Читать книгу Die einsamen Toten - Stephen Booth - Страница 12

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Diane Fry und Gavin Murfin waren vor einem modernen Bürogebäude aus Stahl, Beton und Aluminiumverkleidung angelangt, das sich am südlichen Rand von Edendale in der Mitte eines Gewerbeparks befand, der auf dem ehemaligen Überschwemmungsgebiet des River Eden errichtet worden war.

»Hier ist es«, sagte Murfin. »Eden Valley Software Solutions. Hast du die getönten Scheiben und das schicke Mobiliar gesehen? Sieht aus wie ein Bordell.«

»Du scheinst dich in den teuren Puffs von Edendale ja bestens auszukennen«, feixte Fry.

»Okay. Wie ein Frisiersalon, wenn dir das lieber ist.«

Während Murfin aus dem Wagen stieg, beäugte Fry misstrauisch die Papiertüte, die er über dem Armaturenbrett abgelegt hatte.

»Was ist in der Tüte, Gavin?«, fragte sie.

»Keine Angst, das ist für später«, antwortete er.

»Für viel später, hoffe ich.«

Fry hatte ihren Peugeot erst zwei Tage zuvor waschen und auch innen sauber machen lassen, hauptsächlich deswegen, weil sie den Müll nicht mehr hatte sehen können, den Gavin Murfin auf der Beifahrerseite hinterlassen hatte. In Fußmatten und Polstern hatten sich Krümel und klebrige Partikel festgesetzt. Der Mann in der Waschanlage hatte wissen wollen, wie viele Kinder sie denn habe. Er hatte sie offensichtlich für eine Mutter gehalten, die täglich eine Fuhre plärrender Gören in den Kindergarten und wieder zurück befördern musste. Wie peinlich. Und daran war nur Murfin schuld gewesen.

Nachdem sie sich im Foyer am Empfang der Eden Valley Software Solutions angemeldet hatten, kam Alex Dearden einen Korridor entlang und holte sie ab. Er trug schwarze Jeans und ein schwarzes T-Shirt mit einem aufgestickten Logo, das jedoch so winzig war, dass Fry ganz dicht an ihn hätte herangehen müssen, um es entziffern zu können. Dearden hatte eigentlich ein schmales, fein geschnittenes Gesicht, aber zwei feiste Backen machten diese Wirkung zunichte und verliehen ihm das Aussehen eines wütenden Hamsters. Ein Vollbart hätte diesen Effekt womöglich gnädig kaschiert, aber wie es gerade »in« war, trug er nur einen modischen Kinnbart.

»Sie müssen sich bitte hier eintragen und diese Namensschilder ans Revers klemmen«, erklärte Dearden. »Tut mir Leid wegen der Umstände. Aber Sie wissen ja, die Sicherheit geht vor.«

»Ist schon in Ordnung, Sir«, erwiderte Fry. »Wir sind froh, dass Sie am Samstag überhaupt offen haben.«

»Ach, manche von uns sind im Augenblick sieben Tage die Woche hier.«

Nachdem sie sich eingetragen hatten, ging Dearden zu einer dicken, stabil aussehenden Tür. Er wandte ihnen den Rücken zu, als er auf einem Tastenfeld eine Zahlenkombination eingab. Es klickte, und Dearden öffnete die Tür. Aus dem Korridor schallten ihnen die verschiedensten Geräusche entgegen: Gelächter und Gemurmel, dazwischen lautere Stimmen, ein ratternder Drucker.

»Hier kommt man fast so schwer rein wie in den Zellentrakt bei uns auf der Dienststelle«, sagte Murfin. »Sie wollen wohl auch nicht, dass Ihre Insassen sich davonmachen und auf der Straße randalieren?«

Dearden lachte höflich. »Ja, im Moment überlegen wir sogar, ob wir nicht zu einem Fingerabdrucklesegerät wechseln«, erklärte er. »Das ist noch viel sicherer. Einen Code wie den hier kann man sich viel zu leicht besorgen.«

»Da haben Sie Recht. Ihre Sicherheitsmaßnahmen sind nur allzu verständlich.«

»Man muss wirklich vorsichtig sein«, fuhr Dearden fort. »Die Kriminalitätsrate hier in der Gegend ist erschreckend hoch.«

»Ist bei Ihnen schon mal eingebrochen worden?«

»Nicht direkt. Vor einer Weile hatten wir es offenbar mit blinder Zerstörungswut zu tun. Jemand hat die Frontscheibe zum Foyer eingeschlagen. Danach haben wir dort eine Sicherheitsverglasung einsetzen lassen. Außerdem wurde die Außenmauer mit Graffiti beschmiert. Irgendwas über den FC Manchester United, aber total falsch geschrieben.«

»Das klingt mir aber nicht nach der Gang von Software-Dieben, berühmt-berüchtigt in ganz Edendale.«

Dearden blieb wie angewurzelt stehen. »Großer Gott, wen meinen Sie damit?«

»War nur ein Scherz«, beschwichtigte ihn Fry, aber Dearden konnte nicht darüber lachen.

