Читать книгу Die einsamen Toten - Stephen Booth - Страница 13

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Ehe er an diesem Abend die Kirche verließ, ging Derek Alton – statt einen letzten Blick in die verwüstete Sakristei zu werfen – zum Altar und verharrte einen Moment auf dem Rechteck aus Steinplatten. Hier war es immer kühl. Die Sonnenstrahlen, die tagsüber durch das Fenster fielen, erreichten diese Stelle nie. Hier glaubte Alton in der kühlen Luft die Gegenwart des Heiligen Geistes zu spüren. Eine Gegenwart, die real und mit Händen zu greifen war, die zärtlich sein Gesicht berührte und seine Haut kühlte wie frisches Schmelzwasser im Frühjahr. Dieses Bewusstsein, etwas Reines, außerhalb der Realität von Withens Stehendes zu erleben, erfüllte ihn mit Freude. Wenige Augenblicke stummer Kontemplation halfen normalerweise, seine Ängste zu dämpfen. Aber heute Abend schien es nicht zu funktionieren.

Derek Alton hatte seinen Wagen am Tor des Friedhofs geparkt. Etwas Besseres als diesen klapprigen alten Ford Escort konnte er sich nicht leisten. Ein anglikanischer Geistlicher war ein Angestellter Gottes, und Gottes Lohn war bekanntlich karg. Das alte Pfarrhaus stand zwar direkt hinter der Kirche, aber der momentane Amtsinhaber von St. Asaph hatte keine Verwendung dafür, da es zu groß war und der Diözese im Unterhalt zu teuer kam. Deshalb hatte man ihm und Caroline einen Bungalow auf der neuen Straße oberhalb des Dorfes zur Verfügung gestellt. Aber der Bungalow war klein, zu klein für die große Familie, die Caroline sich wünschte.

Während er den Friedhof durchquerte und zum Tor ging, sah sich Alton automatisch nach neuem Müll oder neuen Schäden um. In der letzten Zeit schien das Bier von Foster’s der absolute Renner bei den Jugendlichen zu sein, die abends hierher kamen. Die blauen Dosen, leer und in der Mitte zusammengedrückt, stachen deutlich zwischen den Brombeersträuchern und Farnen hervor. Alton stellte sich vor, wie einer der Oxley-Jungen vor seinen Freunden pubertäre Stärke demonstrierte, indem er paffte und kiffte, was das Zeug hielt, und vielleicht sogar Leim schnüffelte. Er hatte keine Ahnung, was die Jugendlichen nachts auf dem Friedhof trieben, und wollte auch lieber keine Vermutungen anstellen.

Die Bierdosen wanderten in eine schwarze Mülltonne zu den welken Blumen und den Plastikblumentöpfen. Die Abfalltonne neben der Kirchenvorhalle war seit Wochen nicht mehr ausgeleert worden. Der Deckel, der den überquellenden Müll nicht mehr bändigen konnte, lag nutzlos am Boden. Was wohl tief unten in der übel riechenden Dunkelheit alles vor sich hin brütete oder sich gerade verpuppte? Welches weiße, wimmelnde Getier sich gerade seinen Weg durch die verrottenden Abfälle fraß? Jetzt, da das Wetter wärmer wurde, würde er es bald herausfinden, wenn die Tonne nicht geleert wurde. Eines Morgens würde er sich, wild mit den Armen schlagend, seinen Weg durch Wolken von Stechmücken und Schwärme von Schmeißfliegen bahnen müssen, um zu Kirchentür zu gelangen.

Neben der dunklen Kirchenmauer fiel Alton ein Farbfleck auf, der dort nicht hinpasste. Aber es war keine Bierdose von Foster’s. Auf dem Gedenkstein für einen ehemaligen Kirchenvorsteher thronte ein kleiner Stoffzwerg mit roter Mütze, blauer Jacke und weißem Bart. Natürlich auch ein Oxley.

