Читать книгу Die einsamen Toten - Stephen Booth - Страница 15

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Liz Petty von der Spurensicherung schüttelte den Kopf. Sie kauerte im hohen Gras neben einem Weg, der am Rand eines Feldes zwischen Bäumen entlanglief.

»Ich habe aus der ganzen Umgebung Proben entnommen«, sagte sie. »Aber nirgendwo habe ich auch nur ein Zeichen von Fremdeinwirkung entdeckt und nichts, das auch nur im Entferntesten nach Blut aussieht. Natürlich hängt das auch davon ab, wie lange es hier schon gelegen hat. Dann hätte der Regen mittlerweile alle Spuren abgewaschen. Aber vielleicht finden die im Labor noch was.«

»Ist schon gut. Ich mache mir keine großen Hoffnungen«, sagte Diane Fry.

Durch die Bäume schimmerten hell und grün die frischen Triebe auf dem Feld. Fry hatte keine Ahnung, was da wachsen konnte. Sie war nur froh, dass auf dem Feld kein Vieh weidete. Sie konnte es nicht mit Kühen.

Frys Blick wanderte zu ein paar Gehöften in der Ferne, die von mehreren Kalksteinmauern umgeben waren. Die Straße hinter ihr – nicht viel mehr als eine Verbindung zwischen zwei Feldwegen – war schmal und verlief ebenfalls zwischen zwei Mauern. Seit sie nach dem letzten Dorf, gleich hinter Chapel-en-le-Frith, abgebogen war, hatte sie keine Häuser mehr gesehen. Sie versuchte, sich Emma Renshaw hier an diesem Ort vorzustellen, aber vergebens. Sie konnte sich keinen Grund denken, weshalb Emma Renshaw hier gewesen sein könnte.

»Nein, das ergibt keinen Sinn.«

»Wahrscheinlicher ist, dass jemand an der Straße angehalten und das Handy über die Mauer geworfen hat«, meinte Petty.

»Davon bin ich überzeugt.«

»Alles in Ordnung mit Ihnen, Diane?«

Fry sah die Kollegin von der Spurensicherung erstaunt an. Sie hatte mit Liz Petty bereits mehrmals zusammengearbeitet und lief ihr in der West Street des Öfteren über den Weg. Sie hatten an diversen Tatorten hin und wieder ein Wort gewechselt, und erst kürzlich hatten sie bei der Abschiedsparty des scheidenden Chief Inspectors ihrer Division, Stewart Tailby, nebeneinander in einer Ecke gestanden und zusammen etwas getrunken. Aber nur alte Freunde erkundigten sich in diesem Tonfall nach dem Befinden.

»Ja, mir geht es gut«, erwiderte sie.

»Sie kommen mir heute nur etwas niedergeschlagen vor.«

»Niedergeschlagen?«

»Irgendwie angefressen. Ich will mich nicht aufdrängen, aber wenn Sie mal was loswerden wollen, Sie wissen schon, dann könnten wir ja mal zusammen was trinken gehen.«

Fry versuchte, sich zu erinnern, worüber sie auf Mr Tailbys Party gesprochen hatten. Hatte sie etwa einen auf freundlich gemacht? Aber sie hatte Liz Petty doch sicher nichts über ihr Privatleben erzählt.

»Danke für das Angebot«, sagte sie.

»Ist schon okay, Diane. Ein Wort genügt.« Petty stand auf und streckte die Beine durch. Dabei raschelte ihr weißer Schutzanzug. »Na gut. Ich packe hier zusammen. Oben in Longdendale haben sie einen unnatürlichen Todesfall und brauchen jemanden, der ihnen hilft.«

»Ja, ich weiß«, sagte Fry. »Ich habe es gehört.«

»Haben Sie mit dem Fall nichts zu tun?«

»Nein, wie es aussieht, nicht. Ich habe im Moment schon genug um die Ohren.«

Petty kletterte über die Mauer und fing an, ihre Ausrüstung im Wagen zu verstauen. »Ist wahrscheinlich ohnehin nichts Interessantes«, meinte sie.

