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Kapitel 3 – Die Organisation

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Am übernächsten Morgen trank Sally ihren Kaffee, während sie die Tagezeitung las. Ihr morgendliches Fitnesstraining hatte sie bereits abgeschlossen. Seit sie mit dem Rauchen aufgehört hatte, musste sie sich ein bisschen bemühen, ihre schlanke Figur zu halten. In Amerika hieß es: ‚Du kannst nie zu reich sein und du kannst nie zu dünn sein‘. Ob das allerdings stimmte, sei mal dahin gestellt…

Nun genoss Sally ihr gemütliches Kaminzimmer. Die beiden etwas klobigen braunen Ledersessel standen rechts und links neben dem Sofa im Halbkreis vor dem Kamin. Auf einem der Sessel saß sie und hatte die Beine auf den dazugehörigen Hocker gelegt, eingerollt in ihrer Lieblingsdecke.

Sally dachte an den gestrigen Abend. Sie hatte im ‚Nobel‘ einen interessanten Mann kennengelernt und hoffte, ihn am nächsten Wochenende wieder zu sehen. Er gefiel ihr sehr gut und sie hatten viel Spaß miteinander gehabt. Allerdings musste sie jetzt eine Tablette nehmen, der Alkohol hatte ihr heute Morgen einige Kopfschmerzen bereitet.

In Gedanken blätterte sie die Zeitung durch. Schon auf der dritten Seite wieder ein großer Bericht über einen Sexualtäter, ein Wiederholungstäter, der ein kleines Mädchen vergewaltigt hatte, dazu passend ein Text über die Gesetzeslücken in Deutschland. Seit einiger Zeit sammelte Sally diese Berichte. Es kamen so viele zusammen, dass man es kaum glauben konnte.

„Nicht zu fassen!“, regte sie sich auf. “Was ist bloß mit unserer Justiz los? Warum unternimmt niemand etwas dagegen? Ständig, fast täglich, stehen solche Berichte in den Zeitungen. Missbrauch von Kindern, Vergewaltigungen, Sexualverbrechen, verdammt, das ist ja nicht zum Aushalten! Warum können diese Monster ihr Leben unbeschadet weiterleben, während die Opfer leiden müssen?“

Sally schleuderte die Zeitung gereizt in eine Ecke. Ihre üppigen blonden Locken hatte sie lässig mit einem Gummi zusammengebunden. Das löste sich jetzt, und die ungebändigte Mähne fiel ihr über die Schultern.

Maria, die in den Raum gekommen war, um das Frühstücksgeschirr abzuräumen, schaute aus dem Fenster und wartete den Wutausbruch von Sally geduldig ab. Die flippte in letzter Zeit immer öfter aus, wenn sie irgendwelche Berichte in den Zeitungen las oder im Fernsehen sah. Sie konnte Sally so gut verstehen, aber wie sollte man etwas ändern?

„Ach, Sally, Kind, auch du wirst es nicht schaffen, an der Grausamkeit der Menschen etwas zu verändern!“, seufzte Maria. Sie hob die Zeitung auf und legte sie auf einen kleinen Glastisch, der neben dem Sessel stand. Die lebhaften blauen Augen blitzten sie an. „Oh doch Maria, ich werde etwas ändern. Ich werde nicht weiterhin zuschauen, wie die Opfer dieser Gewalttaten leiden! Ich will Gerechtigkeit – Gerechtigkeit für die Opfer!“ Sally sprang auf. „Ich bin fest entschlossen, etwas zu unternehmen. Es ist ein Vorhaben, das schon lange in mir schlummert, seit ich diese Berichte sammle. Warte!“ Sie lief in ihr Büro und kam kurze Zeit später wieder in das Kaminzimmer gestürmt. Mit ihrer kaum mittleren Größe und der schlanken, wenn auch wohlproportionierten Figur wirkte Sally eher zart, hatte aber ein Temperament wie ein Wirbelwind.