»In unseren Entwicklungen hier steckt eine Menge Geld«, erklärte er. »Unglaubliche Summen. Sie können sich überhaupt nicht vorstellen, wie viel.«

»Tut mir Leid, Sir.«

»Sie haben ja keine Ahnung, welche bahnbrechenden Neuheiten wir hier entwickeln. Wenn wir nur ein paar von den Programmen für alle Plattformen herausbringen –«

»Sie müssen uns das nicht näher erklären«, unterbrach ihn Fry. »Das ist nicht der Grund, weshalb wir gekommen sind.«

Aber Dearden wollte es ihnen erklären. Oder zumindest wollte er über ein Thema sprechen, das mit dem Besuch der Polizei nichts zu tun haben konnte.

»Bei der Entwicklung dieses Konzepts arbeiten wir mit renommierten Psychologen zusammen«, fuhr er fort. »Daran sehen Sie, wie ernst es uns ist.«

»Hm.«

Mittlerweile waren sie Dearden einen Gang hinunter und in ein kleines Konferenzzimmer gefolgt, wo sich ein langer Tisch, ein Ständer mit einem Flipchart und eine Leinwand befanden. Der Raum unterschied sich in nichts von Millionen anderer Konferenzzimmer, in denen Fry Einsatzbesprechungen und Ausbildungseinheiten über sich hatte ergehen lassen. Die Leinwand veranlasste sie, sich nach einem Overheadprojektor umzusehen. Aber natürlich gab es inzwischen auch hier nur noch PowerPoint-Präsentationen vom Laptop.

Zu ihrer Überraschung nahm Alex Dearden am Kopf des Tisches Platz, als wollte er ein Meeting leiten. Fry hatte erwartet, ihm am Tisch gegenüberzusitzen. Aber so passte es ihr besser ins Konzept. So konnten sie und Murfin sich rechts und links neben ihn setzen, und Dearden war es schwer möglich, sich auf beide gleichzeitig zu konzentrieren.

»Es geht um Emma Renshaw«, sagte Fry und zog sich einen Stuhl heran.

»Um Emma? Aber das ist doch schon so lange her«, meinte Dearden. »Die Untersuchungen wurden doch bereits vor ewigen Zeiten abgeschlossen.«

»Abgeschlossen kann man das nicht nennen, Sir. Man hat Emma schließlich nie gefunden.«

»Das weiß ich auch. Und es war für uns alle, die wir sie gekannt haben, sehr belastend.«

»Kann ich mir denken, Sir.«

»Aber ich habe der Polizei damals alles gesagt, was ich wusste. Was nicht sehr viel war, muss ich hinzufügen. Es wurde alles mehrfach überprüft, hat aber nichts genützt. Für ihre Familie ist das sehr tragisch. Aber ich denke, irgendwann kommt der Punkt, an dem wir die Vergangenheit hinter uns lassen und nach vorne schauen müssen, nicht wahr?«

Fry betrachtete den jungen Mann. Sie überlegte, wie jung Dearden noch war. Erst zweiundzwanzig, laut seiner Akte. Aber er hörte sich bereits dreißig Jahre älter an. Wie ein honoriger Bürger in mittleren Jahren, der gereizt darauf reagierte, wegen einer Sache belästigt zu werden, die weit zurück in der Vergangenheit lag, damals, als er noch ein vollkommen anderer Mensch gewesen war.

»Soweit ich weiß, kannten Sie Emma von klein auf«, sagte Fry.

»Seit ich denken kann. Wir sind im selben Dorf aufgewachsen, in Withens. Kennen Sie den Ort?«

»Bisher noch nicht.«

»Nun, wenn Sie dort sind, werden Sie verstehen, was ich meine. Dort gibt es buchstäblich nichts. Kinder im selben Alter haben zwangsläufig miteinander zu tun. Wir gingen in dieselbe Grundschule, in Tintwistle. Und später auch in dieselbe weiterführende Schule. Außerdem waren unsere Eltern befreundet, und deshalb waren wir natürlich ständig zusammen.«

»Und nach der Schule studierten Sie auch noch an derselben Universität.«

»Nein«, widersprach Dearden. »Da haben Sie etwas missverstanden. Ich habe an der Birmingham University studiert, Emma an der Kunstakademie der UCE, der University of Central England, dem früheren Polytechnikum.«

»Stimmt.« Fry betrachtete Alex Dearden, um dessen Mundwinkel ein herablassendes Lächeln spielte. Er hatte ihr seine Überlegenheit bewiesen und war nun wesentlich entspannter.