Fry betrachtete nachdenklich die Stelle im Gras, wo Emma Renshaws Mobiltelefon gefunden worden war, und dachte an Emmas Eltern, die auch in diesem Augenblick darauf warteten, dass ihre Tochter nach Hause kam.

»Wahrscheinlich nicht«, sagte sie. »Aber wenigstens könnte es was Handfestes sein.«

Die Polizisten, die den Tatort am Luftschacht bewachten, wurden allmählich nervös. Der Ort war schwer zu finden, und es hatte mehrerer Ansätze der Feuerwehr bedurft, sie den Pfad hinaufzulotsen. Ein weiterer Streifenwagen war an der Abfahrt von der A628 postiert, aber bisher ließen der Rest der Truppe – Pathologie, Kripo, Kriminaltechnik und selbst die Einsatzleitung – noch auf sich warten.

Das langsam einsetzende Tageslicht ließ den Schauplatz noch schauriger erscheinen, als er sich im Schein der Taschenlampen dargeboten hatte. Police Constable Greg Knott war der Beamte, der die meiste Erfahrung mit Toten hatte. Er erkannte am Geruch und am Zustand der näheren Umgebung der Leiche, dass der Tod in diesem Fall schon vor längerer Zeit eingetreten war. Die bei der Zersetzung der Leiche entstehenden Gase hatten bereits begonnen, den Inhalt des Magens und der Gedärme aus dem Körper zu treiben, und das aus Nase und Ohren gesickerte Blut des Opfers erzeugte weitere Verwirrung hinsichtlich seiner erlittenen Verletzungen.

Am schlimmsten waren die Augen. Dort, wo sie eigentlich sein sollten, starrten dicke Tümpel schwarz verklumpten Blutes, die perfekt mit der unnatürlichen Gesichtsfarbe des Opfers harmonierten, die Polizisten an.

Mit jeder Sekunde, die verstrich, machte PC Knott sich größere Sorgen, er könnte etwas Wichtiges vergessen haben. Ausgerechnet am Ende ihrer bisher so langweiligen und eintönigen Nachtschicht hatten Knott und sein Partner noch einen interessanten Auftrag hereinbekommen. Sie waren die ersten Polizeibeamten am Tatort mit einer Leiche mit ungeklärter Todesursache. Und das brachte Verantwortung mit sich. Sie wussten, dass alles, was sie taten oder unterließen, Einfluss auf den Verlauf der zukünftigen Ermittlungen haben konnte, falls es tatsächlich Mord sein sollte.

Ihre erste Pflicht bestand darin, den Tatort zu sichten und zu sichern. Die oberste Regel dabei lautete: Sobald der Tod des Opfers eindeutig festgestellt war, durfte nichts am Tatort verändert werden. Knott wusste das genau. Aber er hasste es, untätig herumzustehen. Das widerstrebte ihm zutiefst. Knott wollte herumschnüffeln, wollte das Opfer identifizieren, wollte versuchen, selbst dahinter zu kommen, was passiert war.

Je mehr Zeit verging, desto stärker juckte es ihn in den Fingern, aktiv zu werden. Seine Vorgesetzten wären bestimmt beeindruckt. Aber als Knott zu seinem Partner hinübersah, der sich abmühte, irgendwo das Ende des blau-weißen Absperrbandes zu befestigen, war er froh, nicht allein zu sein. Wie schnell hatte man einen folgenschweren Fehler begangen. Oberste Priorität hatte es jetzt, alle Beweisstücke am Tatort vor äußeren Einflüssen zu bewahren. Knott warf einen Blick zum Himmel und betete, dass es nicht so bald regnen würde. Sie hatten nichts, womit sie die Leiche vor einem Unwetter hätten schützen können.

Sie hörten, wie sich mit jaulendem Motor ein Auto näherte.

»Wer kommt denn da?«, fragte Knott.

»Hoffentlich ist es der Polizeiarzt.«

Gespannt blickten sie den Hügel hinunter, auf die Stelle, wo der Weg auf der Anhöhe verlief und aus den Büscheln Heidekraut hervortrat. Noch war nichts zu sehen. Aber das Motorengeräusch wurde immer lauter, bis es direkt über ihnen zu sein schien.

