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Freitag

Sobald er die Tür öffnete, konnte er das Schreien hören. Es zerriss die feuchte Luft und verfing sich in den Eiben, ehe es von den Grabsteinen als Echo zurückgeworfen wurde und an den Mauern erstarb. Es hörte sich an wie ein Tier, das unter Schmerzen verendete. Aber dieser Laut war menschlich.

Mit jedem Atemzug schien Derek Alton dieses Geräusch in seine Lungen zu saugen, bis aus seinem tiefsten Innern ein Antwortschrei nach oben stieg. Das asthmatische Keuchen seiner entzündeten Atemwege war so schrill, dass seine Ohren zunächst nicht lokalisieren konnten, woher das Geräusch kam, sondern es zunächst als einen Laut identifizierten, welcher der ihn umgebenden Luft zu entströmen schien. Doch der Schmerz im oberen Teil seines Brustkorbs sagte ihm, woher das Geräusch kam.

Und Alton wusste auch, woher das Schreien kam.

Mit zitternden Fingern klopfte er den Staub von seinem Ärmel. Sein Kragen klebte an seinem vor Anstrengung schweißnassen Hals, und ein paar Haarsträhnen waren ihm in die Stirn gefallen, wo sie wie ein Kranz aus Stacheldraht auf seiner Haut lagen. Alton rieb über einen frischen Kratzer an seinen Fingerknöcheln, verschmierte aber nur Blut auf seinem Handrücken. Auch im Mund hatte er einen Geschmack nach Staub – nach altem Staub, dem Schutt vieler Jahre, den ein Akt willkürlicher Gewalt heraus an die Luft befördert hatte.

Der Schrei erinnerte Alton an den Todesschrei einer Ratte, den er einmal gehört hatte. Ein Terrier hatte sie aus ihrem Nest in einer Scheune vor den Spaten eines Bauern gescheucht, der ihr damit das Rückgrat gebrochen hatte. Mit letzter Kraft hatte die sterbende Ratte laut gequiekt, noch ein wenig mit den Vorderbeinen gezappelt und die bleichen Krallen in die trockene Erde geschlagen.

Alton lauschte, ob er noch weitere Geräusche hörte. Zuerst waren nur das Raunen des Windes in den Eiben und das Tropfen des Regenwassers im Efeu an den Kirchenmauern zu hören. Doch allmählich begann er, dahinter einen weiteren Laut zu unterscheiden – ein rhythmisches Klopfen, das in einem Raum widerhallte, der weit hinter den ersten Häusern auf der Straße nach Withens lag. Eine Art rituelles Trommeln, das sich, immer schneller werdend, überschlug und dabei mehrfache Klangschichten erzeugte. Alton fröstelte, als er die unterschwellige Drohung darin erkannte, die von Tod und Verderben kündete.

Dann war irgendwo im Dorf plötzlich Gelächter zu hören, gefolgt vom Knallen einer Tür. Eine Frauenstimme rief etwas, das Alton nicht verstehen konnte. Es war nur ein Satz, ungefähr sechs Wörter, und dann war die Stimme wieder weg. In der Ferne lockte ein Mutterschaf seine Lämmer an den Hängen des Withens Moor, dort, wo die Freilandherden noch immer zwischen Heidekraut und Torfmoor auf ihrem angestammten Territorium weideten. Alton hatte das Withens Moor gesehen. Auch Black Hill und Hey Moss. Und er wusste, dass die Moore am Sterben waren.

Den ganzen Tag über hatte Derek Alton an nichts anderes als an den Tod gedacht. Mit einem Ruck war er im Morgengrauen erwacht, voller Angst, er könnte Caroline mit seinen Albträumen gestört haben. Aber als er die Augen aufschlug und auf den schwachen Lichtschein starrte, der durch die Vorhänge fiel, erkannte er, dass sein Geist wie ein Pendel hin und her geschwungen war zwischen den Dualitäten Dunkelheit und Licht, Winter und Frühling, Tod und Erneuerung. Vielleicht hatte er an das nahende Ende des Winters und die ersten Vorboten des Frühjahrs gedacht. Aber er war sicher, vor allem an den Tod gedacht zu haben.

Alton hörte Schritte, die durch den Mittelgang der Kirche näher kamen. Es gab keine Teppiche in St. Asaph, und der Besucher trug schwere Arbeitsschuhe, die laut über die Steinplatten auf dem Boden polterten.

