenn sie überhaupt etwas von der Polizei hörten und sich der Kontakt nicht nur auf die Ausgabe einer Aktennummer für die Versicherung und ein mitfühlendes Anschreiben des Victim Support, dem Verein zur Unterstützung der Opfer, beschränkte.

Cooper half gern, wenn er konnte. Aber während er hier neben PC Tracy Udall am Straßenrand im Tal von Longdendale stand, fragte er sich ernsthaft, ob er nicht doch auf ein Abstellgleis abgeschoben worden war. War nach Anfangserfolgen seines Teams mit Sergeant Boyce als Aufstiegskandidat zu rechnen? Wartete in ein paar Monaten der Job eines uniformierten Sergeants auf einen glücklichen Detective Constable? Cooper fragte sich, was Detective Sergeant Diane Fry als seine unmittelbare Vorgesetzte wohl aus dieser Situation machen würde. Aber er musste sich nicht sehr anstrengen, um ihr grinsendes Gesicht vor sich zu sehen. Sie wäre froh, ihn los zu sein, da war er sicher.

Cooper stand in der Sonne und stellte fest, dass ihm unter seiner gewachsten Jacke der Schweiß aus allen Poren trat. An Frühlingstagen wie diesen wusste man nicht, was man anziehen sollte, wenn man morgens aus dem Haus ging. Ganz gleich, wofür man sich entschied, es war klar, dass man entweder nass werden oder sich zu Tode schwitzen würde. Wahrscheinlich beides. Das Wetter im Peak District war völlig unberechenbar, und das zu jeder Jahreszeit, egal, wie lange man hier schon lebte. Im Freien war man permanent beschäftigt, Lagen an Kleidungsstücken an- und wieder auszuziehen, wenn man nach einem schweißtreibenden Aufstieg plötzlich dem beißenden Wind einer ungeschützten Hochebene ausgesetzt war. Im April wusste man nie zu sagen, welches Wetter einen in den nächsten fünf Minuten erwartete. Eine Windbö, ein Sturm, sintflutartige Hagelschauer oder eine plötzlich heiß herunterbrennende Sonne – innerhalb einer Stunde war alles möglich.

Unten im umgebauten Gehöft machten sich die aus ihren Betten gescheuchten Verdächtigen langsam fertig für den Abtransport. Mit etwas Glück würden sie eine Weile kein Sonnenlicht zu Gesicht bekommen.

»So eine abgelegene Farm ist der ideale Stützpunkt für illegale Operationen. Und zwischen Edendale und hier gibt es Gott weiß wie viele davon«, seufzte Udall.

»Zu viele«, pflichtete Cooper ihr bei.

»Auch als Drogenlabor sind sie nicht schlecht. Aber wenn Sie mich fragen, heißt das, die Spezialisierung auf die Spitze zu treiben. Entschieden zu weit. Wenn die Leute hier als Bauern schon nicht überleben können, sollen sie lieber Teestuben aufmachen oder Zimmer mit Frühstück vermieten.«

»Aber mit Drogen verdient man mehr Geld. Und man muss sich nicht mit dämlichen Touristen herumschlagen.«

»Die Nachbarn werden einen Schock bekommen«, sagte Udall. »Hier hat keiner nennenswerte Sicherheitsvorkehrungen, wie man sieht. Keine Mauern, keine Gitter vor den Fenstern, und die paar dekorativen Lampen bescheinen doch nur den Garten und den Fischteich und sonst nichts. Und der Afghane sieht auch nicht aus, als würde er großartig einen auf Wachhund machen.«

»Die Leute hier in der Gegend sind nun mal der Ansicht, dass sie ihre Häuser nicht in Festungen verwandeln müssen.«

»Schon, aber der Architekt ist nicht von hier. Bis vor zwei Jahren hat er noch in Sheffield gewohnt. Er sollte es eigentlich besser wissen.«

»Das liegt an dieser Landschaft«, erklärte Cooper. »Sie wiegt die Leute in einem falschen Gefühl von Sicherheit und geistiger Gesundheit.«

Wäre Cooper ehrlich zu sich selbst gewesen, hätte er zugeben müssen, dass sein kurzer Abstecher zum Rural Crime Team der Division E sich bereits wie ein Schwall frischer Luft anfühlte, der zum Fenster hereinwehte. Der Winter in Edendale war lang und hart und voller Komplikationen gewesen. Darunter Diane Fry, um nur eine davon zu nennen.