»Mist, verdammter!«, rief Knott und wirbelte herum. Ein schwarzer Mitsubishi-Pick-up befand sich nur noch wenige Meter von ihnen entfernt. Aber der Wagen fuhr bergabwärts, nicht bergauf.

»Wo kommt der denn her?«

»Keine Ahnung, aber er wird noch mitten durch die Absperrung fahren, wenn wir ihn nicht aufhalten«, schimpfte Knott.

»Besser nicht, sonst machen die Hackfleisch aus uns.«

»Na, dann halt ihn doch auf.«

Die Polizisten setzten sich in Bewegung und rannten winkend auf den Wagen zu. Der Fahrer hatte das Tempo bereits gedrosselt und holperte langsam über den steinigen Weg, bis er schließlich einen knappen Meter vor dem Luftschacht zum Stehen kam. Er kurbelte das Fenster auf seiner Seite herunter.

»Was ist los?«, fragte er.

»Ich fürchte, Sie können hier nicht durchfahren, Sir. Das ist ein Tatort.«

»Ein was?«

»Ein Tatort, Sir. Es ist ein Unfall passiert.«

»Oh.«

»Also, wenn es Ihnen nichts ausmacht, Sir –«

»Ist jemand verletzt?«

»Ja, Sir.«

»Wer ist es?«

»Wir wissen es nicht. Aber ich muss Sie bitten, umzudrehen und den Weg, den Sie gekommen sind, wieder zurückzufahren.«

Der Fahrer beugte sich aus dem Fenster, um sich den Weg näher anzusehen. »Ich könnte mich gerade noch vorbeiquetschen. Der Untergrund ist hier einigermaßen trocken, also müsste ich es mit dem Vierradantrieb schaffen.«

»Nein, Sir. Fahren Sie bitte zurück.«

»Das ist aber verdammt umständlich.«

»Würden Sie mir bitte Ihren Namen nennen, Sir?«

»Ich heiße Dearden.«

»Und wo wohnen Sie?«

»Auf der anderen Seite des Hügels. Shepley Head Lodge.«

Knott sah fragend seinen Partner an, der die Schultern zuckte. »Dann hätten Sie eigentlich auch die Straße durch Withens nehmen können, Mr Dearden«, sagte er.

»Schon möglich.«

»Ich würde meinen, das ist einfacher, als sich hier auf dem engen Weg abzuquälen. Auch weniger schädlich für Ihre Federung und die Reifen.«

»Vermutlich.«

»Wo wollen Sie denn hin, Sir?«

»Nach Glossop.«

»Glossop? Na, dann ist das aber wirklich ein Umweg. Sie müssen zurück auf die A628 bis zu der Stelle, wo die Straße nach Withens abbiegt.«

»Schon gut, schon gut. Ich fahre ja schon zurück.«

Er legte den Rückwärtsgang ein, schaute über die Schulter nach hinten und begann, langsam rückwärts den Berg hinaufzufahren bis zu der Stelle, wo der Weg beim alten Steinbruch breiter wurde.

Knott warf einen Blick auf die Leiche des jungen Mannes. »Wenn Mr Dearden hier in der Gegend wohnt, hätten wir ihn eigentlich fragen können, ob er den Toten kennt«, sagte er. »Vielleicht hätte er ihn für uns identifizieren können.«

»Der Kerl war nicht von hier«, erklärte der andere Polizist bestimmt.

»Bist du sicher?«

»Das sind sie doch nie. Außerdem …«

»Was?«

»Dieser Mr Dearden hat mir nicht gefallen. Wieso muss der hier oben herumkurven, wenn er die Straße nach Withens hätte nehmen können? Das wäre einfacher und schneller gewesen. Das ergibt für mich keinen Sinn.«

Knott zuckte die Schultern. »Komisch. Aber schreib dir seine Autonummer auf, bevor er verschwunden ist«, sagte er und beobachtete, wie der Mitsubishi auf engstem Raum wendete. » Wir geben seinen Namen an die Kripo weiter. Wenn die endlich mal kommen.«

»Wen bekommen wir denn, was meinst du?«

»Bestimmt irgendeinen Arsch, der uns erklärt, dass wir alles falsch gemacht haben«, knurrte Police Constable Knott.