Er drehte sich zum Hauptschiff um, blinzelte und versuchte, die Gestalt auszumachen, die langsam aus dem Licht trat und direkt neben ihm stehen blieb. Der Vorraum der Kirche schien zu schmal für beide, als sie dicht nebeneinander standen.

Neil Granger trug eine schwarze Lederjacke, die Alton für eine Motorradkluft hielt, obwohl er wusste, dass Neil kein Motorrad, sondern nur einen alten VW-Käfer besaß. Und den Wagen hatte Neil auch nur, um damit in die Chemischen Werke Lancashire in Glossop und wieder zurück zu fahren.

»Du musst nicht bleiben, Neil«, sagte Alton. »Du kannst heute Abend auch nicht mehr viel ausrichten.«

In schwarzen Schlieren rann Neil der Schweiß von den Schläfen und über die Wangen. Er fuhr sich mit der Hand über eine Hälfte seines Gesichts und verschmierte die Flecken nur noch mehr. Besorgt sah er Alton an, als er dessen pfeifenden Atem hörte.

»Geht es Ihnen gut?«

»Mit mir ist alles in Ordnung«, sagte Alton. »Ich habe nur mal frische Luft gebraucht. Außerdem sollten wir jetzt nichts mehr anrühren, bis die Polizei hier war und sich alles angesehen hat.«

»Da können Sie lange warten. Vielleicht bis Ostern.«

»Ich weiß, ich weiß. Trotzdem …«

»Sie halten sich gern an die Regeln.«

Alton seufzte. »Wäre schön, wenn es für so etwas noch Regeln gäbe.«

»Sie mögen Regeln, wie? Ich schätze, das hat was mit Ihrem Job zu tun.«

»Na ja, da gibt es immerhin die Zehn Gebote.« Alton lächelte, um ihm zu zeigen, dass er es nicht so ernst meinte.

»Auch hier in Withens?«, fragte Neil.

»Ja, sogar hier in Withens.«

»Ich denke, es gibt nicht ein Gebot, das hier nicht gebrochen wurde.«

Ein paar Meter weiter weg verschwand eine Amsel im dichten Bewuchs auf den Grabplatten, die wie gefallene Monolithe vor der Kirche aufgereiht lagen. Die Amseln kehrten in der Dämmerung immer als Letzte zu ihren Schlafplätzen zurück. Mit ruckartigen Bewegungen rannten sie im Zwielicht über die Gräber und raschelten hoffnungsvoll zwischen den abgestorbenen Blättern auf der Suche nach Insekten und Larven. Ihre Aktivitäten genügten, um schreckhaften Menschen den Besuch der Kirche um diese Tageszeit zu verleiden. Selbst eine Amsel lebte in der Dualität. Sie war ebenso ein Geschöpf der Dunkelheit wie des Lichts.

Neil klappte den Kragen seiner Jacke hoch, um sein Gesicht vor der Kälte zu schützen. Alton konnte seinen Schweiß riechen. Er empfand Zuneigung und Dankbarkeit für den jungen Mann, dass er sich die Mühe gemacht hatte und gekommen war, um ihm zu helfen. Nicht viele hätten das getan. Nicht in Withens.

»Ich weiß zu schätzen, was du getan hast, Neil«, sagte er.

Doch statt sich über Altons Dank zu freuen, wandte Neil sich ab und starrte auf den Friedhof.

»Es tut mir Leid, Herr Pfarrer«, sagte er.

»Was tut dir Leid?«, fragte Alton überrascht.

Neil deutete auf den Friedhof. »Na, das hier. Es ist nicht das, was Sie erwartet haben, oder? Nicht, was Sie wirklich verdienen, vermute ich.«

»Ich weiß nicht, was du meinst, Neil.«

Neil lachte. Staub drang in seinen Hals, und er fing zu husten an. Alton sah die Ringe in seinen Ohren aufblitzen und bemerkte den Glanz seines schwarzen Haars. Er wollte die Hand auf die Schulter des jungen Mannes legen und ihm versichern, dass alles in Ordnung sei. Wofür Neil sich auch immer entschuldigte, es war völlig in Ordnung. Aber er zögerte, aus Angst, seine Geste könnte missverstanden werden. Gleichzeitig bereute er es, so übervorsichtig zu sein. Er sollte Vergebung schenken können, wenn es das war, was Neil Granger brauchte. Doch bis diese Impulse zu seinem Gehirn vorgedrungen waren, war der Augenblick vorüber, und es war zu spät.