Alton sperrte seinen Wagen auf und warf einen Blick zum Dorf hinauf. Es gab zehn Straßenlaternen in Withens. Alton wusste deswegen so genau, wie viele es waren, weil er sie in der ersten Woche nach seiner Ankunft gezählt hatte. Sie waren ihm als Symbol erschienen, dass die Zivilisation auch dieses Dorf erreicht hatte. Angesichts des unwirtlichen Eindrucks, den die dunklen Steinhäuser und düsteren Hänge auf ihn gemacht hatten, hatte er sich an die Gegenwart dieser Laternen geklammert und versucht, Trost daraus zu ziehen. Doch wie immer, wenn er – wie jetzt – von der Kirche Richtung Dorf blickte, verblüfften ihn diese Straßenlaternen mit ihrer Eigenschaft, zwar die Straße, aber nicht die Gebäude zu beleuchten. Ihr kalter, orangeroter Lichtschein drängte die Häuser dahinter in noch tiefere Finsternis.

Aber selbst wenn die Straße beleuchtet gewesen wäre, hätte Alton von dem Platz aus seinen Bungalow nicht sehen können. Zehn Straßenlaternen, die Fenster des Quiet Sheperd und die Umrisse seines Daches waren alles, was er von Withens überhaupt erkennen konnte.

Dafür sah Alton etwas anderes: eine Gruppe dunkler Gestalten, die die Straße entlang auf die Lichter des Dorfes zugingen. Sie tauchten von einem Kegel einer Straßenlaterne in den nächsten, ein wenig schwankend, wie es schien. Ob sie müde oder betrunken waren, hätte Alton nicht zu sagen vermocht. Wahrscheinlich waren es die Oxleys – Lucas, Scott, Ryan und die Cousins. Selbstverständlich auch der alte Eric Oxley persönlich. Heute Nacht waren die Border Rats wieder unterwegs.

Diane Fry starrte durch die Windschutzscheibe auf die Straßen von Sheffield und vermied es, einen Blick auf den Mann neben sich im Wagen zu werfen. Sie hatte ihn erst eine Weile neben der Beifahrertür warten lassen, ehe sie auf den Knopf gedrückt und die Zentralverriegelung geöffnet hatte. Nicht, dass sie Zweifel an seiner Identität gehabt hätte; sein brauner Mantel und das schüttere rötliche Haar waren auch durch die Regenschlieren zu erkennen, die ihre Autofenster überzogen. Nur war da diese leise Stimme in ihrem Hinterkopf, die sich immer bei ihr meldete, wenn sie im Begriff stand, etwas Dummes zu tun. Nach einem kurzen inneren Kampf hatte sie die Stimme schließlich so weit übertönt, dass sie ihn einsteigen lassen konnte.

Als der Mann im Wagen saß, arbeiteten alle ihre Sinne auf Hochtouren, und alle ihre Muskeln waren angespannt angesichts möglicher Gefahren. Aber bisher wirkte der Mann noch nicht bedrohlich. Fry wusste jedoch, dass sie die Oberhand über die Situation behalten musste, damit es so blieb.

»Unter welchem Namen ist sie untergetaucht?«, fragte sie.

Sie konnte den Mann atmen hören. Er gehörte nicht zu denen, die schnelle Antworten lieferten, eine Gewohnheit, die er wahrscheinlich auf die harte Tour gelernt hatte.

»Nicht unter dem, den Sie kennen«, erwiderte er.

Fry war sich seines klobigen männlichen Körpers bewusst, der sich neben ihr auf dem Sitz breit machte, mit dem rechten Ellenbogen und dem rechten Bein zu nahe und damit zu dicht an ihrem persönlichen Sicherheitsabstand. Das Innere eines Wagens war zu beengend, als dass sie jemals anders empfunden hätte. Und dabei spielte es keine Rolle, wer neben ihr saß – ob einer ihrer Detective Constables, Gavin Murfin oder Ben Cooper, es war immer dasselbe. Eine Weile hatte sie tatsächlich überlegt, Murfin zu bitten, sich auf den Rücksitz zu setzen. Aber sie wusste, das hätte ihm gefallen, weil er dann so tun konnte, als wäre er der Fahrgast und sie sein Chauffeur. Außerdem, wer weiß, wie ihr Rücksitz darunter gelitten hätte. Im Winter war vorne auf der Fußmatte, wo Murfin seinen endlosen Vorrat an Junk-Food verstreut hatte, bereits Schimmelpilz gewachsen.