»Aber unsere Universitäten lagen so nah beieinander, dass wir uns überlegten, uns zusammenzutun und gemeinsam ein Haus zu mieten«, erklärte er. »Ist nicht so toll, plötzlich mit einem Haufen Fremder zusammenleben zu müssen. Man weiß nie, mit wem man die nächsten drei, vier Jahre auskommen muss. Der helle Wahnsinn. Emma kannte ich wenigstens und wusste, dass es mit ihr keine Probleme geben würde. Und unsere Eltern hielten das auch für eine gute Idee und bezahlten selbstverständlich die Kaution für uns.«

»Selbstverständlich«, wiederholte Fry. Sie selbst hatte nie eine Universität besucht und nie Eltern gehabt, die willens oder in der Lage gewesen wären, ihr Geld zu geben, um ein Haus zu mieten. Aber sie nickte nur und lächelte Dearden ermutigend zu.

»Und Ihre anderen Mitbewohner – einer davon war Neil Granger.«

»Ach ja. Ist irgendwie ein komischer Kauz, dieser Neil.«

»Komisch?«

»Also, verstehen Sie mich nicht falsch. Er ist total okay, aber damals in Withens hatte er nicht viel mit uns zu tun. Er ist nämlich einer von den Oxleys, wissen Sie.«

»Tut mir Leid, aber könnten Sie mir das vielleicht erklären?«

Dearden fing an, auf seinem Stuhl hin und her zu rutschen. Sein Lächeln verschwand, und er warf einen nervösen Blick auf Gavin Murfin. Wie alle anderen reagierte auch er irritiert auf den Polizeibeamten, der bei einer Befragung den stummen Part übernahm.

»Dann sollten Sie Erkundigungen über die Oxleys einziehen«, antwortete Dearden. »Ein ziemlich schlimmer Haufen, die immer Ärger machen. Normalerweise hatten wir nie was mit ihnen zu tun. Ich hatte eigentlich erwartet, dass Sie über diese Leute informiert wären. Sind natürlich alle vorbestraft.«

Wieder sah er Murfin an, der auf seine unnachahmliche Art reglos Deardens Blick erwiderte. Murfin ließ ihn nicht aus den Augen und fing an, mit seinen Kiefern zu mahlen, als hätte er einen Kaugummi im Mund. Aber Fry wusste, dass er Kaugummi hasste. Das war so, als würde man Luft kauen. Als würde man mit einer Frau ausgehen, die man nur anschauen, aber nicht anfassen durfte, sagte er.

Fry schaute kurz auf die Notizen, die sie mitgebracht hatte. »Ich glaube, ich habe den Namen Oxley schon mal gehört. Jetzt, wo Sie es sagen«, meinte sie.

Dearden wirkte erleichtert. Wieder hatte er sich auf sicheres Terrain gerettet und hatte es mit Leuten zu tun, die auf derselben Wellenlänge wie er funkten. Seine Einstellung den Oxleys gegenüber war ihm peinlich, und er rechtfertigte sich nur ungern dafür. Fry notierte sich im Geist dieses Detail. Vielleicht konnte man die Information später noch mal verwenden.

»Neil Granger ist irgendwie mit den Oxleys verwandt. Ein Cousin oder so«, erklärte Dearden. »Neil und sein Bruder Philip sind bei den Oxleys aufgewachsen. Aber Neil ist ein anständiger Kerl. Wenn man mit ihm spricht, könnte man glatt vergessen, dass er ein Oxley ist.«

»Ging er mit Ihnen und Emma in dieselbe Schule? In dieselbe Klasse?«

»Ja.«

»Und an welche Universität ist er gegangen? Birmingham oder Central England?« Sie wühlte in ihren Unterlagen. »Ich fürchte, diese Information fehlt mir ebenfalls.«

Fry bedachte Alex Dearden mit einem hoffnungsvollen Blick und stellte zufrieden fest, dass das selbstgefällige Lächeln wieder auf seinem Gesicht lag.