Chief Inspector Oliver Kessen war ein Neuzugang bei der Division E. Die wenigen Kripobeamten, die ihn bisher kannten, gewährten ihm noch eine Schonfrist, sich in seinem neuen Job zurechtzufinden.

Sein Vorgänger Chief Inspector Stewart Tailby hatte seine neue Stelle in Ripley angetreten, einen Job im Amt für Körperschaften der Grafschaftsverwaltung. Es war verblüffend, wie oft er noch in der West Street gesehen wurde, wo er wie ein Geist herumirrte und versuchte, seine alten Kollegen in ein Gespräch zu verwickeln. Es war, als könnte er seinen alten Job nicht loslassen, als müsste er noch immer sein Revier markieren. Vielleicht hatte er Angst, man würde ihn vergessen, wenn er für immer weg war. Aber allmählich verlor er doch den Kontakt zu den Vorgängen in der Division E, und immer mehr neue Polizisten, die keine Ahnung hatten, wer er war, taten Dienst in der West Street.

Als Kessen endlich am Tatort vor dem Luftschacht eintraf, war der Polizeiarzt bereits vor Ort und die Maschinerie der Ermittlungen bei einem unnatürlichen Todesfall hatte sich in Gang gesetzt. Police Constable Knott hatte alle Hände voll zu tun, den Zugang zum Tatort zu regeln und die Namen aller, die dort eintrafen, im Protokoll zu erfassen.

»Das Opfer ist männlich, scheint Anfang zwanzig zu sein und hat mehrere schwere Kopfverletzungen erlitten«, erklärte Inspector Paul Hitchens, während Chief Inspector Kessen sich die letzten Meter der Steigung hinaufkämpfte.

Der Weg unterhalb davon füllte sich bereits mit Polizeifahrzeugen. Ihr Weiß und Orange wirkte lächerlich deplatziert vor dem Hintergrund des dunklen, kahlen Torfmoors.

Kessen nickte nur und stellte sich so hin, dass er die Leiche sehen konnte, ohne einen Fuß auf das abgesperrte Gebiet zu setzen. Er trug einen dicken Mantel, in dem er doppelt so breit wirkte und der ihn völlig unförmig erscheinen ließ. Er hatte die Gewohnheit, permanent die Lippen zusammenzukneifen, und lächelte kaum. Und wenn, dann enthüllte er eine Reihe schiefer Zähne, die dringend einen Kieferorthopäden benötigt hätten.

»Der Arzt schließt aus dem Zustand der Leiche, dass der Tod vor über vierundzwanzig Stunden eingetreten ist. Der Pathologe ist angefordert worden, wenn ich recht informiert bin?«

Kessen nickte erneut. Er kramte eine Packung Pfefferminzbonbons aus seiner Manteltasche hervor und steckte sich eines in den Mund. Hitchens bot er keines an.

»Die Spurensicherung ist da. So können sie wenigstens schon anfangen, ihre Fotos und Videos zu machen, bevor der Gerichtsmediziner kommt. Wenn sie uns Mrs Van Doon schicken, geht es schnell. Die Leiche wurde von zwei Feuerwehrleuten aus Glossop entdeckt. Zum Glück waren sie so clever, nicht allzu viel am Tatort herumzupfuschen.«

Der Chief Inspector gab keine Antwort. Sein Unterkiefer bewegte sich hin und her, während er sein Pfefferminzbonbon lutschte. Er fixierte das Gebiet hinter dem Absperrband, wo sich die Spurensicherung gegenseitig auf die Füße stieg.

