Читать книгу Die einsamen Toten - Stephen Booth - Страница 9

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Bei Tageslicht waren Lachmöwen aus den Stauseen im Tal aufgestiegen, um sich über die Verkehrsopfer der vergangenen Nacht herzumachen.

Auf seiner täglichen Fahrt von der Bridge End Farm nach Edendale hatte DC Ben Cooper sich an den Anblick der zerquetschten und blutigen Überreste der Tiere gewöhnt, die in der Dunkelheit von den Fahrzeugen abgeschlachtet worden waren. Tote Füchse und Dachse, Kaninchen und Fasane, Igel und Hermeline übersäten die Fahrbahn und die Seitenstreifen. Manche der Kadaver sahen noch recht frisch aus, bis sie von der wilden Autohorde in den Teer gedrückt wurden. Dann platzte die Haut auf, die Eingeweide wurden auf der Straße verteilt, und es war nicht mehr möglich, zu sagen, welcher Spezies das Tier angehört hatte.

Es war eine harte Lektion für die Tiere. Die Straße war nachts Teil ihres Territoriums und lockte sie in Scharen an, da die geteerte Oberfläche die Hitze des Tages länger speicherte als die sie umgebende Landschaft. In der Morgendämmerung verwandelte sich die Straße jedoch in eine gänzlich andere Welt, beherrscht von vorbeidonnernden Ungetümen und dahinrasenden Autos. Die Schlacht ums Territorium war ein höchst ungleicher Kampf, und das Schicksal der Opfer war unausweichlich und stand von vorneherein fest.

Die Natur fand sich jedoch nie mit einer Niederlage ab. Eine Schlacht mochte sie verlieren, aber nie den Krieg. Die Möwen und die Krähen und Tausende kleinerer Aasfresser sorgten schon dafür, dass die Kadaver nicht nutzlos waren. Coopers Ansicht nach war es nicht das Schlechteste, wenn man die Natur auf seiner Seite und nicht zum Feind hatte.

»Da ist es«, sagte Police Constable Udall. »Da unten liegt Withens.«

Sie reichte Cooper das Fernglas.

»Keine Postkartenidylle, wie?«, meinte er.

Udall zuckte die Schultern. »Das ist eben Withens«, entgegnete sie.

Eine Parkbucht auf einer namenlosen Seitenstraße der A628 hatte sich als ausgezeichneter Aussichtspunkt erwiesen. Laut PC Udall übrigens der einzige Ort, von dem aus man Withens sehen konnte, ohne sich direkt im Dorf zu befinden.

Um halb sieben Uhr morgens war der Verkehr auf der A628 bereits ziemlich stark, und Lastwagen und PKWs reihten sich aneinander. Doch abgesehen von dem Verkehr, schien es entlang der Strecke durch das Tal von Longdendale meilenweit keine Anzeichen von menschlichem Leben zu geben. In der Nähe der Stelle, wo sie abgebogen waren, hatte sich linker Hand oben auf dem Berg eine Haltebucht mit einer orangeroten Notrufsäule für gestrandete Autofahrer befunden. Aber damit hatte es sich auch schon mit der Zivilisation. Und damit man auch genau wusste, woran man war, stand neben der Straße noch ein Schild, das besagte: »Schafe auf sieben Meilen.«

Richtung Norden, oberhalb von Withens, konnte Cooper einen der steinernen Luftschächte der alten Eisenbahntunnel erkennen, der auf einer Anhöhe zwischen den Talmulden stand. Rings um den Schacht schien das Withens Moor stark an Erosion zu leiden. Blanker Fels trat an den Stellen hervor, auf denen die letzte Schicht Torf abgetragen worden war. Eis und Regen würden das Gestein noch weiter lockern, so dass es schließlich ins Rutschen kommen und auf die Häuser unten im Tal stürzen oder die Straße verschütten würde, so wie es in Castleton geschehen war.

»Aber Sie haben Recht, es ist nicht sehr idyllisch«, fügte Udall hinzu. »Sicher nicht sonderlich geeignet für Fremdenverkehrsbroschüren. Es scheint hier nicht einmal Farben zu geben.«

Cooper seufzte. Zu Hause auf der Bridge End Farm, im hellen Kalksteinland des White Peak, standen die atemberaubend gelben Stechginsterbüsche bereits in voller Blüte. Viele Wiesen waren übersät mit weißen Gänseblümchen oder goldenem Löwenzahn, und die trichterförmigen Blätter des wilden Knoblauchs, unter denen blassblau die Blütensterne der Vergissmeinnicht hervorspitzten, überwucherten die Seitenbankette der Straßen.