Neil schien jedoch sofort wieder vergessen zu haben, was er gesagt hatte.

»Also, wie bereits besprochen, wir nehmen dieses Wochenende den Friedhof in Angriff«, fuhr er in verändertem Ton fort.

»Ja«, erwiderte Alton. »Das machen wir.«

»Ich hatte gehofft, Philip würde uns helfen, aber er hat keine Lust.«

»Dein Bruder hat momentan viel zu tun, das verstehe ich.«

»Irgendwelche neuen Geschäfte. Ich blicke schon lange nicht mehr durch bei dem, was er so treibt. Aber wir zwei werden das auch allein schaffen, wie? Nicht vergessen, Herr Pfarrer – Tod und Erneuerung, Winter und Frühling –«

»Die Dunkelheit und das Licht.«

»Genau. Wird Zeit, dass wir etwas Licht in die Sache bringen, würde ich sagen.«

Neil drehte sich zu dem Pfarrer um, aber Alton sah kaum seine Augen. Wie die Umgebung waren auch sie dunkel und lagen noch dazu im Schatten, so dass sich das wenige Licht, das aus dem Kirchenschiff in den Vorraum fiel, nicht in ihnen spiegeln konnte. Alton konnte den Ausdruck auf Neils Gesicht nicht erkennen. Ein seltsamer Gedanke kam ihm in den Sinn. Hätte er in dem Moment in Neils Augen lesen können, hätte er vielleicht überhaupt keinen Ausdruck wahrgenommen – nur die Grabsteine auf dem Friedhof hätten sich darin gespiegelt.

»Ich muss morgen früh raus«, sagte Neil.

Alton nickte. »Erinnerst du dich, vorletztes Jahr –?«

Aber Neil hob die Hand, bevor Alton die Frage zu Ende stellen konnte.

»Ich will nicht daran denken«, sagte er. »Vor zwei Jahren hätte Emma kommen sollen.«

»Natürlich. Tut mir Leid.«

»Ist schon in Ordnung. Für die meisten Leute ist das wahrscheinlich schon ziemlich lange her. Ich erwarte nicht, dass alle sich erinnern.«

»Aber ich erinnere mich daran«, sagte Alton. »Und ihre Eltern natürlich auch.«

»O ja, ihre Eltern erinnern sich«, meinte Neil.

Wegen der Dunkelheit konnte Alton jenseits der Friedhofsmauer außer den Straßenlaternen von Withens nur wenig erkennen. Aber er war sicher, dass es nicht Carolines Stimme gewesen war, die er zuvor im Dorf gehört hatte. Vielleicht war es Fran Oxley gewesen, oder auch Lorraine oder eines der anderen Mitglieder der Familie Oxley.

Aber ganz bestimmt war es nicht Caroline gewesen – sie würde nie so lachen oder in der Öffentlichkeit so laut schreien. In diesem Moment würde Caroline am alten Pfarrhaus vorbeigehen. Sie würde tunlichst vermeiden, einen Blick auf Haus und Garten zu werfen, bis sie in ihre Straße einbiegen konnte und vor ihrem Bungalow stand.

Irgendwo in der Dunkelheit, jenseits der Straßenlaternen, lag die Waterloo Terrace, wo die Oxleys wohnten. Alton sah im Geist die acht Cottages aus Backstein vor sich, die sich dicht aneinander gedrängt wie eine Reihe Soldaten – quasi Schulter an Schulter – gegen die größeren Gebäude aus Stein behaupteten, die sie umringten.

Derek Alton und Neil Granger blieben kurz im Vorraum der Kirche stehen und lauschten den Geräuschen, die aus dem Dorf zu ihnen drangen. Das Schreien wurde erst leiser und schwoll kurz darauf wieder an.

»Klingt das für Sie nach einer Ratte?«, fragte Neil.

»Ja, doch.«

Neil nickte. »Na, dann ist es okay.«

Er rieb sich über das Gesicht, während er sich auf dem Plattenweg langsam entfernte. Seine Kleidung raschelte dabei wie das Laub, in dem die Amsel gewühlt hatte. Alton wandte kurz den Kopf Richtung Dorf, und als er sich umdrehte, musste er feststellen, dass Neil bereits in der Dunkelheit zwischen den Eiben verschwunden war.