»Nein, ich habe auch nicht angenommen, dass es der Name ist, den ich kenne«, sagte sie. »Deswegen frage ich Sie ja.«

Er erwiderte nichts, und Fry wusste, dass er grinste, auch ohne sich ihm zuzuwenden. Sie versuchte, sich zu erinnern, ob sie noch eine Packung Luftverbesserer im Handschuhfach hatte. Sobald der Mann draußen war, würde sie so ein Bäumchen an den Rückspiegel hängen, damit nicht ein Geruchsmolekül sie mehr an ihn erinnerte.

»Ich brauche aber einen Namen«, sagte sie. »Und ich brauche eine Adresse.«

Sie konnte ihn in seinen Taschen kramen hören. Offensichtlich hatte er eine Schachtel Zigaretten herausgenommen, denn sie hörte ein Klicken und sah eine winzige Flamme aufleuchten, die sich in der Windschutzscheibe spiegelte.

»Wenn Sie sich die Kippe in meinem Wagen anzünden, stopfe ich sie Ihnen in den Hals«, sagte sie drohend.

Der Mann lachte, ließ die Flamme aber erlöschen.

»Was machen Sie hier eigentlich allein?«, fragte er. »Wo ist Ihr Partner? Sollen Sie nicht immer paarweise arbeiten? Das könnte gefährlich werden. Vor allem für eine Frau.«

»Nicht für mich.«

»Nein?«

»Nein.«

»Ich glaube Ihnen das aufs Wort, Schätzchen. Tausend andere aber nicht.«

»Es ist mir scheißegal, was Sie glauben oder nicht. Ich bin nicht hier, um Ihre Auffassungsgabe zu testen oder zu überprüfen, ob Sie sehen, was direkt vor Ihrer Nase ist. Aber wenn Sie es darauf anlegen, werden Sie mich kennen lernen.«

»Schon gut, schon gut. Beruhigen Sie sich wieder.«

Fry drehte den Kopf und starrte aus dem Fenster auf der Fahrerseite, als könnte sie seine Anwesenheit vergessen, wenn sie ihn nicht aus den Augenwinkeln wahrnahm. Aber das leise Rascheln neben ihr, das Geräusch seines Atems, seine männlichen Ausdünstungen und der Schwefelgeruch des Streichholzes, das er angezündet hatte, drängten ihr seine Gegenwart geradezu auf. Sie wusste, dass zwischen den Sommersprossen und den rötlichen Haarbüscheln auf seiner Kopfhaut Regentropfen glänzten und dass sich dunkle, nasse Flecken auf den Schultern seines Mantels ausbreiteten. Die Wärme, die ihre beiden Körper verströmten, heizte allmählich das Innere des geparkten Wagens auf, und die Scheiben beschlugen. Fry kurbelte das Fenster ein paar Zentimeter herunter.

Sie standen in einer Straße zwischen den dunklen, leeren Fassaden heruntergekommener Fabrikgebäude. Aber weiter vorne konnte Fry aufblendende Autoscheinwerfer und eine belebte, hell erleuchtete Straße sehen, auf der permanent Fahrzeuge fuhren und die von Reihenhäusern gesäumt war. Das bläuliche Licht flackernder Fernsehapparate war durch die Vorhänge zu erkennen, und in den oberen Stockwerken waren schemenhafte Gestalten hinter den Lampen auf den Fensterbrettern zu sehen. Eine der Fabriken legte offensichtlich eine Nachtschicht ein, denn von irgendwoher drang das Rattern von Maschinen an Frys Ohr.

»Einen Namen?«, wiederholte sie ungeduldig.