Und er hatte beschlossen, sein Leben zu ändern und nicht mehr auf der Bridge End Farm zu wohnen. Mit fast dreißig Jahren war er endlich von zu Hause ausgezogen. Jetzt hatte er den Salat und musste sich um alles selbst kümmern und sich mit den unerwarteten Schwierigkeiten herumschlagen, die Eigentum mit sich brachte, auch wenn seine Wohnung in Edendale nur gemietet war. Aber er besaß jetzt sein eigenes Reich, und das Leben sah gleich ganz anders aus. Das und sein bedrohlich näher rückender dreißigster Geburtstag ließen vieles in einem anderen Licht erscheinen. Er kam sich vor, als sei er plötzlich aus seinem familiären Alltagstrott herausgehoben und in eine andere Richtung geschoben worden, so dass er nicht mehr wusste, wer oder was er war. Irgendwie ähnelte er diesem ehemaligen Farmhaus da unten – eigentlich war er für etwas ganz anderes gemacht.

»Solche Anwesen sollten heutzutage unbedingt über Alarmanlagen verfügen. In den vergangenen achtzehn Monaten ist fast jedes Haus in Longdendale, egal, wie groß, im Visier von Einbrechern gewesen«, erklärte Udall. »In manchen ist sogar mehr als ein Mal eingebrochen worden. Und wenn die Einbrecher nicht gleich beim ersten Mal Erfolg haben, peilen sie eben noch mal die Lage und kommen später wieder.«

»Profis also?«

»Zweifellos.«

»Lokale Banden? Oder eher von der reisenden Zunft?«

»Also, wir sind definitiv der Ansicht, dass sie irgendwo in unserem Revier ein Lager für ihr Diebesgut angelegt haben. Wahrscheinlich auch in so einem abgelegenen Gehöft.«

»Worauf haben sie es denn abgesehen?«

»Die Typen haben sich auf Antiquitäten spezialisiert: Uhren, Porzellan – auf alles, das klein ist und aussieht, als könnte es einiges wert sein. Es gibt einen riesigen Markt für diesen Nippes. Wahrscheinlich richten sie es so ein, dass sie immer eine Lastwagenladung zusammenbekommen, und schaffen das Ganze dann hinüber in die Staaten oder irgendwohin nach Europa. Ist leicht verdientes Geld.«

Das Shetlandpony machte sich gerade über die zwei Moschusenten her und trieb sie quer über die Koppel, bis sie mit den Flügeln zu schlagen und ärgerlich zu quaken begannen.

»Hat der Architekt die Umbauten eigentlich selbst entworfen?«, wollte Cooper wissen.

»Ich denke schon. Aber dabei ist es ihm weniger auf die Sicherheit als auf die Optik angekommen, finden Sie nicht auch?«

»Da haben Sie Recht. Er hätte es wirklich besser wissen müssen. Da kommen sie.«

Die Beamten der Sondereinsatztruppe führten zwei Männer am Ellbogen aus dem Zielobjekt. Beiden Männern waren die Hände mit Handschellen auf den Rücken gefesselt. Sie sahen aus, als hätten sie hastig irgendetwas übergezogen, das gerade zur Hand war. Cooper hatte es auch nicht viel anders gemacht. Aber die beiden könnten immerhin eine Weile ihre Füße in einer warmen, trockenen Zelle hochlegen, sobald sie auf der Polizeidienststelle in Glossop waren.

Cooper richtete sein Fernglas westwärts und suchte die kahle Landschaft des nördlichen, so genannten Black Peak Districts aus Torfmoor und Heidekraut nach weiteren Anzeichen von Zivilisation ab. Ein schmales, von Bäumen gesäumtes Tal, aus dem ein Kirchturm hervorlugte, erregte seine Aufmerksamkeit.

»Was ist das da drüben?«, fragte er.