Das warme, feuchte Wetter zu Beginn des Frühjahrs hatte zu explosionsartigem Pflanzenwachstum und hektischer Betriebsamkeit in der Tierwelt geführt. Die Landschaft änderte jeden Tag ihr Aussehen. Die Schwalben bauten ihre Nester, der erste Kuckuck schrie. Und genau um diese Zeit breiteten sich Scharen von Sternhyazinthen in den dicht belaubten Wäldern des Eden Valley aus. Die Hyazinthen hatten es eilig. Sie mussten blühen und ihren Samen verstreuen, ehe das Dach der Baumkronen den Waldboden überschattete. Jedes Jahr aufs Neue ein Wettlauf mit der Zeit um Vermehrung und Überleben. Bei diesem Wetter änderte sich auch die Farbe der Blumen – blau, wenn der Himmel bedeckt war, und blasslila, wenn die Sonne schien.

Aber hier war Withens. Die einzigen sichtbaren Farbtupfer stammten von den roten Propangasflaschen, die hier und da an den Hausmauern lehnten. Nicht einmal eine Gasleitung schien es hier zu geben. Wahrscheinlich war das Dorf auch als eines der Letzten an die Stromversorgung angeschlossen worden. Und das, obwohl die Hochspannungskabel des National Grid durch den Berg verliefen. Von Solarenergie ganz zu schweigen – in Withens ohnehin ein mehr als geschmackloser Witz. So wie es aussah, ging die Sonne über einem Hang im Südosten auf und verschwand hinter einem anderen im Südwesten, ohne Withens auch nur gestreift zu haben. Kein Wunder, dass die Gärten, auf die Cooper durch die Bäume einen flüchtigen Blick erhaschen konnte, noch an Farbe zu wünschen übrig ließen.

»Und, wie ist die Situation hier?«, fragte Cooper.

»Dieselben Probleme wie überall. Immer wieder kommt es zu Einbrüchen und Vandalismus. Vor allem in den etwas abseits gelegenen Häusern, die nicht so leicht einzusehen sind. Gleich hinter dem Dorf liegt eines, das ist ein besonders beliebtes Ziel. Auch die Kirche. Leider.«

»Stimmt. Sie sagten ja, dass der Pfarrer einen Einbruch gemeldet hat.«

Cooper konnte über die Bäume hinweg den Kirchturm sehen. Er schien etwas abseits vom Dorf, näher zum Fluss hin, zu stehen, ein gedrungener, rechteckiger Turm im normannischen Stil, nur nicht so alt. In Derbyshire gab es echte, aus der Zeit der Sachsen und Normannen stammende Türme, aber der hier gehörte nicht dazu. Cooper schätzte ihn auf Mitte des neunzehnten Jahrhunderts.

Cooper wandte seine Aufmerksamkeit wieder dem Dorf zu.

»Sie sagten, nur manche der Häuser sind Ziel der Einbrüche. Andere offensichtlich nicht. Ist da ein Muster zu erkennen?«

Udall zögerte. »Durchaus möglich.«

»Was soll das heißen?«

»Im Dorf gibt es eine Problemfamilie namens Oxley. Der Alte ist so ein Typ, von dem man nicht genau weiß, mit welchen dubiosen Geschäften er seinen Lebensunterhalt verdient. Die Familie ist weit verzweigt, mit einem Haufen Kinder, von denen uns die meisten bekannt sind – und dem Sozialamt noch besser. Einer der kleinen Racker ist wegen asozialen Verhaltens von der Grundschule geflogen. Vielleicht haben Sie sogar was in der Zeitung über ihn gelesen. Sie konnten ihn natürlich nicht identifizieren, aber seitdem heißt er nur noch der ›kleine Teufel‹.«

»Da klingelt was bei mir«, sagte Cooper.