»Sie lebt mit einem Typen namens Akerman zusammen. Johnny Akerman. Mit dem will sich keiner anlegen. Er ist in der Gegend bestens bekannt.«

»In welcher Gegend?«

»Hä?«

»Ich brauche eine Adresse.«

»Die kann ich Ihnen nicht geben, Schätzchen.«

»Verschwenden Sie nicht meine Zeit.«

»Ich kann nicht.«

»Können oder wollen Sie nicht?«

Fry spürte, wie er sich zu ihr umdrehte. Sein Knie berührte den Ganghebel. Eine Falte seines Mantels fiel über die Handbremse, und Fry rückte instinktiv ein Stück nach rechts. Der Mann hob beschwörend die Hände. Sein Gesicht war ein blasser Fleck, dem sie nicht entkam. Er versuchte, sie zu zwingen, ihm in die Augen zu schauen, aber sie konnte nicht.

»Das ist es nicht wert«, sagte er. »Damit könnte ich mir eine Menge Ärger einhandeln. Ich meine, es ist schließlich nichts drin für mich, oder?«

»O doch«, erwiderte Fry. »Sie werden sich viel besser fühlen, wenn Sie es mir gesagt haben.«

»Das glaube ich weniger, Schätzchen.«

Fry drückte den Knopf herunter, um die Zentralverriegelung zu schließen, und griff nach dem Zündschlüssel.

»Hey, was machen Sie da?«, fragte er.

»Wir machen jetzt eine kleine Rundfahrt.«

»Kommt nicht in Frage. Ich steige aus.«

»Ich würde Ihnen raten, den Sicherheitsgurt anzulegen«, sagte Fry. »Es ist zu unsicher, darauf zu verzichten, wissen Sie.«

»Um Gottes willen –«

Sie fuhr vom Randstein weg und lenkte den Wagen in Richtung der Lichter am Ende der Straße.

»Einigen wir uns auf einen Kompromiss«, schlug sie vor. »Und das ist nur zu Ihrem Besten. Sie sagen, Sie können mir die Adresse von diesem Akerman nicht geben. Okay. Das akzeptiere ich. Deswegen machen wir jetzt eine kleine Spritztour.«

»Wohin?«

»Das sagen Sie mir«, meinte sie. »Sie führen mich.«

Sie konnte förmlich hören, wie es in seinem Gehirn arbeitete. Er überlegte, wie er am besten wieder aus dem Wagen dieser Verrückten herauskam.

»Rechts, links oder geradeaus an der Ampel?«, fragte sie.

Er schwieg so lange, dass sie fast die Ampel erreicht hatten und Fry bereits dachte, dass er vielleicht doch nicht mitspielen würde. Aber schließlich war er ein Mann, der auf Fragen keine übereilten Antworten gab.

»Wenn ich Sie wäre, würde ich links fahren«, sagte er schließlich. »Die Strecke ist schöner.«

Schweigend fuhren sie eine Weile dahin. Frys Beifahrer sprach nicht viel, sondern wies ihr die Richtung, indem er an Kreuzungen mit der Hand nach links oder rechts zeigte. Wahrscheinlich dachte er, so reinen Gewissens behaupten zu können, dass er ihr nichts gesagt hatte.

»Halten Sie hier«, befahl er plötzlich.

»Sind wir da?«

»Ich steige hier aus.«

Sie befanden sich in einer Straße mit viktorianischen Reihenhäusern, mit niedrigen Treppen vor den Eingangstüren und geschlossenen Vorhängen. Fry hielt vor einer Reihe Geschäfte, die zum größten Teil mit Brettern vernagelt waren. Nur bei einem asiatischen Gemüsehändler brannte noch Licht.

»Sind wir da?«, wiederholte sie.

»Ja«, erwiderte er barsch. »Die rote Tür. Aber falls Sie versuchen sollten, ins Haus zu kommen, sind Sie verrückter, als ich dachte.«

»Danke für Ihre Fürsorge. Ist rührend.«

Er stieg aus, knallte die Tür zu und war in Sekundenschnelle in der Dunkelheit verschwunden. Mit langen Schritten eilte er die verlassenen Ladenfassaden entlang.