„Schau Maria, was ich in den letzten Wochen alles gesammelt habe!“

Sie zeigte einen beachtlichen Stapel von ausgeschnittenen Berichten und verteilte sie auf dem Fußboden. „Das ist doch nicht normal! Es muss etwas passieren und jetzt ist es so weit. Ich werde anfangen, meine Idee umzusetzen und hoffe, dass ihr mich unterstützen werdet.“ Sally hielt inne und schaute Maria forschend in die Augen. „Ich kann doch auf euch zählen?“ „Du weißt, Sally, wir würden alles für dich tun. Du bist wie unser eigenes Kind. Aber ich möchte nicht miterleben, wie du in dein Verderben läufst. Was willst du denn dagegen tun, wenn es nicht einmal Polizei, Richter und Staatsanwälte schaffen, diese Verbrecher für immer hinter Gitter zu bringen?“ Maria war sichtlich besorgt. Schließlich kannte sie Sally sehr gut, sie ging leicht ins Extrem.

„Ich kann dir schon mal eins sagen: Was ich vorhabe, ist ungesetzlich und man wird mich jagen. Aber es wird Menschen geben, die mich dafür lieben werden. Sag bitte Pablo Bescheid, dass wir uns heute Abend um zehn in der Küche treffen. Ich gehe mit Britta essen, bin dann aber wieder hier. Es ist wichtig! Und es wird Zeit, dass wir darüber reden.“

Am Abend saßen Pablo und Maria in der Küche am runden Esstisch aus Eichenholz. Auf dem Tisch lag eine kleine gelbe Tischdecke, passend zu den gelb gemusterten Polstern auf den Stühlen. Obwohl der Raum sehr groß war, wirkte er gemütlich. Der rustikale Stil zog sich durch den ganzen Raum und durch das Eichenholz entstand eine behagliche Atmosphäre. Maria, Pablo und Sally hatten hier schon öfter bis in die Nacht hinein gesessen, um über die verschiedensten Dinge zu diskutieren. Die wirklich ernsten, wichtigen Gespräche fanden immer in der Küche statt.

„Was sie genau vorhat, weißt du nicht?“ Pablo wirkte beunruhigt. Maria zuckte mit den Schultern „Nein, ich weiß nur das, was ich dir erzählt habe.“

Jetzt betrat Sally die Küche und setzte sich zu den beiden. Maria brachte ihr ein kaltes Bier und öffnete für sich und Pablo eine Flasche Rotwein.

Es würde ein langer Abend werden, das hatte sie im Gefühl. „Also, ich werde euch sagen, was ich genau vorhabe. Ihr könnt euch aber sicher sein, dass ich mein Vorhaben durchziehen werde, völlig egal, ob ihr mir zur Seite stehen werdet oder nicht. Ich muss es einfach tun. Ihr müsst euch auch darüber im Klaren sein, dass ich euch dadurch in eine Straftat mit reinziehen könnte. Wenn wir erwischt werden, gehen wir alle für lange Zeit ins Gefängnis.“ Sally schaute beide an und versuchte, etwas in ihren Gesichtern zu erkennen.

„Nun, ich bin sehr gespannt“, erwiderte Pablo ruhig.

„Gut. Das, was wir hier besprechen, wird unter uns bleiben, zu niemandem ein Wort. Und ich meine: zu niemandem! Auch nicht zu meinem Vater. Das muss bitte klar sein!“

„Wenn du es willst, werden wir uns daran halten, Sally. Du weißt, dass du dich auf uns verlassen kannst. Maria hat mir erzählt, dass es um die schlimmen Verbrechen an Kindern geht, die unsere Justiz deiner Meinung nach nicht in den Griff bekommt. Ich hoffe nicht, dass du vorhast, diese Verbrecher in Selbstjustiz zu verurteilen und zu bestrafen? Sie haben es teilweise bestimmt verdient, aber du bist schließlich kein selbst ernannter Henker!“ Besorgt schaute Pablo zu Sally. „Keine Angst, Pablo, ich will niemanden töten, denn das wäre eine Erlösung und erlösen will ich nicht. Ich will ‚Gerechtigkeit für die Opfer‘ und genauso wird meine Organisation heißen: ‚GfdO‘!“

Sie saßen Stunden zusammen und diskutierten über das ‚Für‘ und ‚Wider‘. Sally schilderte ihren Plan in allen Einzelheiten. Am Ende hatte sie Maria und Pablo überzeugt, dass für die Gerechtigkeit etwas getan werden musste. Sally trank inzwischen schon ihr fünftes Bier und hatte sich emotional sehr in das Thema reingesteigert.