»Weder noch«, antwortete er. »Neil ging nicht an die Uni.«

»Aber er wohnte doch im selben Haus wie Sie. Wo war das noch mal? In Bearwood? Wieso ist er mit Ihnen zusammen in dieses Haus gezogen? So weit weg von daheim. Das verstehe ich nicht.«

»Das war eigentlich Zufall. Als wir dort einzogen, waren wir nur zu dritt – Emma, ihre Freundin Debbie, die im selben Kurs wie sie war, und ich. Die beiden Mädchen waren dicke Freundinnen, wissen Sie, und hingen ständig zusammen. Aber wir hatten noch ein viertes Zimmer übrig, und nach einer Weile überlegten wir, uns noch einen Mitbewohner zu suchen. Um ehrlich zu sein, wir drei hatten ganz schön an der Miete zu knabbern. Man weiß vorher ja nie genau, was an Kosten auf einen zukommt. Sie wissen schon, Bücher und so. Emma und Debbie benötigten außerdem eine Menge Material für ihre Projekte.«

»Und ein bisschen amüsieren will man sich ja auch noch, oder?«, fragte Fry.

Dearden sah sie misstrauisch an. »Wie meinen Sie das?«

»Na ja – das Studentenleben eben. Da geht man doch oft aus. Jedenfalls hat man mir das so erzählt.«

»Hin und wieder, ja. Aber wer vernünftig ist, übertreibt es nicht. Nicht, wenn man das Semester mit guten Noten abschließen will. Was bei uns allen der Fall war.«

»Ich verstehe. Trotzdem stellte sich heraus, dass das Leben teurer als gedacht war, oder?«

»Ja. All die Ausgaben, mit denen wir nicht gerechnet hatten – wie Gemeindesteuer, Strom, Telefonrechnung. Sie wissen, wovon ich rede.«

»Ja, ich weiß.«

»Auf jeden Fall hat Neil sich um diese Zeit bei uns gemeldet und erzählt, er hätte einen Job in Birmingham, einen Zweijahresvertrag auf einer Baustelle am inneren Ring, wenn ich mich richtig entsinne. Neil wollte wissen, ob wir ihm das leere Zimmer bei uns im Haus vermieten würden. Unsere Eltern waren nicht sehr begeistert davon, aber wir haben die Sache besprochen und beschlossen, ihn bei uns einziehen zu lassen.«

»Weil er jemand war, den Sie kannten, und kein Fremder?«

Dearden zögerte. »Also, am meisten hat uns natürlich das Geld überzeugt, das er dort bekommen sollte. Laut Vertrag hat er richtig gut verdient, während wir armen Schlucker von Studenten von irgendwelchen Stipendien leben mussten. Deshalb dachten wir, er könnte uns nützlich sein.«

Fry wollte irgendetwas tun oder sagen, um dieses selbstzufriedene Lächeln von seinem Gesicht zu fegen, aber sie musste Alex Dearden unbedingt bei Laune halten. Aus den Augenwinkeln heraus bemerkte sie, dass Murfin hektischer kaute, als hätte er einen unangenehmen Geschmack im Mund, den er unbedingt loswerden wollte.

»Mr Dearden«, fuhr Fry fort, »ist Ihnen je der Gedanke gekommen, Neil Granger könnte einen besonderen Grund gehabt haben, dieses Zimmer in Ihrem Haus mieten zu wollen?«

»Es war eben bequem für ihn, denke ich. Es ist oft ganz schön schwierig, ein anständiges Zimmer zur Miete zu finden, vor allem in einer Stadt mit so vielen Studenten.«

»Nein, ich meinte etwas anderes. Glauben Sie, er könnte darüber hinaus noch einen anderen Grund gehabt haben? Einen persönlichen Grund?«

Dearden schien immer noch nicht zu verstehen, worauf sie hinauswollte.

»Ein gewisses Interesse an Emma Renshaw vielleicht?«

Er zog die Augenbrauen hoch. »Gütiger Himmel. Neil? Nein, ich denke, da liegen Sie falsch.«

Er fügte nicht hinzu, »wieder«, aber es schwang in seinem Tonfall mit.