Fry hatte nicht die Absicht, das Haus zu betreten. Sie war darauf eingestellt, so lange wie nötig zu warten.

Es sollte zwei Stunden dauern. Als die Frau schließlich erschien, stieg Fry aus dem Wagen und ging auf dem Bürgersteig auf sie zu. Im Gehen schlug sie den Kragen ihres schwarzen Mantels hoch und vergrub das Kinn in ihrem roten Schal. Sie beobachtete die Frau und versuchte, in der Art, wie sie ging, wie sie ihren Kopf hielt oder wie sie schaute, das Mädchen zu erkennen, nach dem sie suchte.

Fry blieb nicht stehen und sprach die Frau nicht an. Sie ging an ihr vorbei bis zum Ende des Blocks, wo sie stehen blieb und in einen leeren Blumenladen starrte. Für wenige Sekunden waren sie eine andere Straße in einer anderen Stadt und in einer anderen Zeit entlanggegangen. Eine jüngere Ausgabe von Diane Fry, die in jedes Gesicht blickte, das vorüberging, in der Erwartung, eine andere Person zu sehen. Aber es funktionierte nie, wenn sie versuchte, Geister zu sehen. Damals nicht und jetzt auch nicht.

Fry hörte, wie sich die Schritte der Frau hinter ihr entfernten, wie sich eine Tür öffnete und schloss. An der Ecke hupte ein Auto und fuhr mit quietschenden Reifen davon, und sie stellte fest, dass sie nicht mehr wusste, wo sie sich befand.

Aber am schlimmsten war, dass sie vergessen hatte, weshalb sie versuchte, jemanden zu sehen, der nicht da war.

Irgendwie war Ben Cooper in einen Raum geraten, dessen Wände weiß gefliest waren. Viele der Fliesen waren von winzigen Rissen überzogen, die wirre Muster bildeten und in denen sich im Lauf der Jahre Schmutz festgesetzt hatte. Lediglich zwei kleine Fenster über den Türen, die auf die Straße hinausführten, ließen etwas Licht herein, und sogar diese Fenster waren noch voller Spinnweben und mit einem Maschengeflecht gesichert. Vor den Türen stand ein weißer Landrover mit offener Motorhaube. Im Inneren des stickigen Raumes stank es erbärmlich nach dem abgestandenen Inhalt alter Ölwannen.

Cooper machte einen Schritt in die Garage und blieb stehen. Hier war er eindeutig falsch. Den ganzen Tag über war schon alles schief gelaufen, und es wurde immer schlimmer. Entweder war er zu müde oder zu abgelenkt, um sich richtig konzentrieren zu können, sonst wäre er nie hier gelandet.

Was für eine Bruchbude. Die Fliesen verliehen der Garage das Aussehen einer öffentlichen Bedürfnisanstalt. Das heißt, so wie sie früher gewesen war, ehe zunehmende Zerstörungswut die Gemeinderäte gezwungen hatte, kosteneffektiver zu bauen. Unverkleideter Leichtstein und poliertes Aluminium diktierten heutzutage den Stil.

Doch es war der Geruch, der Cooper am meisten zusetzte, bis ihm die Hände juckten. Er hatte schlagartig das Gefühl, fettverschmierte Finger und ungepflegte Fingernägel zu haben, rissig und mit schwarzen Schmutzrändern. Der Geruch nach Öl hatte die Nervenbahnen in seinem Gehirn stimuliert und Erinnerungen an die vielen Male wachgerufen, die er sich unter der Motorhaube eines ähnlichen Landrovers oder manchmal auch eines David-Brown-Traktors zu schaffen gemacht hatte. Er spürte förmlich das kalte Metall an seinen Fingern, die taub vor Kälte waren, da damals anscheinend immer Winter gewesen war. Und er glaubte, den rauen Stoff der alten blauen Overalls zu spüren, deren Ärmel an den Handgelenken umgeschlagen waren, da sie ihm immer mehrere Nummern zu groß waren.