»Der Leiter des Tatortteams hat einen Laufpfad angelegt, und der Einsatzwagen ist unterwegs«, berichtete Hitchens. »Und eine richtig gute Nachricht haben wir auch. Wir haben kurz unterhalb der A628 in einer Parkbucht einen verlassenen Wagen gefunden. Einen alten VW-Käfer. Falls es sich herausstellt, dass er dem Opfer gehört, hätten wir großes Glück. Dann wäre der Job in achtundvierzig Stunden erledigt.«

Kessen hustete. Hitchens sah ihn erwartungsvoll an, als könnte er tatsächlich etwas sagen. Aber Kessen wischte sich nur mit einem Taschentuch über den Mund und fing wieder an, auf seinem Bonbon herumzukauen.

»Ich nehme an, Sie wollen sich die Leiche zusammen mit dem Gerichtsmediziner anschauen, ja?«, fragte Hitchens. »Oder wäre es Ihnen lieber, wenn ich Sie später informiere? Vielleicht haben Sie noch etwas anderes zu tun?«

»Ich will, dass der gesamte Tatort kriminaltechnisch gründlich untersucht wird«, sagte Kessen, ohne aufzusehen. »Sagen Sie den Leuten, sie sollen den Tatortradius um drei Meter bergauf und auf der anderen Seite um zwei Meter erweitern. Richtung Osten ist das Farnkraut niedergetrampelt, das muss ebenfalls untersucht werden. Außerdem will ich Bodenproben von drei Stellen, die ich auf der Karte markieren werde. Und veranlassen Sie, dass alle Fahrzeuge fünfzig Meter weiter zurücksetzen. Außer dem Gerichtsmediziner und den Leuten von der Spurensicherung kommt niemand hier herauf. Und halten Sie um Gottes willen diese Person mit der Videokamera von diesem steinernen Ding da fern, was immer das ist. Er hinterlässt ja überall seine Spuren.«

»Das ist ein Luftschacht«, erklärte Hitchens.

»Ich bin in meinem Wagen. Lassen Sie es mich wissen, wenn der Gerichtsmediziner so weit ist.«

»Jawohl, Sir.«

»Möchten Sie ein Pfefferminzbonbon, Inspector?«

Hitchens nahm ein Bonbon aus der Packung, die ihm hingehalten wurde, und hielt es zwischen den Fingern, während er Kessen nachsah, der zu seinem Wagen hinunterging. Dann drehte er sich um und machte sich auf die Suche nach dem Leiter des Tatortteams.

Der Geruch einer Leiche war unverwechselbar. Reif, süß und intim. Ben Cooper konnte ihn sofort in der Nähe des Luftschachts ausmachen, als er dort eintraf. Es war, als wäre eine obszöne tropische Pflanze plötzlich inmitten des Torfmoors erblüht und würde ihren giftigen Duft mit dem Wind über Hunderte von Metern verteilen.

Bis Cooper endlich den Pulk der Polizeifahrzeuge hinter sich gebracht hatte, bewegte sich hinter dem Absperrband bereits eine kleine Gruppe weißer Gestalten in Schutzanzügen in Richtung Leiche. Sie waren kaum voneinander zu unterscheiden, aber eine davon musste die Pathologin Juliana Van Doon sein, die anderen beiden der Leiter des Tatortteams und der Einsatzleiter. Die steife, gedrungene Gestalt mit dem schlecht sitzenden Anzug war bestimmt Chief Inspector Oliver Kessen, der vermutlich den Einsatz leitete. Das Eintreffen der drei Beamten wurde von einem Beamten der Spurensicherung auf Video festgehalten.

Cooper gesellte sich zu den Polizisten, die etwas abseits vom Tatort standen. Inspector Hitchens telefonierte von seinem Handy aus. Vielleicht versuchte er, weitere Hilfskräfte für eine Durchsuchung oder einen zusätzlichen Kriminaltechniker aufzutreiben. Unter den Beamten befand sich auch ein Sergeant, den Cooper kannte, aber von Diane Fry war nichts zu sehen.

Es war ein milder Tag, und eine leichte Brise wehte über das Moor, aber aus der Öffnung des Luftschachts stieg Dampf empor wie aus einem Wasserkessel, der eben erst zu kochen aufgehört hatte.