»Das? Oh, das ist Withens.«

Cooper sah nicht viel von dem eigentlichen Dorf. Es schien am Grund einer Senke zu liegen und sich an einen engen Spalt in der Moorlandschaft zu schmiegen. Der untere Teil der Hänge oberhalb des Dorfes war mit Bäumen bewachsen, durch die nur hier und da ein Hausdach hervorblitzte. Das Tal war so eng, dass es aussah, als würden die zwei gegenüberliegenden Hänge nur auf den richtigen Zeitpunkt warten, um wieder zusammenzuwachsen und das Dorf – und mit ihm alle seine Bewohner – komplett zwischen sich zu zermahlen.

»Withens«, wiederholte Cooper und ließ den Klang des Namens in seinem Mund zergehen, als kostete er einen Bissen einer unbekannten Speise, unsicher, ob sie sich als bitter oder süß, als weich oder nur schwer zu kauen erweisen würde.

Oberhalb des Dorfes erstreckte sich ein Hochmoor, eine düstere Fläche aus dunklen Khaki- und Grüntönen, ohne jede Auflockerung durch die dunkellila Blüten des Heidekrauts, das im Sommer wenigstens etwas Farbe in die Landschaft brachte. Der größte Teil des Moors hier war sumpfiger Boden, nasses, morastiges Torfmoor, das bei jedem Schritt federnd nachgab, sich an den Stiefelsohlen festsaugte und an die Hosenbeine klammerte. Jenseits des Tales erhob sich der Bleaklow Mountain genau an der Wasserscheide von England. Jährlich prasselten mehr als sechzig Zoll an Niederschlägen auf die ausgedehnten Torfrinnen und die festen Stellen im Sumpf.

»Wir können ja hinterher, wenn wir hier fertig sind, ins Dorf hinuntergehen und uns dort umschauen«, schlug Udall vor. »Das heißt, wenn es Sie interessiert. Aber Withens ist kein Idyll. Wie der Zufall es will, hat der Pfarrer erst gestern einen Einbruch gemeldet.«

»Gut.«

Cooper bemerkte zwei schwarze Flecken am Himmel, die über dem Moor kreisten. Dankbar für jedes Lebenszeichen in dieser Ödnis, richtete er sein Fernglas darauf.

Aber diese beiden Lebewesen waren nicht unbedingt willkommen. Cooper konnte zwar nicht erkennen, was die Aufmerksamkeit der zwei Aaskrähen erregt hatte, vermutete aber, dass sie ein schwaches Lamm im Visier hatten. Vor der Schur kam für die Krähen manchmal auch ein ausgewachsenes Schaf als Beute in Betracht, nämlich dann, wenn es umgekippt war und unter dem Gewicht des Fells aus eigener Kraft nicht mehr auf die Beine kam. Aber im Frühjahr waren es die frisch geworfenen Lämmer, weshalb die Krähen flügelschlagend über dem Moor kreisten. Im Moment mussten sie sich wahrscheinlich mit jungen Moorschneehühnern und dem Gelege anderer Vögel zufrieden geben. Aber ein schwaches Lamm wäre eine schöne Bereicherung ihres Speisezettels. Sein Kadaver würde sie tagelang ernähren.

Hatten sie ein Lamm gesichtet, ließen sie sich auf einem Felsen in der Nähe nieder und warteten geduldig, bis es schwach und hilflos war. Dann begannen sie mit ihrer Arbeit. Sie machten sich zunächst über seine Augen her und hackten auf das weiße Fleisch ein, ein Leckerbissen, der unbedingt frisch verzehrt werden musste. Sobald das Lamm blind war, konnten sich die Krähen in aller Ruhe den Rest des Tieres einverleiben, während es verendete.

Cooper ließ sein Fernglas sinken und richtete seinen Blick auf das dunkle Massiv der Berge hinter Withens.

»Tracy, haben Sie schon den Rauch dort drüben bemerkt?«, fragte er.

Udall folgte seinem Blick. »Mist!«

Schwarze Wolken ballten sich über einem breiten Streifen des Moors zusammen, und hier und da schlugen sichtbar Flammen daraus empor. Der Brandherd schien sich genau unterhalb des Horizonts zu befinden. PC Udall lief zum Wagen, um über Funk Bescheid zu geben, war aber bereits nach wenigen Minuten wieder zurück.

