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Kapitel 2 – Sally von Raken

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Sally saß im Wohnzimmer ihrer Villa in Hamburg Blankenese. Es war schon spät, eigentlich wollte sie zeitig im Bett liegen, aber im Fernsehen lief noch ein interessanter Bericht über Kinderschänder und über die Kinderpornografie. Nicht zu glauben, wie viele Straftaten es im Zusammenhang mit Kindern gab, und völlig unfassbar waren die Strafen, die für diese Taten verhängt wurden. Was Sally einfach nicht begreifen konnte: Wieso griff die Justiz in diesen Fällen nicht resoluter durch?

Nicht nur in Deutschland gab es Gesetzeslücken, auch in den angrenzenden Ländern wie den Niederlanden, Frankreich oder Belgien. Überall waren diese schreckliche Kinderpornografie und der sexuelle Missbrauch verbreitet. Wenn man die Berichte genau verfolgte, stellte sich heraus, dass sich keineswegs nur sozial Schwache oder Alkoholiker an Kindern vergriffen. In allen Gesellschaftsschichten gab es Pädophile, selbst Diener der Kirchen machen keinen Halt vor dem Missbrauch an Kindern! Sally selbst hatte im Alter von zehn Jahren ein schreckliches Erlebnis gehabt, als ein Freund der Familie sich brutal an ihr verging.

Bis heute hatte sie mit niemandem darüber gesprochen.

Diese Täter verstanden es oft, ihren Opfern solche Angst einzujagen, dass diese sich selten, viel zu spät oder überhaupt nie einem Menschen anvertrauen.

Auch Sally hatte versucht, das Ganze zu verdrängen. In jungen Jahren war ihr das auch einigermaßen gelungen. Seit sie jedoch wieder in Deutschland lebte, kam dieses Erlebnis ständig in ihr hoch.

Den Mann zur Verantwortung ziehen konnte sie nicht mehr, er war vor achtzehn Jahren bei einem Verkehrsunfall gestorben. Trotzdem hatte sie immer wieder Schwierigkeiten, mit diesem Vorfall zurechtzukommen. Es schien unmöglich, ihn wirklich zu verarbeiten.

Ihr war durchaus bewusst, dass sie aus diesem Grund nicht in der Lage war, eine vernünftige Beziehung zu führen.

Sie wusste genau, was diese armen Kinder mitmachen mussten und wie kaputt ihre kleinen Seelen waren. Wenn die brutalen Täter dann nicht einmal hart bestraft wurden, war es für die Opfer noch schwieriger, ein normales Leben zu führen. Auch Sally hatte damals immer mit der Angst gelebt, dass dieser Mann ihren Eltern etwas antun würde, sobald sie etwas verraten hätte. Seit Langem machte sie sich Gedanken darüber, wie man diesen Opfern gerecht werden könnte. Nun schien die Zeit reif dafür. Durch die ganzen Berichte über den sexuellen Missbrauch an Kindern, die sich in letzter Zeit so beängstigend häuften, fühlte sich Sally einfach dazu berufen, endlich einzugreifen. Sie besaß die finanziellen Mittel. Und sie wusste inzwischen auch einen Weg, ihren ganz speziellen Weg, diese Täter zu bestrafen.

Sally trank ihr Bier aus. Corona, mexikanisches Bier, sie liebte den Geschmack. Maria, ihre Haushälterin, stammte aus Mexiko. Durch sie kannte Sally dieses Bier. Sie wusste, dass sie zu viel Alkohol trank, redete sich aber stets sehr erfolgreich ein, dass sie noch nicht abhängig war. Schließlich gab es Tage, an denen sie keinen Tropfen trank. Wenige, aber es gab sie. Maria kam ins Wohnzimmer, ihr langes schwarzes Haar hing ihr in einem dicken Zopf über den Rücken und reichte bis zum Po. Sie lächelte mütterlich. „Kann ich noch etwas für dich tun, Sally?“ „Danke, Maria, setz dich doch bitte ein bisschen zu mir!“ Maria setzte sich und nahm Sally fest in die Arme.

Sie war nicht nur Haushälterin, sondern auch Freundin und Ersatzmutter.

Sally lebte jetzt seit vier Jahren wieder in Deutschland. Ihr Vater hatte zwei große Firmen in den Staaten, von Raken Electronics und von Raken Klinikausstattung GmbH. Die Firmen der Familie von Raken in Deutschland hatte er verkauft.

Sallys Mutter starb vor zwanzig Jahren an Lungenkrebs, mit Mitte vierzig viel zu früh. Janin von Raken war eine liebevolle Frau mit einem ausgeprägten Sinn für Gerechtigkeit gewesen. Sie hatte es einfach nicht verdient, so früh zu sterben.

Nach dem Tod seiner Frau war Sallys Vater ganz in den Staaten geblieben. Vorher hatten ihre Eltern immer einige Zeit in Deutschland und einige Zeit in Amerika gelebt.