Später würde Derek Alton eine Menge zu bereuen haben. Es würde ihm Leid tun, dass er Neil Granger nicht hatte weggehen sehen und nicht mit eigenen Augen den exakten Moment mitbekommen hatte, in dem der junge Mann außer Sicht gewesen war. Vielleicht hätte er Neil zurückgerufen und etwas zu ihm gesagt, das seine Meinung geändert hätte. Aber er hatte es nicht getan. Das Geräusch aus dem Dorf hatte Alton zu sehr abgelenkt, und er war zu sehr mit seinen eigenen Sorgen beschäftigt gewesen. Auch dafür würde er sich später schuldig fühlen.

Aber vor allem würde Derek Alton bereuen, sich nicht verabschiedet zu haben.

An diesem Abend waren noch zehn Kadaver zu bergen. Unter Tage waren wahrscheinlich noch mehr verendet oder hockten gefangen in den tiefen Spalten zwischen den steinernen Bögen und dem Berg. Aber Sandy Norton war nicht zufrieden.

»Wir werden noch mehr Gift auslegen müssen«, sagte er. »Die Viecher vermehren sich wie die –«

»Ratten?«

»Ja.«

Norton leuchtete mit der Taschenlampe in die Öffnung des mittleren Portals. Es führte in einen der westwärts ausgerichteten Tunnel der alten Eisenbahnlinie, der heute nicht mehr benutzt wurde und aus dem neunzehnten Jahrhundert stammte. Die Gleise waren lange zerstört und abgetragen, der Tunnel aufgegeben. Dessen gewölbte Wände schimmerten vor Nässe, und zu Nortons Füßen floss ein schmales Rinnsal in einen steinernen Kanal. Knapp hinter dem Lichtkegel seiner Taschenlampe huschten dunkle Schatten über den schmutzigen Boden.

»Wüsste gerne, was die hier zu fressen bekommen«, sagte sein Kollege, Jeff Cade, der sich gerade die Gummihandschuhe auszog und in eine Tasche seines Overalls steckte. »Die sollen doch angeblich auf die Nähe von Menschen angewiesen sein, oder? Alle zwei Meter soll doch irgendwo eine Ratte hocken. Aber hier sind nirgends Häuser in der Nähe.«

Norton lachte. »Das ist für die doch kein Problem. Schau mal da hinauf, wo der alte Bahnhof und die Gleise waren. Siehst du den Parkplatz und das Picknickareal? Das ist so was wie ein Drive-in-McDonald’s für das Viehzeug hier. Die Leute hinterlassen alle möglichen Abfälle im Gras, wenn sie hier gepicknickt haben. Und dann die Sandwichkrümel und Schokoriegel und was sie sonst noch alles aus dem Autofenster werfen. Seit sie die alte Bahnlinie in einen Wanderweg umgewandelt haben, kommen doch Tausende von Leuten hier vorbei, vor allem am Wochenende.«

»Der Longdendale Trail, ich weiß.«

»Und weiter oben ist da noch die Straße – die A628. Hast du schon mal gesehen, was die Lastwagenfahrer für Zeug aus ihren Fahrerkabinen schmeißen? Du kannst da oben nicht am Straßenrand entlanggehen, ohne mit Schweinepasteten und sonstigen Fressalien beworfen zu werden. Richtig ekelhaft. Vor allem bei Sachen mit Tomatensauce. Ich hasse Tomatensauce. Aber das heißt nichts anderes, als dass hier überall entlang der Straße Essensabfälle herumliegen. Ganz zu schweigen von den ›Cafés‹ in den Parkbuchten. Die Abfalleimer dort quellen manchmal über vor Müll.«

»Da hast du auch wieder Recht.«

»Sicher, es wohnen keine Leute in der Nähe. Dafür kommen sie nach Longdendale und füttern hier die Ratten.«

»Zum Glück kommen die Biester nicht an die Kabel im anderen Tunnel ran. Die nagen glatt alles durch, diese Ratten, wenn sie nicht gestört werden.«

»Wir brauchen trotzdem noch mehr Gift«, knurrte Norton.