Die meiste Zeit hatte der junge Ben nicht die geringste Ahnung gehabt, was er mit diesen Motoren anstellen sollte. Aber er hatte es genossen, gemeinsam mit anderen daran herumzubasteln, sei es mit seinem älteren Bruder Matt oder mit seinem Onkel John. Oder – wenn auch selten – sogar mit seinem Vater. Joe Cooper hatte allerdings nur wenig Geduld gehabt mit seinem zwar hilfsbereiten, aber unerfahrenen Sohn und ihm den Schraubenschlüssel bereits aus der Hand gerissen, wenn es auch nur so aussah, als könnte er ihn in die falsche Richtung drehen. Doch es hatte etwas seltsam Verbindendes, gemeinsam mit anderen verschmutzte Zündkerzen oder verstopfte Einspritzdüsen zu säubern. Allein schon der Klang dieser Wörter genügte, um ein nostalgisches Lächeln auf Coopers Gesicht zu zaubern.

Einem dünnen Lichtschein folgend, ging Cooper in den hinteren Teil der Garage und gelangte in eine Werkstatt. Zwei Männer saßen dort und hielten Teebecher in Händen. Der eine trug einen Overall, der andere, der neben ihm auf einer Bank saß, eine gelbe Uniformjacke und die Schirmmütze eines Verkehrspolizisten. Beide sahen Cooper verblüfft an. Der Verkehrspolizist zuckte zusammen und verschüttete etwas Tee auf seine Uniformhose.

»Können wir Ihnen helfen?«, fragte der eine im Overall.

»Ich war hier oben im Haus bei einer Besprechung und muss mich irgendwie verlaufen haben«, erklärte Cooper. »Können Sie mir den Weg nach draußen zeigen?«

»Sind Sie von der Kripo?«

»Ja.«

»Dachte ich mir.«

»Ich bin Detective Constable Cooper aus Edendale.«

Der Ausdruck auf dem Gesicht des Verkehrspolizisten änderte sich schlagartig, und Cooper wusste, was als Nächstes käme.

»Ich bin Dave Ludlam«, sagte er. »Ich habe Ihren Vater gekannt.«

»Meinen Vater kannten viele Leute.«

»Ja, aber ich habe eine Zeit lang unter ihm gearbeitet, als ich noch ein junger Bobby war. Er war ein guter Sergeant, Joe Cooper. Hart, aber gerecht.«

Ludlam stellte seinen Becher ab, als machte er sich auf ein längeres Gespräch gefasst. »Sie sind sicher sehr stolz auf ihn«, fuhr er fort.

»Ja, selbstverständlich. Hören Sie –«

»Was da passiert ist, war eine Tragödie. Eine Tragödie.«

Cooper biss sich auf die Lippe. Er wollte ja so aussehen, als sei er stolz auf seinen Vater. Aber das hinderte ihn daran, den Leuten zu verstehen zu geben, dass er über das Geschehene eigentlich nicht sprechen wollte. Jedenfalls nicht mehr. Irgendwann einmal musste er doch leben können, ohne dass ihn permanent jemand mit dem Tod seines Vaters konfrontierte und eine Reaktion von ihm erwartete.

»Möchten Sie vielleicht einen Tee?«, fragte der Mechaniker im Overall. »Das Wasser im Kessel dürfte noch heiß sein.«

»Nein danke. Ich muss zurück nach Edendale.«

»Bleiben Sie doch noch einen Moment. Wir machen nur mal kurz Pause.«

»Ist eine ziemliche Strecke von Glossop.«

»Na, dann passen Sie gut auf«, ermahnte ihn Police Constable Ludlam. »Rasen Sie nicht und halten Sie sich an die Verkehrsregeln. Sonst muss ich Ihnen noch nachfahren. Jedenfalls werde ich das tun, sobald Metal Mickey diesen blöden Motor repariert hat. Bis dahin können Sie rasen, wie Sie wollen. Und jeder andere Angeber von der Division E auch.«

»Wenn Sie mir vielleicht den Weg hinaus zeigen könnten«, setzte Cooper erneut an.