»Feuer im Moor. Die Zentrale glaubt, dass ein paar Kids aus Manchester auf Schulausflug gezündelt haben. Die Feuerwehr schickt alle Löschmannschaften her, die sie zusammentrommeln kann, aber es brennt genau auf dem Gipfel oberhalb von Crowden, und da kommt man kaum ran. Die Feuerwehrleute, die armen Teufel, werden die letzte halbe Meile mit ihrer Ausrüstung zu Fuß zurücklegen müssen. Vielleicht müssen sie sogar den Hubschrauber mobilisieren und Wasser aus den Stauseen auf das Feuer abwerfen.«

»Auf jeden Fall geht uns das nichts an«, meinte Cooper.

»Gott sei Dank.«

Ein Windstoß fegte über die Straße, und wieder klatschten Regenschauer in ihre Gesichter. Aber der Regen war zu schwach, um den Feuerwehrleuten eine Hilfe zu sein.

»Ich glaube, die sind unten jetzt fertig und warten auf uns«, sagte Udall.

»Okay.«

Cooper warf einen letzten Blick auf das Moor über Withens. Der Rauch breitete sich weiter aus, während der Wind in niedriger Höhe über das Heidekraut hinwegstrich. Davor kreisten immer noch die beiden Krähen, schwärzer als der Rauch.

Noch ehe die Sonne über dem Withens Moor aufgegangen war, hatte Neil Granger gewusst, dass er nicht allein war. Er hatte mit dem Rücken zu einem der Luftschächte über dem alten Eisenbahntunnel gestanden und gen Osten, in Richtung der anbrechenden Dämmerung geblickt. Kühle Luft wehte ihm ins Gesicht. Bald würde der erste Lichtschein zwischen den Felsspitzen des schwarzen Höhenrückens von Gallows Moss hervorlugen.

Jeder Laut aus den ihn umgebenden Tälern war an seine Ohren gedrungen: das Spritzen des Wassers, als ein Vogel von einem der Stauseen im Tal von Longdendale aufflog, das Brummen eines Motors auf der A628. Jeder sanfte Windhauch versetzte das raue Gras in Schwingung, das, langen Fingern gleich, in der Dunkelheit nach Neils Hosenbeinen griff. Die Luft war so rein, dass er den ersten Dunst des Morgentaus, der aus dem Heidekraut aufstieg, als kalten, metallischen Geschmack in seinem Mund wahrnahm. Doch bereits in wenigen Minuten würde die Dämmerung die Dunkelheit und den Tau vertreiben.

Die Geräusche, die aus der Nähe zu ihm drangen, hatten sich zuerst angehört, als würden auf dem Hang hinter ihm kleine Steine herunterrutschen. Das Geröll war lose, und die steigende Temperatur produzierte Spannungen im Gestein und versetzte möglicherweise die Steine in Bewegung. Doch allmählich wurde es Neil bewusst, dass jemand an den Luftschacht hinter ihm getreten war. Wahrscheinlich, um auf der anderen Seite der hohen, runden Mauer eine Verschnaufpause einzulegen.

»Na, ich hatte schon nicht mehr daran geglaubt«, sagte Neil. »Ich dachte schon, es würde keiner mehr kommen.«

Seine Stimme sank hinab ins Tal und wurde vom Wind davongetragen. Er erhielt keine Antwort aus der Dunkelheit und lächelte.

»Geht ziemlich steil hoch hier, wie? Ich bin auch völlig außer Puste.«

Er erwartete, hinter sich jemanden nach Luft schnappen zu hören. Aber wieder nichts – nur schwarze Nacht und ferne Geräusche aus dem Tal.

»Nach dem Winter bin ich so was von untrainiert, dass ich dachte, ich bekomme gleich einen Herzanfall, als ich endlich oben war.«

Neil hielt inne, aber wieder nichts.

»Ich dachte, ich müsste hier oben sterben, und keiner würde es je erfahren. Wenn ich hier gestorben wäre und du nicht gekommen wärst, hätte mich tagelang niemand gefunden.«

Neil schaute zu Gallows Moss hinüber. Ein schwacher Farbschein legte sich zaghaft auf die Wolken. Neil hob seine Stimme ein wenig, als hätte das erste Licht des Tages etwas enthüllt, mit dem er bisher nicht gerechnet hatte.