»Vielen Dank, Sir. Können Sie mir dann vielleicht Auskunft über den einen oder anderen jungen Mann geben, mit dem Emma während ihrer Zeit in den West Midlands befreundet war? Ich bin sicher, dass sie Freunde hatte. Auch wenn sie nicht viel ausging, wie Sie sagten.«

Dearden schüttelte den Kopf. »Es gab da schon ein paar Typen, über die Emma und Debbie manchmal geredet haben. Aber ich habe nicht darauf geachtet. Wenn die zwei Mädels ausgingen, dann immer nur zusammen. Ich fürchte, ich weiß wirklich nicht, ob es einen speziellen jungen Mann in ihrem Leben gab. Oder mehrere vielleicht. Bestimmt gab es die. Aber ich bin sicher, Neil hat nicht dazugehört, Sergeant.«

»Hatte Neil zu der Zeit, als er in Birmingham arbeitete, seinen eigenen Freundeskreis?«

»Ja, ich vermute schon. Seine Arbeitskollegen von der Baustelle, nehme ich an.«

»Aber sicher scheinen Sie sich nicht zu sein.«

»Ich habe ihn nicht danach gefragt. Ich hatte so viel zu tun. Ich habe Tag und Nacht für meinen Abschluss gebüffelt. Außerdem ging es mich nichts an, wo Neil Granger seine Abende verbrachte.«

»Oder Emma?«

»Nein, natürlich nicht.«

»Und das trotz der Tatsache, dass Sie seit Ihrer Kindheit mit ihr befreundet waren?«

»Ich verstehe nicht, was das miteinander zu tun hat.«

»Ich dachte nur, Sie hätten vielleicht mehr Interesse an dem gehabt, was sie tat. Oder sich vielleicht sogar Gedanken gemacht, mit wem sie sich einließ.«

»Emma war okay«, sagte Dearden überzeugt. »Sie war ein vernünftiges Mädchen.«

»Okay? Eine große Stadt kann ein gefährlicher Ort für eine junge Frau sein, die das erste Mal allein von zu Hause weg ist. Sie könnte doch an alle möglichen Leute geraten sein.«

»In Bearwood? Das Kaff war nur langweilig, wenn Sie mich fragen, und ganz und gar nicht gefährlich.«

Plötzlich verschwand Deardens Lächeln von seinem Gesicht, und er fing an, wieder nervös auf seinem Stuhl hin und her zu rutschen. »Hören Sie, ich habe das alles vor zwei Jahren schon mal durchgemacht«, sagte er. »Die Polizei hat mich gelöchert, und permanent hatte ich Emmas Eltern im Nacken sitzen. Ich weiß nicht, weshalb Emma nicht nach Hause kam. Ich weiß nicht, wohin sie ging.«

»Haben Emmas Eltern noch Kontakt zu Ihnen?«

Er lachte. »Jede verdammte Woche. Eines Tages werde ich sie noch wegen Belästigung verklagen und eine einstweilige Verfügung gegen sie erwirken. Das ist mein Ernst. Ich weiß, dass sie wegen Emmas Verschwinden völlig durcheinander sind. Aber wenn Sie mich fragen, sind sie total durchgeknallt und reagieren inzwischen absolut unvernünftig.«

»In welcher Hinsicht, Sir?«

»Also, Mrs Renshaw ruft mich jede Woche an und fragt mich, ob ich Emma gesehen hätte. Und jedes Mal ist es so, als wüsste sie nicht mehr, dass sie mich in der Woche zuvor angerufen und mir dieselbe Frage gestellt hat. Und die Woche zuvor und die zuvor auch. Bei jedem Anruf scheint sie zu glauben, sie würde mir diese Frage zum ersten Mal stellen.«

Dearden beugte sich zu Fry hinüber. Beinahe hätte sie das Designerlogo auf seinem T-Shirt erkennen können, aber er war noch nicht nah genug.

»Und ich weiß, dass sie nicht aufhören wird, mich anzurufen«, fuhr er fort, »bis ich ihr die Antwort gebe, die sie hören will. Aber das kann ich nicht. Es hat auch keinen Sinn, meine Telefonnummer zu Hause zu ändern, weil sie dann nur anfängt, mich hier anzurufen. Und das wäre ein Albtraum.«

»Es muss sehr schwer für sie sein«, wandte Fry ein.

»Und was ist mit mir? Für mich ist es auch schwer. Können Sie denn nicht was dagegen unternehmen? Können Sie nicht mal mit ihr reden? Das ist eine echte Belästigung.«

»Okay, ich werde sie darauf ansprechen, Sir.«

Dearden seufzte. »Sicher. Das nützt bestimmt viel.«

»Und Neil Granger?«

»Neil? Was ist mit ihm?«

»Haben Sie noch Kontakt zu ihm?«

»Eigentlich nicht.«

»Wann haben Sie das letzte Mal mit ihm gesprochen?«

Dearden zuckte die Schultern. »Das ist jetzt schon ein paar Monate her. Ich war zu Besuch bei meinen Eltern und machte auf dem Rückweg auf einen kurzen Drink im Quiet Sheperd in Withens Halt. Neil war mit Anhang da. Die Oxleys, Sie wissen schon. Deswegen haben wir nicht viel miteinander geredet. Nur ein kurzes ›Hallo‹. Das war alles. Kein richtiges Gespräch.«

»Und ich vermute, dass keiner von Ihnen Emma erwähnt hat?«

»Nein«, antwortete Dearden gereizt. »Keiner von uns hat Emma erwähnt.«

»Diese Software, die Sie hier entwickeln …«, sagte Fry.