»Ich zeige es Ihnen, wenn wir ins Dorf kommen«, erwiderte Udall. »Das scheint mir am sinnvollsten.«

Dieser Teil der Grafschaft war von Derbyshire aus nur schwer zugänglich. Er war viel leichter von Sheffield auf der Yorkshire-Seite her zu erreichen, oder selbst von Hyde aus, das Richtung Manchester lag. Aber in den Siebzigerjahren war in einem Büro in London festgelegt worden, dass dieser Teil nun mal zu Derbyshire gehören sollte, und so war es auch. Der Unterschied, in welcher Grafschaft man lebte, konnte mehrere Tausend Pfund an Wert der eigenen Immobilie betragen.

Cooper warf erneut einen Blick auf das Dorf hinunter. Er hatte das Gefühl, irgendetwas da unten noch nicht richtig beachtet zu haben. Gleich unterhalb der Brücke, in der Nähe der Kirche, weitete sich der Fluss zu einem Teich, gesäumt von ein paar noch kahlen Weiden, die später im Sommer für einen kleinen grünen Farbtupfer sorgen würden. Hier war das Flussufer voller Nesseln und Weideröschen. Aber irgendetwas war seltsam an diesem Teich.

Cooper richtete PC Udalls Fernglas auf das Wasser. Das heißt, von dem Wasser sah er kaum etwas, denn der Teich war zur Hälfte mit großen, flachen Gegenständen gefüllt. Es schien sich um rechteckige Holzbretter in verschiedenen Größen zu handeln, die auf der Oberfläche trieben, aber an Bäumen am Ufer festgebunden waren. Cooper konnte hin und wieder ein Stück blaues Nylonseil erkennen, das aus dem Wasser ragte oder darin verschwand. Die Bretter sahen aus, als lägen sie schon eine Weile dort. Sie waren mit Entengrütze überzogen, und grüner Schimmel wuchs in unregelmäßigen Flecken auf den Planken. Cooper konnte nicht erkennen, welchem Zweck die Bretter dienten. Sie sahen auch nicht nach Speermüll aus, dessen man sich illegal entledigt hatte.

»Das ist aber merkwürdig«, sagte er.

Aber Udall zuckte nur die Schultern. »Tja, das ist eben Withens«, erklärte sie.

Das erste Gebäude, das sich ihnen am Straßenrand in Withens präsentierte, war bereits seit langem eine Ruine. Die Mauern waren eingestürzt und die Balken verkohlt, als hätte es hier vor langer Zeit heftig gebrannt. Vielleicht mehrmals sogar. Jetzt wuchs Gras auf den Steinen. Nicht einmal mehr zu einem Ferienhaus würde es taugen. Neben der Ruine lag eine umgestürzte Eiche, dick mit Moos bewachsen, das die tote Rinde wie ein blassgrünes Leichentuch umhüllte. An der Stelle, wo der Hauptast des Baumes auf den Boden gefallen war, löste sich das verrottende Holz langsam im Erdreich auf.

Daneben stand ein ausgebrannter Wagen, ungefähr von der Größe eines Ford Fiesta, auf dem Rasensaum. Die Reifen fehlten, die Scheiben waren eingeschlagen und die Farbe bis auf das Metall verschmort. Aber die Entsorgung von Autowracks war das Problem des Gemeinderats.

Das Dorf selbst bestand aus ein paar verstreut liegenden Steinhäusern, einem Pub, einer Kirche, einer Telefonzelle und ein paar heruntergekommenen Bauernhöfen. Die Höfe der Farmen öffneten sich noch direkt auf die Hauptstraße, so wie es früher in den meisten Dörfern des Peak District der Fall gewesen war, bis die Nachfrage nach Wohnraum die Grundstückspreise in die Höhe getrieben hatte. Die Farmer hatten die Dörfer verlassen, die um ihren Hof herum gewachsen waren. Die alten Gehöfte und Meiereien waren abgerissen und durch komfortable Wohnhäuser in attraktiver ländlicher Umgebung ersetzt worden.

In Withens war nichts dergleichen geschehen. Vielleicht war keinem das Dorf attraktiv genug erschienen. Wenn die Höfe hier dichtmachten – was ihrem Zustand nach zu schließen mehr als wahrscheinlich war –, würden die Scheunen und Meiereien noch Jahrzehnte vor sich hin rotten, ehe die Nachfrage nach neuem Wohnraum auch Withens erreichte. Zum gegenwärtigen Zeitpunkt bedeutete der Fortbestand der Farmen nur, dass die Hauptstraße dick mit Schlamm bedeckt war, der von Traktorenreifen herabgefallen und unter den Hufen darüber trampelnder Rinder festgetreten worden war.