»Sind Sie sicher, dass Sie nicht doch einen Tee wollen?«

»Tut mir Leid, ich bin wirklich in Eile.«

»Jetzt weiß ich«, sagte der Verkehrspolizist. »Sie arbeiten mit Jimmy Boyce’ Truppe zusammen. Mit dem Rural Crime Team. Deswegen das Meeting oben, ja?«

»Ja.«

Es war ein langer Tag gewesen. Cooper war bereits seit dem Morgengrauen auf den Beinen. Von Edendale aus war er nach Glossop gefahren und dort zu dem Team gestoßen, das in dem abgelegenen Bauernhaus in Longdendale die Razzia in dem verdächtigen Drogenlabor durchgeführt hatte. Dann war er mit PC Udall nach Withens gefahren, anschließend wieder nach Glossop. Dort fanden weitere Vernehmungen in der Dienststelle statt und anschließend noch eine Abschlussbesprechung mit dem Rural Crime Team. Allmählich war ihm schwindlig vor Müdigkeit. Irgendwann im Lauf des Tages hatte er auch mal etwas gegessen, konnte sich aber nicht mehr erinnern, wie viele Stunden das schon her war.

Cooper drehte sich Richtung Garage um und stellte fest, dass PC Udall ihm aus dem Besprechungszimmer gefolgt war und ihn beobachtete.

»Ich habe gesehen, dass Sie in die falsche Richtung abgebogen sind«, erklärte sie. »Das ist hier der reinste Kaninchenbau.«

»Erzählen Sie bloß keinem, dass ich aus der Dienststelle nicht mehr herausgefunden habe.«

Udall lächelte. »Kommen Sie, ich zeige Ihnen den Weg. Sie wollen wahrscheinlich nicht hier übernachten.«

»Nein, das ist mir doch zu unheimlich.«

»Das liegt an den weißen Fliesen. Bei uns heißt das hier nur die ›Leichenhalle‹.«

Im weiteren Verlauf dieser Nacht mussten auch zwei Feuerwehrleute feststellen, dass sie sich verlaufen hatten, als sie vom Withens Moor aus den Weg bergab einschlugen. Sie waren beide müde und stanken erbärmlich nach Rauch. Sie schleppten schwer an den Wassertanks auf ihrem Rücken, auch wenn diese nicht mehr ganz voll waren. Die beiden Männer hatten ihre Spätschicht beendet, die darin bestand, die kritischen Stellen zu befeuchten, die immer wieder in dem verbrannten Torfmoor aufflammten, das sich über Hunderte von Hektar erstreckte.

Die beiden Männer schwitzten stark unter ihren Anzügen und Helmen. Sie fluchten über die Strecke, die sie zu Fuß bis zu ihrem Landrover mit Vierradantrieb zurücklegen mussten, mit dem sie zur Wache zurückfahren konnten. Den ganzen Tag über waren Mannschaften aus ganz North Derbyshire im Moor unterwegs gewesen, ebenso ein Dutzend Peak-Park-Ranger und eine Gruppe Wildhüter, die von den Grundbesitzern beauftragt worden waren. Das unwegsame Gelände war schuld, dass die Männer sogar mit den Landrovern nur bis auf eineinhalb Meilen an das sich rasch ausbreitende Feuer und die Rauchwolken, die über den Bergen aufstiegen, herankamen. Von da aus hatten sie mit ihrer Ausrüstung zu Fuß weitergehen müssen. Es gab keine Möglichkeit, Wasser auf den Gipfel zu pumpen.

»Da ist der Luftschacht, Sir«, sagte Brandmeister Beardsley.

Brandinspektor Whittingham blieb stehen und spähte in die Dunkelheit. »Das ist der Falsche«, entgegnete er. »Erst beim nächsten Luftschacht stoßen wir wieder auf den Weg.«

»Sind Sie sicher?«

»Also, wenn nicht, wo ist dann der Landrover?«

»Stimmt.«

Als sie sich dem nächsten Luftschacht näherten, bat Beardsley um eine Pause.