»Das ist im Augenblick noch höchst vertraulich.«

»Können Sie mir vielleicht einen Hinweis geben, worum es ungefähr geht?«

»Also, Sie müssen sich Folgendes vorstellen: Das menschliche Gehirn ist in der Lage, Routinehandlungen und immer wiederkehrende Aktionen automatisch durchzuführen wie ein Computer. Aber hin und wieder kommt es zu Störungen im vordersten Großhirnlappen, dem Sitz der Aufmerksamkeitssteuerung. Dann können Aktionen zwar immer noch automatisch durchgeführt werden, aber nicht mehr in der richtigen Reihenfolge. Oder sie können nicht mehr gestoppt werden. Nach Aussage der Psychologen ist das der Preis, den wir dafür zahlen, unsere Handlungen automatisieren zu können.«

Fry warf Murfin einen warnenden Blick zu, jetzt bloß nicht loszulachen. Hoffentlich war Alex Dearden kein Roboter, dachte sie, und konnte im geeigneten Moment noch gestoppt werden.

»Sie müssen sich das wie einen Autopiloten vorstellen, der einen Defekt hat«, fuhr er fort. »Den Psychologen hilft dieser Zusammenhang beim Verständnis menschlicher Fehlbarkeit. Uns hilft er, die Technik zu entwickeln, die menschliche Fehler bei der Bedienung von vorneherein mit einkalkuliert. Deshalb sind Computerprogramme so angelegt, dass der User ein Dokument nie schließen kann ohne Nachfrage, ob er es sichern will oder nicht«, erklärte er. »Aber wir werden dieses Konzept noch um einiges weiterentwickeln. Sehr viel weiter sogar. Mehr kann ich Ihnen dazu allerdings beim besten Willen nicht sagen.«

»Weil Sie mich sonst töten müssten?«, fragte Fry.

»Wie bitte?«

»Ist schon gut.«

Als sie das Gebäude der Eden Valley Software Solutions verließen, blieb Gavin Murfin auf dem Parkplatz stehen und tat so, als spuckte er den imaginären Kaugummi aus. Dann trat er ihn in den Teer und drückte mit der Schuhspitze so lange und gründlich darauf herum, bis er zufrieden war.

»Fühlst du dich jetzt besser?«, fragte Fry.

»Nicht, ehe ich ein Stück von meiner Pastete zwischen die Zähne bekomme.«

»Aber nicht in meinem Wagen, Gavin.«

»Ich werde aufpassen, dass ich nicht krümle. Ehrlich.«

»Hast du eine Ahnung, wie viel es mich gekostet hat, diesen Wagen sauber zu bekommen?«

»Hör mal, ich nehme die Pastete nicht einmal aus der Tüte.«

»Nein.«

Murfins Gesicht legte sich in tausend Falten. Er seufzte tief. »Wohin fahren wir als Nächstes?«

»Wir müssen mit Neil Granger sprechen. Ich habe schon versucht, ihn anzurufen, aber er ist nicht zu Hause.«

»Soll das heißen, dass wir für heute Schluss machen?«

»Ja. Bis morgen.«

»Morgen? Aber morgen ist Sonntag, Diane.«

»Ein guter Tag, um nach Withens zu fahren.«

Murfin schniefte. »Es gibt nicht einen guten Tag, um nach Withens zu fahren.«

Ben Cooper hatte die Hand auf der Gartenpforte liegen und wollte soeben den Riegel lösen. Doch beim Klang der Stimme hielt er inne. Neben dem letzten Haus der Waterloo Terrace stand ein Mann und beobachtete Cooper. Der Mann stand still wie eine Statue, so dass Cooper, der mehr am Zustand der Gärten interessiert gewesen war, ihn nicht bemerkt hatte. Der Mann trug einen dunklen Anzug und ein weißes Hemd, aber keine Krawatte. Die Hosenbeine steckten in schwarzen Gummistiefeln. Cooper schätzte ihn auf Mitte fünfzig. An seinem schütteren, rotblonden Haar, das an den Schläfen in Strähnen abstand, zerrte der Wind. Sein Haar war das Einzige an ihm, das sich bewegte. Sogar seine Augen, die fest auf Cooper gerichtet waren, blickten starr. Er ließ die Hände an den Seiten hängen, und obwohl er keine Waffe trug, schaffte er es, bedrohlich zu wirken.