Die Familie von Raken war eine alteingesessene, gesellschaftlich anerkannte und sehr wohlhabende Familie in Deutschland. Ernst von Raken wagte in jungen Jahren den Schritt in die USA, dort erzielte er große Erfolge mit seinen Unternehmen. Ihr Vater hatte sehr unter dem Tod seiner Frau gelitten. Die beiden waren seit dem fünfzehnten Lebensjahr der Mutter zusammen gewesen und hatten sich vom ersten bis zum letzten Tag sehr geliebt. In Sallys Augen die perfekte Liebe, die mit einer so grausamen Krankheit enden musste. Sally blieb nach dem Tod der Mutter noch zwei Jahre in Deutschland und folgte ihrem Vater dann nach Amerika. Vierzehn Jahre lebte und arbeitete sie in Amerika in den Firmen ihres Vaters, kam aber zwischenzeitlich immer wieder für längere Zeit nach Deutschland, bis sie sich entschloss, ihr Leben wieder ganz hier zu verbringen. Dieser Entschluss hatte mit einem schlimmen Vorfall in den USA zu tun. Dem zweiten schrecklichen Erlebnis in ihrem Leben.

Eines Abends, an dem sie länger in der Firma ihres Vaters gearbeitet hatte, ging sie zu ihrem Auto in die Tiefgarage. Hier hatten nur Beschäftigte der Firma Zugang. Der Mann, der sie überfallen hatte, gehörte auch zu den Mitarbeitern ihres Vaters. Er drängte sie auf den Boden, riss ihr die Kleider vom Leib und wollte sie vergewaltigen. Glücklicherweise kam ein weiterer Mitarbeiter dazu und konnte Sally helfen, bevor es zum Äußersten kam. Der Mann, der sie überfallen hatte, bekam eine Bewährungsstrafe, da es sich eben nur um eine ‚versuchte Vergewaltigung‘ handelte und er bis zu diesem Zeitpunkt nie auffällig gewesen war. So erhielt er auch keine polizeilichen Einträge. Sally war zu dieser Zeit völlig am Boden zerstört und nur mit viel Liebe schaffte es ihr Vater, sie wieder zum Leben zu motivieren. Der Mann, der ihr das angetan hatte, wurde einen Monat nach der Verhandlung von einigen Unbekannten zusammengeschlagen und so schwer verletzt, dass er starb. Die Täter wurden nie gefasst.

Weil Sally damals zufällig ein Telefongespräch belauscht hatte, wusste sie, dass ihr Vater die Männer dafür bezahlt hatte, diesen Kerl totzuschlagen.

Seitdem lebte sie in einem Gewissenskonflikt. Zwar konnte sie ihren Vater verstehen und war ihm auch sehr dankbar (sie hätte sonst vielleicht fortlaufend Angst vor diesem Mann gehabt), andererseits war ihr Vater oder eigentlich sogar sie selbst für den Tod eines Menschen verantwortlich.

Sie konnte mit diesem Vorfall sehr schlecht umgehen, hatte sich aber niemandem anvertraut. Zu groß war die Angst, man könnte ihrem Vater etwas nachweisen, wofür er noch bestraft werden könnte.

Die Villa, in der sie hier in Deutschland lebte, war schon lange im Besitz der Raken Familie. Auch als Sally in Amerika lebte, hüteten die Haushälterin Maria und ihr Mann Pablo das Haus. Es war also überhaupt kein Problem für Sally, wieder hier in Deutschland zu leben.

Sie hatte den Dezember in Amerika verbracht, weil ihr Vater in diesem Monat seinen siebzigsten Geburtstag gefeiert und wieder geheiratet hatte. Ernst von Raken war für sein Alter noch ein attraktiver, sportlicher Mann, Sally war mit der Hochzeit völlig einverstanden gewesen. Sie kannte die Frau, sie war schon lange die Sekretärin ihres Vaters gewesen und auch schon sechzig Jahre alt. Schön, dass ihr Vater die letzte Zeit seines Lebens doch noch glücklich war. Er hatte es wirklich verdient. Sally war finanziell unabhängig, ihr Vater war vielfacher Millionär und Sally hatte Zugriff auf alle Konten.

Ernst von Raken besaß volles Vertrauen zu seiner Tochter, außerdem würde sie sowieso alles erben. Sie hatte keine Geschwister und ihr Vater sprach vor der Hochzeit noch mit Sally über das Erbe. Er würde dafür sorgen, dass seine jetzige Frau finanziell abgesichert war, aber das gesamte Vermögen einschließlich der Firmen, circa achtzig Millionen, würde Sally erben. Sie hätte also in den Tag hineinleben und das Geld mit vollen Händen ausgeben können. Nur, so ein Typ war Sally nicht. Sicher, sie gab Geld aus, aber sie warf es nicht aus dem Fenster.

Seit zwei Wochen war sie nun wieder in Deutschland. Der Januar hier zeigte sich nasskalt, in Florida war es bedeutend wärmer, aber dieses Wetter gehörte eben zu Deutschland.