Die Luftschächte auf dem gegenüberliegenden Berg sahen aus der Ferne aus wie die aus dem Zweiten Weltkrieg bekannten Geschützstände, die so genannten »pill boxes«. Niedrig und rund sollten sie allen Angriffen standhalten. Hier wohl eher allen meteorologischen Widrigkeiten, die Jahrhunderte von Dark-Peak-Wintern für sie bereithalten mochten, als dem Beschuss der deutschen Marine.

Gleich hinter dem Dorfpub namens The Quiet Sheperd hatte man einen Parkplatz und eine Picknickecke angelegt. An der Einfahrt zum Parkplatz befand sich eine Bushaltestelle. Als Cooper seinen Toyota neben Udalls Streifenwagen, einen Vauxhall Astra, stellte, bog von der Straße ein kleiner, rot-weißblauer Bus der Verkehrsbetriebe von Yorkshire ein. An der Längsseite des Busses ließ eine lokale Anwaltskanzlei Reklame für sich fahren. Nachdem der Bus eine Runde auf dem Parkplatz gedreht hatte, fuhr er wieder hinaus. Er hatte keine Fahrgäste an Bord, und an der Haltestelle warteten auch keine.

»Im Moment hängen hier keine verwahrlosten Kids herum«, meinte Cooper.

»Machen Sie Witze?«, sagte Udall. »An einem Samstag? Es ist doch noch viel zu früh. Kommen Sie am Abend wieder, dann sieht es anders aus.«

»Sie haben selbst zwei Kinder, Tracy, richtig?«

»Einen Jungen und ein Mädchen. Aber die haben sich abends gefälligst daheim in ihrem Zimmer aufzuhalten, bei ihrer Play-Station, statt sich auf der Straße herumzutreiben.«

»Oder sie sollten Schularbeiten machen.«

»Na ja … bis zum Nobelpreis müssen sie es nicht unbedingt bringen.«

In dem Moment bemerkte Cooper etwas, das er hier nicht erwartet hatte. Von der Dorfmitte aus, in Richtung Nordosten, war ein Windenergiepark zu sehen. Drei Reihen schlanker, weißer Turbinen erhoben sich auf einem frei stehenden Gipfel, wo sie am besten den Wind der Pennines einfangen konnten. Die langen Tragflächen drehten sich langsam im Wind, und die Schneiden glänzten, wenn die Sonne durch eine Lücke in den Wolken brach. Die Windräder sahen aus wie die Vorhut einer Armee des einundzwanzigsten Jahrhunderts, die über die Berge auf Withens zumarschiert kam.

Philip Granger schlängelte sich mit dem Motorrad zwischen den Fahrzeugreihen hindurch, die auf der A628 in Tintwistle langsam vorwärts krochen. Die Kolonne staute sich bis zur Abzweigung nach Hadfield zurück, und allmählich breitete sich Frust unter den Fahrern aus. Drei lange, schwarze Limousinen, die zur Hälfte auf dem Gehweg vor der Kirche geparkt waren und auf eine Hochzeitsgesellschaft zu warten schienen, blockierten die Straße noch zusätzlich.

Weiter vorne in Richtung Autobahn würde es noch schlimmer zugehen. Lastwagen würden die Ampeln an der A57 verstopfen, und durch Hollingworth und Mottram würde der Verkehr ganz zum Erliegen kommen. So war es immer. Und so würde es immer sein, bis jemand endlich eine Umgehungsstraße baute. Neils Rede seit ewigen Zeiten.

Philip entdeckte eine Lücke zwischen zwei Wagen, gerade breit genug, dass er hinauf auf den Bordstein kam und mit dem Motorrad auf dem Bürgersteig bis vor das Haus seines Bruders fahren konnte. Er ließ den Motor kurz aufheulen, ehe er ihn ausschaltete, den Ständer herausklappte und die Maschine an die Backsteinmauer lehnte. Die alte Triumph war liebevoll wieder hergerichtet worden, wenn auch nicht von ihm, und ihr Motor gab ein sattes, tiefes Dröhnen von sich. Leute, die ihn kannten, zweifelten nicht daran, dass Philip es zu was gebracht hatte.