Cooper verspürte leichte Nervosität, als er nach seinem Dienstausweis griff. Er befürchtete, die Geste könnte falsch verstanden werden. Vielleicht bildete er sich das nur ein, aber er hatte das Gefühl, noch von anderen Augenpaaren beobachtet zu werden.

»Detective Constable Cooper von der Polizei in Edendale«, sagte er. »Und wer sind Sie?«

Der Mann gab keine Antwort. Der Ausdruck auf seinem Gesicht schlug unmerklich von Misstrauen in Verachtung um, als müsste ein Kriminalbeamter wissen, wessen Haus er hier aufsuchte.

»Sind Sie Mr Oxley?«, fragte Cooper.

»Was wollen Sie?«

Resigniert stellte Cooper fest, dass er dem Mann keine Antwort würde entlocken können. Aber er konnte kein anderer als Mr Oxley sein. Lucas, wahrscheinlich. Der Vater von Scott, Ryan, Jake und vielleicht auch Sean.

»Wenn Sie Mr Lucas Oxley sind, würde ich gern mit Ihnen sprechen.«

»Kommen Sie nicht näher, sagte ich.«

Cooper hatte automatisch begonnen, den Riegel der Pforte zu heben, in der Annahme, jetzt, da er mündlichen Kontakt aufgenommen hatte, würde man ihm den Zutritt gestatten. Aber er täuschte sich.

»Vielleicht möchten Sie ja nicht, dass jeder mitbekommt, was ich Sie fragen will, Sir. Das muss man nicht unbedingt laut bei den Nachbarn herumposaunen.«

»Da haben Sie vollkommen Recht. Ich habe nicht die Absicht, hier herumzuschreien.«

»Ich muss Ihnen die Frage stellen –«

»Sie müssen überhaupt nichts. Nicht bei mir.«

Cooper war sicher, eine Bewegung hinter einem der Fenster im Erdgeschoss des zweiten Hauses wahrgenommen zu haben, auf Nummer zwei. Die Vorhänge standen offen, aber drinnen war es zu dunkel, um jemanden erkennen zu können.

»Sie sind also Mr Oxley, richtig?«, sagte Cooper.

»Zufälligerweise ja.«

»Ich war gerade in der Kirche, wo eingebrochen wurde.«

Zu Coopers Überraschung machte Oxley einfach auf dem Absatz kehrt und tauchte in den Durchgang zwischen den beiden letzten Häusern. Seine strähnigen Haare tanzten noch einen Moment um seinen Kopf, ehe er im Schatten verschwand.

Cooper öffnete die Pforte und lief ihm ein paar Schritte hinterher.

»Mr Oxley!«, rief er.

Abrupt blieb er stehen. Aus irgendeinem Grund sträubten sich ihm die Nackenhaare. Er verharrte, wo er war, ein paar Meter entfernt von der Gartenpforte, und blickte Richtung Haus. Ganz sicher spähten hinter den Fenstern Gesichter hervor. Er konnte Augenpaare sehen, die alle seine Bewegungen verfolgten. Wie eine Familie, die abends gemütlich vor dem Bildschirm hockt und erwartungsvoll auf die nächste spannende Szene, eine Autojagd oder einen Kampf wartet.

Jetzt, da Lucas Oxley verschwunden war, herrschte beinahe vollkommene Stille in den Vorgärten der Waterloo Terrace. Aber nur beinahe. Coopers Ohren nahmen ein schwaches Klicken wahr, dann ein merkwürdig schlitterndes Geräusch, das vom Ende des Durchgangs auf ihn zukam.

Im letzten Moment drehte Cooper sich um und rannte Richtung Pforte. Er wusste, dass er keine Zeit mehr hatte, sie zu öffnen, und setzte zum Sprung über die Mauer an. In dem Moment tauchte in dem gewölbten Eingang der Passage ein riesiger, zotteliger Schäferhund auf und kam auf Cooper zugerannt.