Einige Meter weiter weg, im alten Osttunnel, verliefen in einer Betonrinne zwei Vierhunderttausend-Volt-Kabel. Bei Dunford Bridge, ungefähr drei Meilen weiter weg, verschwanden die Kabel, die den Abschnitt des National Grid, des nationalen Energieversorgungssystems, zwischen Yorkshire und Manchester mit Strom belieferten, im Tunnel. Bei Woodhead traten sie wieder an die Oberfläche, liefen durch eine Relaisstation und endeten schließlich in einer Reihe gigantischer Masten, die sich wie ein Wald das ganze Tal bis hinunter nach Manchester zogen. Die stillgelegten Eisenbahntunnel von Woodhead hatten die Moore davor bewahrt, dass auch noch diese drei Meilen mit Strommasten überzogen wurden.

Sandy Norton hatte oft die Qualität des Mauerwerks der Tunnelbögen bewundert. Es hatte immerhin mehr als hundertfünfzig Jahre in gutem Zustand überstanden. Die Bauarbeiter, die sich damals mit Spitzhacken und Sprengstoff ihren Weg durch den Berg gebahnt hatten, hätten wohl über den heutigen Zweck des Tunnels sehr gestaunt.

Die Arbeiter hätten sich garantiert auch nicht den neueren, zweispurigen Tunnel vorstellen können, der in den Fünfzigerjahren Richtung Süden erbaut worden war und Teil der ersten elektrifizierten Bahnstrecke des Landes war. Auch dieser Tunnel war jetzt stillgelegt. Abgesehen von der kleinen, batteriebetriebenen Lokomotive, die auf der Wartungsstrecke des National Grid fuhr, waren vor über zwanzig Jahren die letzten Züge im Woodhead-Tunnel verkehrt.

Norton und Cade packten ihre Sachen zusammen und waren gerade am Aufbrechen, als auf der Straße über ihnen ein Wagen langsamer wurde und schließlich zum Stehen kam. Sie hörten, wie die Reifen auf dem nackten Betonboden knirschten, dort, wo früher einmal ein Haus oberhalb der Tunneleinfahrten gestanden hatte. Jetzt konnte man hier anhalten und den Ausblick über das Tal bewundern. Nach einer Weile wurde der Wagen wieder angelassen und fuhr weiter.

»Das war ein alter VW-Käfer«, sagte Norton.

»Woher weißt du das?«

»Das erkenne ich am Motorengeräusch. Es ist unverkennbar. Der Motor ist luftgekühlt, weißt du. Vor Jahren, als ich noch ein junger Spund war, hatte ich auch mal einen Käfer.«

»Sind wir jetzt eigentlich fertig mit den Ratten?«

»Für heute, ja«, erwiderte Norton und schaltete seine Taschenlampe aus. »Eines sage ich dir. Ich würde nur ungern im Dunkeln durch diesen Tunnel gehen müssen.«

Cade schüttelte sich. »Ich auch. Drei Meilen im Dunkeln? Nein danke. Das ist schon ohne Ratten schlimm genug.«

Er drehte sich um und ging zu ihrem Lieferwagen zurück. Aber Norton folgte ihm nicht sofort. Er warf erst noch einen Blick hinauf zu den Quadern am Scheitelpunkt des Tunneleingangs. Es hieß, die Erbauer der alten Tunnel seien sehr abergläubisch gewesen. Sie waren überzeugt, dass der Tunnel, den sie in den Berg getrieben hatten, irgendetwas oder irgendjemanden in seiner Ruhe gestört habe. Und das sei der Grund für die vielen Unglücksfälle gewesen, die ihnen dabei zugestoßen waren. Die Tragödien hatten dem Woodhead-Tunnel den Beinamen »Eisenbahnerfriedhof« eingetragen. Norton hatte auch gehört, dass die Bauarbeiter nach der Fertigstellung der Tunnel über jedem Eingangsportal Gesichter in den Stein geritzt hätten, um die bösen Geister zu bannen. Selbst wenn diese Fratzen noch da oben waren, waren sie sicher so verwittert, dass er sie nicht mehr erkennen konnte.

Sandy Norton zuckte die Schultern. Er verstand nichts von bösen Geistern. Auf jeden Fall hatten die Gesichter nicht viel dazu beigetragen, die Ratten fern zu halten.