Er warf einen Blick zurück auf die Autofahrer, die immer noch auf der Straße festsaßen. Er ließ sich Zeit, den Helm abzunehmen, den er in einer Plastikbox über dem Hinterrad der Maschine sicher verstaute, ehe er eine Kette durch die Speichen des Vorderrads zog. In der Gegend konnte man nicht vorsichtig genug sein.

Normalerweise hätte Neil das Geräusch der Triumph schon lange gehört und für seinen älteren Bruder die Vordertür entriegelt, damit er ins Haus konnte. Aber als Philip den kurzen Weg zurückgelegt hatte, musste er feststellen, dass die Tür noch verschlossen war. Er betätigte ein paarmal den Türklopfer, erhielt aber keine Antwort. Er klopfte erneut, wartete eine Minute und lief den Weg zurück, um zum Schlafzimmerfenster zu gehen, dessen Vorhänge noch zugezogen waren.

Philip warf einen raschen Blick auf die Fenster der Häuser rechts und links. Die Nachbarin zur Rechten beobachtete ihn hinter ihren Vorhängen. Sie mochte weder ihn noch sein Motorrad. Aber laut Neil mochte sie niemanden besonders gern. Autos und Autofahrer hasste sie sogar noch mehr als Motorradfahrer.

Philip winkte der Frau zu, deutete auf das Schlafzimmer seines Bruders, zuckte die Schultern und grinste. Ohne zu lächeln, erwiderte sie starr seinen Blick.

Er kramte in den Taschen seiner Lederkluft nach den Schlüsseln. Neil hatte ihm einen Hausschlüssel gegeben, als er ihm beim Umzug von Withens nach Tintwistle geholfen hatte. Die Haustür ließ sich mit dem Yaleschlüssel sofort öffnen, was hieß, dass sie nicht von innen verriegelt gewesen war. Philip konnte sich nicht erinnern, ob Neil den Riegel vorschob, wenn er zu Hause war.

In der Diele stehend, die Haustür noch geöffnet, rief Philip die Treppe hinauf.

»Neil! Ich bin’s!«

Er wartete einen Moment.

»Neil! Bist du wach?«

Keine Antwort. Philip polterte mit seinen klobigen Motorradstiefeln die Treppe hinauf. Die Wände in dieser Häuserreihe waren nicht sonderlich dick, und die Frau nebenan wartete bestimmt schon draußen, um sich über den Krach zu beschweren. Aber das war ihm egal.

Er sah auf den ersten Blick, dass das Schlafzimmer leer war, obwohl jemand das Bett benutzt hatte. Er schaute auch in die anderen Zimmer und kehrte nach unten zurück, wo er sicherheitshalber ebenfalls alle Türen öffnete und wieder schloss. Zuletzt ging er in den kleinen Garten hinaus und sah auch noch auf dem Grundstück hinter den Häusern nach, wo normalerweise Neils Wagen stand. Der VW war nicht da.

Philip warf einen Blick auf das Haus nebenan und bemerkte, dass die Nachbarin ihn immer noch beobachtete. Er beschloss, zu klopfen und sie zu fragen, ob sie wisse, wo Neil sei. Aber als Antwort erhielt er nur ein stummes Kopfschütteln hinter vorgelegter Sicherheitskette.

Langsam kehrte er in Neils Haus zurück und blieb einen Moment im Wohnzimmer stehen, um sich ein letztes Mal umzusehen. Alles schien in Ordnung zu sein. Soweit er es beurteilen konnte, war alles an seinem Platz. Philip nahm ein Messingkästchen vom Kaminsims und besah sich das in den Deckel gehämmerte Muster, ehe er es einige Zentimeter weiter links wieder zurückstellte. Den Kopf geneigt, betrachtete er zufrieden sein Werk.

Dann verschloss Philip die Haustür seines Bruders und holte sein Handy aus der Innentasche. Er wählte Neils Nummer, aber es meldete sich niemand. Der Zweite, den er anrief, war Reverend Derek Alton.

In der St.-Asaph-Kirche wurden wenige Minuten später Derek Altons Augen magnetisch vom Mosaik des Ostfensters und der Ansicht von St. Asaph angezogen, dieses obskuren keltischen Heiligen, dem die Kirche geweiht war. Der Heilige war dargestellt, wie er glühende Kohlen in seinem Mantel trug, ohne dass er selbst oder seine Kleidung in Flammen aufgingen. Für diejenigen, die über diesbezügliche Fragen entschieden, offenbar Beweis genug für seine Heiligkeit. Und mehr war über seine Lebensgeschichte und sein Martyrium auch nicht bekannt.