Einige hundert Meter entfernt im Heidekraut erhob sich ein Kiebitzpaar in die Luft und begann zu kreisen. Ein Brachvogel keckerte, aber es war unmöglich, den Vogel vor dem Hintergrund des Moors zu lokalisieren. Sein trillernder Gesang perlte wie Wasser über die Hänge der umliegenden Berge.

Der Luftschacht war mindestens dreieinhalb Meter hoch und fünf Meter breit, viel zu hoch, um ohne Leiter einen Blick hineinwerfen zu können. Bei seinem Wiederaufbau hatte man alle möglichen Baumaterialien verwendet, darunter auch die ursprünglichen Quader aus Sandstein, schwarz vom Ruß der Dampflokomotiven, die unten im Tal vorbeigefahren waren. Zwischen diesen Quadern hatte man kleinere, nicht verrußte Steine eingefügt, deren goldene und rote Farbnuancen sich mit dem Schwarz zu einem groben Patchworkmuster vereinten. Von der Ferne sah der Luftschacht aus, als trüge er ein Tarnmuster, das ihn harmonisch mit dem Berg dahinter verschmelzen ließ. Eigentlich machte er einen soliden Eindruck, aber auf der dem Wind zugewandten Seite begann der Mörtel bereits zu bröckeln. Der Maurer, der hier am Werk gewesen war, hatte nicht viel von seinem Handwerk verstanden.

Zu einer Zwangspause verurteilt, da er nichts anderes tun konnte, außer zu warten, wandte sich Cooper von dem Luftschacht ab und machte ein paar Schritte ins Torfmoor hinein. Vor seinen Füßen flatterte eine Schnepfe auf, die auf einem morastigen Flecken genistet hatte, in der Hoffnung, nicht aufzufallen. Und er hatte sie tatsächlich nicht bemerkt.

Ringsum sah Cooper sich von Hügeln umgeben, die von feuchtem, schwarzem Moor überzogen waren. Dazwischen klafften schmale Täler. An manchen Stellen war der Torf bis auf den felsigen Untergrund verwittert, der Berg quasi bis auf den Knochen abgenagt.

Cooper versuchte, sich zu orientieren und herauszufinden, in welcher Talsohle das Dorf Withens lag. Er identifizierte es schließlich anhand der Bäume und eines kurzen Stückes der Straße, die über einer Anhöhe verschwand. Es war dieser Luftschacht hier, den er wahrscheinlich von der Straße oberhalb von Withens aus gesehen hatte.

Unterhalb der Straße waren Muster in das Heidemoor gebrannt, so exakt, dass sie aussahen wie riesige Buchstaben mit feinsäuberlich ineinander verfügten vertikalen und horizontalen Linien. Sie hätten eine Botschaft an Außerirdische im Weltraum sein können. Hoffentlich hatten die Außerirdischen gute Wörterbücher, dachte Cooper, die Botschaft schien zur Gänze aus dem Buchstaben »H« zu bestehen.

Am Horizont wurde der weite, leere Raum durch eine Kette aus Lastwagen durchbrochen, die auf der A628 Richtung Manchester fuhren. Und irgendwo da oben befand sich einer der historischen Wegweiser für die alten Saumtierpfade. Sie waren die einzigen Hinweise auf den Handel, der einst hier getrieben wurde, ehe gebührenpflichtige Straßen und Bahnstrecken gebaut wurden. Mittelalterliche Salzhändler hatten sich darauf verlassen, bei jeder Witterung von diesen steinernen Wegweisern über die eintönige Fläche geleitet zu werden. Die Moore des Dark Peak hatten früher eine fast unbezwingbare Barriere dargestellt. Auch jetzt noch führte nur eine einzige Straße durch das Tal von Longdendale.

Zunehmende Aktivitäten hinter ihm ließen Cooper umkehren und zu der Gruppe Polizisten zurückkehren. Eine rasche Durchsuchung des Terrains rund um die Leiche und ihrer Kleidung hatte eine Brieftasche samt Ausweis zu Tage befördert. Die Information wurde von dem abgesperrten Gebiet rund um den Luftschaft weitergereicht.

»Es handelt sich um Neil Granger, wohnhaft in Tintwistle«, erklärte Inspector Hitchens.