»Alles in Ordnung?«, fragte er. »Brauchst du Hilfe?«

Neil wartete, immer noch umgeben von Stille. Aber er schaute nicht länger Richtung Osten, sondern warf einen raschen Blick über die Schulter zurück nach Westen, weg vom aufkeimenden Licht, hinein in die Dunkelheit. Irgendetwas war anders. Der Wind fühlte sich nicht mehr erfrischend kühl an, sondern war kalt und jagte ihm einen Schauer über den Rücken. Es waren keine sanften Finger mehr, die über sein Gesicht strichen, sondern scharfe Krallen, die seine Haut ritzten. Die Luft schmeckte nicht mehr nach Morgentau, sondern nach einer namenlosen Angst. Neil fragte sich, ob er je wieder den Gesang des ersten Vogels im Licht der aufgehenden Sonne hören würde. Nur die Dunkelheit hatte ihm ein Gefühl der Sicherheit gegeben. Und im nächsten Augenblick schon würde die Dämmerung den schwarzen Schleier lüften.

»Ja, ich dachte wirklich, ich würde hier oben sterben«, wiederholte er.

Der erste Schlag, der ihn traf, kam völlig unerwartet. Als würde die Welt auf ihn stürzen wie eine Tonne Geröll, das aus dem Luftschacht auf ihn niederprasselte. Oder wie ein Zug, der aus dem alten Eisenbahntunnel hervorgeschossen kam.

Neil sackte zu Boden und verlor das Bewusstsein. Knochen splitterten, und mit einem dumpfen Krachen schlug er auf den Steinen auf. Seine Kopfhaut war aufgeplatzt, und der darunter liegende Knochen, der zertrümmert hervorragte, hatte die Membran eingerissen, die das Gehirn umhüllte. Innerhalb weniger Sekunden sickerte Neils Gehirn-Rückenmarksflüssigkeit aus dem Riss auf die Steine, wo sich bereits das Blut aus seiner Kopfwunde ausbreitete. Das Blut hatte seine Haare getränkt und floss in kleinen Bächen über Gesicht und Hals, wo es ein sich verzweigendes Netz bildete wie die verschlungenen Kanäle, die das Torfmoor entwässerten, auf dem er lag. Aber auf seiner Haut fand das Blut keinen Halt, deshalb tropfte es weiter, bis es auf die Steine traf und in den Boden sickerte.

An der Stelle, wo die Gehirn-Rückenmarksflüssigkeit aus Neils Gehirn austrat, würde sich rasch eine Infektion ausbreiten. Aber das spielte keine Rolle mehr. Ein Teil seiner Gehirnmasse war von der Wucht des Schlages zerquetscht worden, und tief unter den verschlungenen Nervenbahnen und Ganglien bildete sich ein kleines Hämatom. Ein tödliches Hämatom.

Doch Neil hätte ohne weiteres überleben können, wäre er sofort in die Notaufnahme eines Krankenhauses eingeliefert und behandelt worden. Er hätte überlebt, hätte ein Neurochirurg eine Computertomografie angeordnet, das Hämatom operativ entfernt, in einem zweiten Schritt die Membran genäht und die verbliebenen Knochenfragmente herausgeholt. Wäre er sofort operiert worden und hätte er Antibiotika gegen die Infektion bekommen, hätte Neil überleben können.

Aber das Schicksal sah nicht vor, dass Neil Granger ein Krankenhaus erreichen oder einen Neurochirurgen zu Gesicht bekommen sollte. Während sein Leben im Torf versickerte, war nur ein Mensch bei ihm, und der wartete darauf, dass er starb. Niemand rief einen Krankenwagen. Neil würde sich nie mehr von der Bewusstlosigkeit erholen, die dem ersten Schlag auf seinen Kopf folgte, oder aus dem Koma erwachen, das der zweite Schlag hervorrief. Er würde nie erfahren, was passierte, nachdem er allein gelassen wurde, und er würde sich nie ängstigen, was nach seinem Tod mit seinem Körper geschehen sollte.

Nichts bewegte sich rund um den Luftschacht, außer dem dampfenden Atem, der aus seinem Mund aufstieg und ins Tal hinabgeweht wurde – und eine kleine Weile später die beiden schwarzen Vögel, die über Withens Moor kreisten.

Die einsamen Toten

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