Das Fenster war aus Hunderten winziger Glasstücke zusammengesetzt. Manche waren grün wie frisches Gras, andere blau wie der Himmel oder rot wie Feuer. Frühmorgens erstrahlten sie im Schein der Sonne, die von Osten darauffiel. Derek Alton bemerkte, dass der untere Teil von St. Asaph dunkler als der Rest der Figur war. Unterhalb der rot glühenden Kohlen in einer Falte seines Mantels fiel kein Licht durch das Glas. Der Heilige sah aus, als sei er in der Taille durchgeschnitten. Alton wusste, dass das an dem Kletterefeu lag, der an der Ostwand emporwuchs und sich bereits über die Fenster ausbreitete. Die Frühjahrstriebe stachen in grellem Grün von der Mauer ab, und die gierigen Ranken suchten sich Halt an den Umrandungen aus Blei, welche die bunten Glasstücke zusammenhielten.

Wenn er genauer hinsah, konnte Alton auf dem Unterleib des Heiligen deutlich die dreieckigen Formen der jungen Efeutriebe erkennen. Wie kleine, grüne Zungen leckten sie am Gewand von St. Asaph. Jeden Tag wuchsen sie ein Stück mehr, rankten sich der Sonne entgegen und fraßen langsam das Bild auf. Die Beine des Heiligen waren bereits von der erbarmungslosen Kraft der Natur verschlungen.

Wenn dem Wachstum des Efeus kein Einhalt geboten wurde, würde das Blei zerbröckeln und das Glas auseinander fallen. Eines Tages würde das gesamte Fenster mit lautem Getöse herunterkrachen und der heilige St. Asaph auf dem Boden des Ostgangs landen.

»Na, ist Ihnen langweilig, Herr Pfarrer?«

Alton spürte, wie unter seinem Kragen eine verlegene Röte emporkroch. Ein hoch gewachsener junger Mann stand im Gang neben der Westtür. Er trug Jeans und einen blauen Pullover, und sein blondes Haar war frisch geschnitten und mit Gel in Form gebracht.

»Oh, du bist es, Scott.«

»Ja, Gott sei Dank bin ich es, wie? Zum Glück bin ich nicht der verfickte Bischof. Der würde Ihnen die Kutte runterreißen und Ihr Halsband dem Hund zurückgeben, noch ehe Sie ein Ave-Maria brabbeln können.«

»Ave Maria«, sagte Alton.

»Genau.«

Alton beobachtete, wie Scott Oxley durch den schmalen Gang auf ihn zukam, dabei seine Hand schwer auf jede Bankreihe fallen ließ und über die geschnitzten Enden strich.

»Wolltest du was von mir, Scott?«

»Nein.«

Scott sah sich lächelnd in der Kirche um und ließ ihn zappeln.

»Haben Sie heute schon was von Neil gehört, Herr Pfarrer?«, fragte er schließlich.

»Nein, habe ich nicht. Dabei wollte er mir heute bei der Arbeit auf dem Friedhof helfen.«

»Der gute alte Neil.«

Scott trat an die Kanzel aus Eiche und strich das Tuch glatt, das darüber gebreitet war. Alton wäre es lieber gewesen, er hätte nichts angerührt, beherrschte sich aber.

»Ich habe Philip angerufen, und er hat bei Neil vorbeigeschaut, aber der war nicht zu Hause. Weißt du, wo Neil ist, Scott?«

»Keine Ahnung.«

Scott ging den Kirchengang zurück. Wieder ließ er dabei seine Hand schwer auf jede Bankreihe fallen. Alton hörte, wie er in die Vorhalle trat. Er konnte erst sicher sein, dass der junge Mann gegangen war, wenn die massive Eichentür mit einem ohrenbetäubend lauten Knall ins Schloss gefallen war.

Ein dumpfer Schlag erschütterte die Kirche, als Scott Oxley die Tür zuknallte. Staub wirbelte von den Fenstersimsen auf. Aber das Glasbild des heiligen St. Asaph hielt stand. Es war noch nicht so weit. Noch nicht.

Die einsamen Toten

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