Schließlich warf er noch einen prüfenden Blick auf das Stahlgitter, das den mittleren Tunnel vor unerlaubtem Zutritt schützen sollte. Alle drei Tunnel waren mit Gittern verschlossen. Ohne sie würden Eisenbahnfans und andere, noch weniger willkommene Gäste, ständig versuchen, in die Tunnel einzudringen. Manche würden sicher nur die drei Meilen bis zum anderen Ende zurücklegen wollen, als Beweis für ihren Mut. Und dabei würden sie sich von den Ratten nicht abhalten lassen. Auch nicht von dem Risiko, das von den Hochspannungskabeln ausging. Nicht einmal die gelb-schwarzen Warnschilder des National Grid an den Gittern würden sie abschrecken. Die Bedeutung der Schilder – ein schwarzer Blitz, der durch einen menschlichen Körper fuhr – war eindeutig genug. Auch ohne das darunter stehende Wort war die Botschaft klar: »Lebensgefahr«.

Sobald im alten Pfarrhaus das Telefon klingelte, ließ Sarah Renshaw alles liegen und stehen und schaute auf die nächste Uhr. Es war wichtig, die genaue Zeit zu wissen, wenn der Moment gekommen war.

Sie saß im Wohnzimmer, wo die Wanduhr aus Mahagoni gerade fünf Minuten nach zehn anzeigte. Nach einem prüfenden Blick auf ihre Armbanduhr korrigierte Sarah den Minutenzeiger, damit die Zeit übereinstimmte. Es durfte keinerlei Unstimmigkeiten geben. Jede einzelne Zeitangabe war wichtig – die Zeit, als Emma zuletzt gesehen wurde, die Zeit, als ihr Zug Wolverhampton verlassen hatte, die Zeit, zu der sie hätte zu Hause sein sollen. Und von allergrößter Bedeutung würde die Zeit ihres Auffindens sein, auf die Minute genau. Das Zählen der Minuten spendete Sarah Trost. Es war mehr als ein Ritual. Zeit war wichtig.

Howard war ans Telefon gegangen, also wartete Sarah. Auf ihrer großen Eichenanrichte aus der Zeit Jakobs I. stand in der Mitte eine brennende Kerze. Der Docht war schon fast zur Hälfte abgebrannt, und das geschmolzene Wachs sammelte sich in dem Kerzenhalter aus Messing. In einer der Schubladen lag ein Vorrat an weiteren Kerzen. Sarah wollte am liebsten sofort eine neue anzünden, um diesen Augenblick festzuhalten – als ob das etwas ändern würde. Aber sie schob ihre Hände unter die Achseln und beherrschte sich, während sie Howards Stimme im Zimmer nebenan lauschte. Sie würde es seinem Tonfall anhören.

Wieder schaute Sarah auf die Uhr. Sechs Minuten nach zehn. Einen Augenblick lang verspürte sie Panik. Welche Zeit wäre später wichtiger – der exakte Zeitpunkt, als das Telefon geklingelt, oder der Moment, in dem sie die Nachricht erhalten hatte? Welchen Zeitpunkt würde sie in den kommenden Jahren feiern?

»Howard?«, rief sie. »Howard?«

Aber er antwortete nicht, und Sarah beruhigte sich rasch wieder. Howards Stimme drang gedämpft zu ihr herüber. Wäre es bei dem Anruf um Emma gegangen, hätte sie es mittlerweile gewusst. Die Nachricht wäre durch die Wand zu ihr durchgesickert. Sarah hatte oft gedacht, dass der Anruf, wenn er denn käme, sich nicht durch ein normales Klingeln des Telefons ankündigen würde, sondern wie ein Fanfarenstoß klänge. Sie stellte sich eine Reihe livrierter Trompeter vor, denen ähnlich, die bei offiziellen Anlässen zusammen mit der Königin auftraten. In ihren Ohren hallte bereits der Klang der Trompeten wider.

Und ganz sicher würde sich dieser Moment körperlich bemerkbar machen – durch ein Kribbeln und die kleinen Freudenschauer, die sie empfand, wann immer sie Emma in ihrer Nähe wähnte. Wenn der Anruf kam, würde ein Blitz sie durchzucken wie bei einer elektrischen Entladung, so stark wie die vierhunderttausend Volt in den Kabeln, die sechzig Meter unterhalb ihres Hauses durch den Berg liefen.