»Ich bin fix und fertig«, stöhnte er. »Die Ausrüstung bringt mich um.«

»Na gut, aber nur kurz.«

Beardsley schnallte seinen Wasserbehälter ab und ließ ächzend die Schultern kreisen.

»Eigentlich hätten sie ja den Hubschrauber losschicken können«, meinte er.

»Wir sind billiger«, erwiderte Whittingham. »Außerdem nützt der nichts, um die neuralgischen Stellen feucht zu halten.«

Auf dem Flughafen von Barton hatte ein Hubschrauber bereitgestanden, um aus dem Stausee von Longdendale Wasser aufzunehmen und über den Brandherden abzuwerfen, war aber nicht abgerufen worden. Und jetzt benötigten sie ihn auch nicht mehr. Im Moor konnte ein Feuer in den tieferen Schichten über mehrere Monate lang vor sich hinschwelen, und deshalb mussten die Feuerwehrleute tiefe Gräben in den Torf ziehen, um der problematischen Stellen Herr zu werden.

»Moment mal, was ist das denn?«, fragte Beardsley.

Whittingham starrte angestrengt in die Dunkelheit. »Sie meinen wohl eher, ›wer‹.«

Neben dem Luftschacht lag ein Mann, auf der Erde ausgestreckt, den Kopf zur Seite geneigt, als würde er schlafen.

»Bestimmt ein Wanderer«, meinte Whittingham. »Die Ecke hier ist öffentlich zugänglich. Die Leute kampieren hier überall.«

»Alles in Ordnung, Kumpel?«, rief Beardsley.

»Er schläft.«

»Das glaube ich weniger. Er hat keinen Schlafsack dabei, und sonst auch nichts.«

»Das macht ihnen wenig aus.«

»He, aufstehen, Kumpel. Aufwachen.«

Aus irgendeinem Grund zögerten beide Feuerwehrmänner, sich dem schlafenden Mann zu nähern. Sie blieben auf Abstand, als befürchteten sie, seine Privatsphäre zu verletzen oder mit ihren Stiefeln und den raschelnden, feuerfesten Overalls zu viel Lärm zu machen.

»Glauben Sie, dass er vom Feuer überrascht wurde?«, fragte Beardsley.

»Wieso?«

»Ich weiß nicht. Er sieht irgendwie komisch aus. Wir sollten die Sanitäter rufen.«

»Moment mal, erst schauen wir selbst nach.«

Whittingham legte seine Ausrüstung ins Heidekraut, beugte sich über den auf dem Bauch liegenden Mann, fasste ihn an der Schulter und rüttelte ihn. Keine Reaktion.

»Doch die Sanitäter, Sir?«, fragte Beardsley.

»Dafür ist es zu spät, fürchte ich. Er ist tot.«

»Nein? O Gott, muss uns dieser Typ die Pause vermiesen?«

»Haben Sie Licht?«

Beardsley richtete seine Taschenlampe auf die Gestalt. »He, da ist Blut«, rief er.

»Ja, ich weiß, Beardsley. Leuchten Sie mal auf sein Gesicht.«

Der Strahl der Taschenlampe wanderte über das Gesicht und tastete über dunkle Höhlen, wo die Männer mit weiß reflektierender Haut gerechnet hätten.

»Scheiße, Scheiße«, stöhnte Beardsley. »Was ist mit seinen Augen passiert? Ich kann sie vor lauter Blut nicht sehen. Und sein Gesicht ist ganz schwarz. Ist er verbrannt?«

Whittingham beugte sich noch etwas weiter über die Gestalt und zog seinen rechten Handschuh aus. Sachte berührte er mit dem Finger das Gesicht des toten Mannes, darauf achtend, nicht in die blutigen Stellen zu fassen, wo die Augen sein sollten.

»Nein«, sagte er. »Ich denke, das hat er selbst gemacht.«

Die einsamen Toten

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