Außerdem hatte sie Maria und Pablo, diese beiden liebevollen Menschen, auch vermisst.

Vor vierzig Jahren waren Maria und Pablo, damals fünfzehn und zwanzig Jahre alt, illegal nach Deutschland gekommen.

Sie hatten in Mexiko große Schwierigkeiten gehabt. In Deutschland lebten sie auf der Straße.

Als Janin von Raken die beiden durch Zufall unter einer Brücke fand, hatte Maria gerade eine Fehlgeburt und drohte zu verbluten. Sie war in Mexiko von Soldaten vergewaltigt worden. Sallys Mutter nahm die beiden mit und kümmerte sich um die ärztliche Versorgung. Durch den erheblichen Einfluss, den die Familie ihres Mannes in Deutschland hatte, setzte sie es durch, dass die beiden eine Aufenthaltsgenehmigung und eine Arbeitsgenehmigung bekamen. Von nun an kümmerte sie sich um die beiden und förderte sie in allen Angelegenheiten.

Maria und Pablo Zaches heirateten später und blieben ein für alle Mal bei der Familie Raken, durch tiefe Dankbarkeit verbunden.

Da Maria nach der Fehlgeburt keine eigenen Kinder mehr bekommen konnte, war Sally für sie wie ein eigenes Kind. Pablo und Maria liebten das Mädchen über alles. Sie fühlten sich nie wie Bedienstete, sie wurden immer wie Familienmitglieder behandelt. Einige Male im Jahr konnten sie auch nach Mexiko fliegen. Sie hatten dort immer noch Freunde. Die Familie Raken hatte diese Reisen finanziert, denn sie waren Menschen, die sie als wertvoll erkannt hatten, gegenüber sehr großzügig.

In der Villa gab es eine kleine Einliegerwohnung mit einer Verbindungstür zum Herrenhaus, hier hatten sich Maria und Pablo ein gemütliches kleines Reich geschaffen. Die beiden waren ein goldiges Paar, sie klein, etwas pummelig und sehr sensibel, Pablo nur einen Kopf größer, allerdings sehr drahtig und für sein Alter auch ungewöhnlich fit. Er machte regelmäßig Sport und hielt seinen Körper damit in Form. Nur seine Haare hatte er schnell verloren, aber er war ein Mann, dem die Glatze wirklich stand.

Nun saß Maria mit Sally im Arm auf dem Sofa. „Geht es dir nicht gut?“ Besorgt nahm sie das Gesicht der jungen Frau zwischen ihre Hände.

„Doch Maria“, lächelte Sally. „Mach dir keine Sorgen, es geht mir gut. Wenn ich hier in Deutschland bin, dann vermisse ich meinen Vater, wenn ich in Amerika bin, vermisse ich euch…

Ich habe eben einen Bericht im Fernsehen verfolgt, über die brutalen Kinderschänder. Es ist schlimm, was die Opfer durchmachen müssen, meistens leiden sie ihr ganzes restliches Leben. Die Täter dagegen kommen in vielen Fällen schnell wieder frei, sie können ein unbeschwertes Leben führen, das ist einfach nicht fair.“

Schon einige Male war sie kurz davor gewesen, Maria von den schlimmen Erlebnissen aus ihrem Leben zu erzählen, denn zu ihr hatte sie grenzenloses Vertrauen. Aber sie konnte einfach nicht darüber reden, wie ein Kloß im Hals, wie ein Stein auf ihrem Herzen lagen die Ereignisse fest. Wenn sie es doch schaffen könnte, sich alles von der Seele zu reden! Dann könnte sie ihr Alkoholproblem wohl auch besiegen, obwohl sie meinte, es im Moment ganz gut im Griff zu haben.

„Ach, Sally, es gibt sehr viel Ungerechtigkeit im Leben! Du weißt ja, was Pablo und ich alles mitgemacht haben. Wenn es deine Mutter damals nicht gegeben hätte, wäre ich wahrscheinlich nicht mehr am Leben. Sie ist viel zu früh gestorben.“

„Ich bin so froh, dass es euch gibt!“ Sally drückte Maria und gab ihr einen Kuss auf die Wange. „Ich werde dieses Bier noch trinken und dann ins Bett gehen. Morgen Abend will ich mit Lola in die Diskothek ‚Nobel‘. Ich muss einfach mal wieder raus, um mich abzulenken.“ Lola war eine Nachbarin, mit der sie ab und zu etwas unternahm, eine sehr lockere Freundschaft.

„Ich wünsche es dir, meine Kleine! Schlaf schön!“ Maria gab Sally noch einen Kuss und verließ das Zimmer.

Nach einigen Minuten ging Sally die Treppe hoch in den ersten Stock, in dem ihr Schlafzimmer lag. Vorher holte sie sich noch ein Bier aus dem Kühlschrank. Das würde ihr auch die nötige Bettschwere geben, um ohne Albträume zu schlafen…

Selbstjustiz

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