»Das liegt von hier aus nur ein paar Meilen weiter unten im Tal von Longdendale, Sir.«

»Gut. Hoffen wir, dass die Ermittlungen hier auf die Gegend beschränkt bleiben.«

Wenige Minuten später entfernte sich Chief Inspector Kessen von der Leiche und trat vorsichtig seinen Rückzug über den markierten Zugangspfad an. Der Schutzanzug war wenig vorteilhaft für ihn; er sah darin aus, als hätte er sich ein Kissen um den Bauch gebunden. Ein paar Meter weiter weg blieb Kessen stehen und wartete geduldig, bis alle zu ihm hersahen.

»Wie Sie wissen, haben wir bei der Leiche einen Ausweis gefunden«, begann er. »In der Brieftasche des Opfers befinden sich Bargeld und Kreditkarten, also werden wir ein anderes Motiv als Raub in Betracht ziehen müssen. Und unten auf der Hauptstraße steht in einer Haltebucht ein Fahrzeug, dessen Halter mit dem Opfer identisch ist.«

Der Chief Inspector leierte so nüchtern und tonlos die Fakten herunter, dass er sich fast anhörte, als langweilte er sich. Aber Cooper gefiel diese Art. Sie strahlte Ruhe und Zuversicht aus, die er zu Beginn eines größeren Falles sonst oftmals vermisste.

»Der Tatort ist frei zugänglich, aber der Täter muss beim Kommen oder Gehen Spuren hinterlassen haben. Deswegen werden wir alle uns zur Verfügung stehenden kriminaltechnischen Möglichkeiten ausschöpfen. Und wenn das Opfer freiwillig hierher kam, dann hatte der Mann einen Grund. Womöglich kam er sogar in Begleitung seines Angreifers. Eine Befragung von Familie und Freunden des Opfers und eine Überprüfung seiner Bewegungen in den letzten Tagen werden erste Anhaltspunkte zu Tage befördern. Davon bin ich überzeugt. Wo ist hier die nächste Ortschaft? Weiß das jemand?«

»Das ist ein Dorf namens Withens, Sir«, erklärte Cooper. »Unten im Tal Richtung Osten.«

»Kennen Sie es?«

Kessens Blick ruhte ruhig, fast unpersönlich auf ihm. Cooper fragte sich, ob der Chief Inspector seinen Namen schon vergessen hatte.

»Ja, Sir. Ich bin vorübergehend zum Rural Crime Team versetzt. Wir ermitteln dort unten in einem Fall, und ich führe momentan Befragungen durch. Falls das derselbe Neil Granger sein sollte, dann ist er mit einigen der Bewohner von Withens verwandt. Der Pfarrer hat gestern vergebens auf ihn gewartet.«

»Aha. Dann bleiben Sie dran an der Sache. Es scheint sich um eine lokale Geschichte zu handeln. Und wenn Sie schon in Withens sind, können Sie gleich noch mit einem gewissen Alex Dearden reden. Die beiden Sicherungsbeamten mussten ihn mit seinem Wagen vom Tatort regelrecht verscheuchen. Das heißt, vielleicht können Sie das Gespräch vorziehen, falls es von Interesse ist. Finden Sie heraus, was dieser Dearden mit seinem Geländewagen hier oben zu suchen hatte, obwohl es eine weitaus bessere Straße gibt. Wir haben uns die Karten angesehen. Er muss sich über einen aufgelassenen Steinbruch namens Far Clough hier heraufgequält haben.«

»Ich werde es herausfinden.«

Inspector Hitchens rieb sich die Hände. »Tja, das könnte eine ganz eindeutige Sache werden, Sir«, meinte er. »Das Gefühl hatte ich von Anfang an.«

Kessen sah ihn nur an und sagte nichts. Hinter dem Chief Inspector wurde Neil Grangers Leiche für die Videokameras umgedreht. Und jeder konnte sehen, dass das Blut aus seinen Wunden auf dem schwarz geschminkten Gesicht des Opfers streifige Spuren hinterlassen hatte.

Die einsamen Toten

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