Keuchend blieb Cooper auf der anderen Seite der Mauer auf der Straße stehen, bereit, seine Flucht zum Wagen fortzusetzen. Aber nichts geschah. Der Hund blieb stumm. Er hatte nicht ein Mal gebellt oder auch nur geknurrt. Lautlos war er auf ihn losgegangen; nur das Klappern seiner Krallen auf dem Betonboden des Durchgangs war zu hören gewesen. Doch in dem Moment, in dem Cooper sich auf der anderen Seite der Pforte und somit außerhalb seines Territoriums befand, schien er stehen geblieben zu sein.

Cooper warf einen Blick zurück zum Haus, in der Erwartung, zufriedene Gesichter hinter dem Fenster zu sehen. Aber die Zuschauer waren noch nicht befriedigt. Sie warteten immer noch auf das spannende Finale.

In dem Moment schoss ein dunkler Schatten durch Coopers Blickfeld, und zwei Reihen scharfer, weißer Zähne schnappten nur wenige Zentimeter vor seinem Gesicht zu. Cooper blickte in ein wild rollendes Auge, als der Schäferhund in die Höhe sprang und seinen Kopf über die Gartentür streckte, in dem verzweifelten Bemühen, seine Fänge in ihn zu schlagen. Schwitzend taumelte Cooper einen Schritt zurück. Hätte er sich über die Pforte gebeugt, um nachzusehen, wo der Hund blieb, sähe sein Gesicht jetzt anders aus.

Doch das Schrecklichste an diesem Hund war seine Geräuschlosigkeit. Er verhielt sich wie ein Tier, das darauf abgerichtet war, anzugreifen und zu verletzen und nicht, simplen Schrecken einzujagen.

»Mr Oxley!«, rief Cooper. »Ich bin Polizeibeamter. Ihr Verhalten ist absolut inakzeptabel.«

Schweigen. Und jetzt hatten sich auch die Gesichter zurückgezogen, endlich zufrieden mit der Vorstellung. Vielleicht war die Hundehatz ein beliebter Zeitvertreib in der Waterloo Terrace.

Cooper atmete tief durch und trat ein paar Schritte von der Gartentür zurück. Dann überlegte er, was er als Nächstes tun sollte. Er konnte sich des Gefühls nicht erwehren, einen dummen taktischen Fehler begangen zu haben. Er hatte nicht nachgedacht über das, was er tat und warum. Das Ergebnis war, dass er seine Sicherheit aufs Spiel gesetzt hatte.

Das sollte er wohl besser für sich behalten. In der jüngsten Vergangenheit hatte es Vorfälle gegeben, die in den Augen einiger Leute seine Qualifikation in Frage gestellt hatten. Detective Sergeant Fry würde den heutigen Vorfall bestimmt mit großem Vergnügen in seiner Personalakte vermerken.

Halten Sie sich an den Dienstweg, hatte man ihm geraten. Aber manchmal war das hart. Eines Tages würde er weit vom Dienstweg abweichen, und das wäre das Ende.

»Alles in Ordnung, Ben?« Constable Udall beobachtete ihn von der Straße aus mit skeptischer Miene. Cooper kam der Gedanke, dass er wahrscheinlich nicht mehr den frischesten Anblick bot. Er war seit Morgengrauen auf den Beinen und hatte für die Razzia, die bereits einige Stunden zurücklag, seine ältesten Kleidungsstücke angezogen. Auf Lucas Oxley hatte er wahrscheinlich auch keinen guten Eindruck gemacht. Es war seine eigene Schuld, dass er beinahe ein paar Zentimeter Haut in den Fängen von Mr Oxleys Hund gelassen hatte.

»Ja, mir geht es gut.«

»Ich dachte schon, wir hätten Sie verloren.«

»Beinahe. Können wir fahren?«

»Ich richte mich nach Ihnen.«

Während er vom Parkplatz aus Tracy Udall nachwinkte, kramte Ben Cooper in der Ablage seines Toyotas auf der Suche nach einer CD für den Rückweg nach Edendale. Und er wurde fündig mit einem der letzten Alben der Levellers. Der Titel gefiel ihm: Green Blade Rising.

Auf dem Weg aus dem Dorf fielen ihm neben dem Teich zwei Männer mit einem Traktor und einem langen Seil auf. Ein dritter Mann stand mit hüfthohen Fischerstiefeln im Wasser. Er war bereits voller Entengrütze, während er mühsam versuchte, das Seil an einem der Bretter zu befestigen, die auf der Oberfläche des Teichs trieben.

»Merkwürdig«, sagte Cooper laut. Und dabei trommelte er zur Musik der Levellers mit den Fingern am Lenkrad, während er aus Withens hinausfuhr.

Die einsamen Toten

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