Sie würde es sofort wissen, wenn der Anruf käme. Sarah würde nicht angestrengt Howards Stimme lauschen oder mit eigenen Ohren hören müssen, was die Person am anderen Ende der Leitung sagte. Die Fanfare würde erklingen, und die Spannung würde sich in ihrem Körper entladen, ihre Hände und Gesichtshaut versengen. Und die Wanduhr aus Mahagoni würde von sich aus in dem Moment stehen bleiben, in dem exakten Bruchteil der Sekunde, und würde niemals mehr weiterticken. Und Sarah würde es wissen.

Howard kam ins Wohnzimmer, das schlagartig von seiner bulligen Gestalt ausgefüllt war. Er trug einen dicken, weißen Arranpullover, der in Sarah den Wunsch weckte, ihre Arme um ihn zu schlingen und ihr Gesicht in der Wolle zu vergraben. Aber Howard schüttelte nur kurz den Kopf und wandte die Augen ab.

Sarah stand neben dem Bücherregal an der Tür. Sie streckte die Hand aus und strich über die Bücherrücken. Ihre Finger betasteten ein gefaltetes, eselsohriges Stück Papier, mit dem eine Seite in dem Band Twentieth-Century-Design markiert worden war. Schnuppernd versuchte sie, den Duft der Bücher einzuatmen, aber der vertraute Geruch nach Papier und Tinte schien heute Abend schwächer als sonst zu sein. Auf dem Umschlag von Subjects and Symbols in Art prangte ein kleiner Fleck. Sarah hatte die Stelle so oft berührt, dass er fast nicht mehr zu sehen war. Sie nahm den Band Art Deco Graphics und eine Monographie über David Hockney heraus und stellte sie umgekehrt wieder ins Regal zurück.

In den meisten Büchern befand sich auf der Titelseite ein handschriftlicher Eintrag von Emma. Nur ihr Name und das jeweilige Datum, aber in ihrer Kontinuität schienen diese kargen Daten eine Art Enzyklopädie über einen bestimmten Abschnitt von Emmas Leben darzustellen.

Alle diese Bücher hatte Emma einmal in der Hand gehalten und in ihnen gelesen. Das bedeutete, dass die Wörter auf ihren Seiten Eingang in ihren Geist gefunden hatten und Teil ihrer selbst geworden waren. Sarah konnte zu einem Buch greifen, das Emma einmal aufgeschlagen hatte, und die Worte lesen, die Emma gelesen hatte.

Sarah Renshaw ertappte sich oft dabei, dass sie die Bücher neu sortierte. Vielleicht konnte sie den Verlauf bestimmter Ereignisse in Emmas Leben ändern, indem sie die Daten in den Büchern verschob. Hätte sie dieses Buch vor jenem gelesen, wäre womöglich alles anders gekommen. Womöglich wäre Emma dann jetzt zu Hause und würde sich darüber beschweren, dass ihre Mum die Ordnung ihrer Bücher durcheinander brachte.

Sarah wischte sich eine Träne aus dem Augenwinkel. Sie konnte sich gerade noch bremsen und senkte ihre Stimme zu einem Flüstern, damit Howard sie nicht hören konnte.

»Ich werde dir helfen, sie dort wieder hinzustellen, wo du sie haben willst, Schatz. Das machen wir zusammen.«

Seufzend wandte Sarah sich von dem Bücherregal ab und nahm einen Kalender, der auf dem Fernsehapparat lag. Mit zwei kurzen, präzisen Strichen aus einem schwarzen Filzschreiber strich sie einen weiteren Tag durch.

Tag Nummer 743. Emma Renshaw wurde seit zwei Jahren vermisst.

Entweder war das Gelächter im Dorf jetzt verstummt, oder die Frau, die diese Töne von sich gegeben hatte, war außer Hörweite. Derek Alton stand im Vorraum seiner Kirche und lauschte dem Motorengeräusch von Neil Grangers Wagen, der sich langsam aus Withens entfernte. Das Knattern folgte zuerst der Straße, die aus dem Dorf hinausführte, und schickte sich an, die Meilen kahlen Moorlandes in Richtung Tal von Longdendale in Angriff zu nehmen.

Schließlich erstarb auch dieses Motorengeräusch hinter dem Hügel. Die Amseln ließen sich in den Eiben nieder, und Altons Atem normalisierte sich wieder. Während sich die Dunkelheit über das Dorf legte, wurde es fast vollkommen still in Withens. Bis auf das Schreien.

Die einsamen Toten

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