„Wir erregen mit Sicherheit viel Aufsehen, aber es werden auch sehr viele Menschen hinter uns stehen, davon bin ich fest überzeugt. Allerdings ist es bis dahin noch ein langer Weg. Es gibt noch sehr viel zu erledigen.“

Sally spürte eine große Erleichterung. Endlich, endlich würde etwas passieren!

„Als Erstes brauchen wir ein Haus, nein, kein Haus, mehr so was wie ein Anwesen. Wichtig sind große Kellerräume. Ein riesiges Grundstück, das irgendwo etwas außerhalb liegt, ohne unmittelbare Nachbarn. Hört euch doch bitte beide ein bisschen um! Ich werde parallel dazu einen Makler beauftragen, allerdings anonym. Wenn wir erst einmal angefangen haben, wenn unsere Organisation arbeitet, wenn sie das macht, wofür ich sie schaffen werde, dann wird die Polizei jede mögliche Spur verfolgen, deswegen müssen wir sehr vorsichtig sein. So, ich denke, wir machen für heute Schluss.“ Sally hatte ihr Bier ausgetrunken und fühlte sich nun auch kaputt. Der Alkohol machte ihr nicht viel aus, aber die ganzen Umstände schlauchten sie doch. “Gute Nacht, ihr beiden.“

Sie gab jedem einen Kuss auf die Wange und verließ die Küche, um in ihr Schlafzimmer zu gehen. Todmüde fiel sie in ihr Bett, aber mit der Genugtuung, nun etwas zu tun, womit sie vielleicht auch ihre eigenen Erlebnisse besser verarbeiten konnte.

Maria und Pablo saßen noch einige Zeit zusammen. Sie waren sich einig, sie wollten Sally auf jeden Fall unterstützen, ohne Ausnahme.

Am nächsten Morgen ließ sich Sally den Kaffee von Maria in ihr kleines Büro bringen. Es befand sich in der ersten Etage der Villa. Auf einem schönen antiken Schreibtisch stand als krasser Gegensatz ein großer Flachbildmonitor, der dazugehörige moderne PC versteckte sich unter dem Tisch. Der Schreibtisch wirkte etwas deplatziert im Zimmer, eigentlich zu groß. Doch außer einem kleinen Regal mit Büchern und zwei schönen großen Jukka-Palmen befand sich nichts in diesem Raum.

Sally schaute in die Zeitung, schon wieder ein Bericht über einen polizeilich bekannten Kinderschänder, der erneut zugeschlagen hatte.

Wie mussten sich bloß die Opfer fühlen? Sally bekam eine Gänsehaut. Und dich krieg ich auch noch, dachte sie. Sie legte den Artikel in die Schublade zu den anderen. Über das Internet hatte sie eine Maklerfirma gefunden, die vor allem auf große Häuser und Anwesen spezialisiert war. Sie wählte die Nummer, stellte aber vorher ihr Telefon so ein, dass die Rufnummer nicht übertragen wurde.

„Makleragentur Markise und Partner“, zwitscherte eine junge Stimme ins Telefon, „Mein Name ist Sabine Zenn, was kann ich für Sie tun?“

„Lipphoff, Guten Tag, ich möchte gerne mit Herrn Markise sprechen.“

„In welcher Angelegenheit möchten Sie mit ihm sprechen?“, hörte Sally wieder diese aufreizende Stimme.

„Das werde ich ihm selber sagen!“ Sally wirkte sehr arrogant, mit voller Absicht.

„Natürlich, ich verbinde Sie…“ Dann hörte Sally eine leise Melodie, wie es eben üblich war, wenn man weiter verbunden wurde. Mit einer rauen und sehr unangenehmen Stimme meldete sich gleich darauf ein Mann am Telefon. „Markise, schönen guten Tag, Frau Lipphoff, um was handelt es sich?“

„Guten Tag, Herr Markise, Sie sind die größte Makleragentur hier im Umkreis und Sie haben einen äußerst guten Ruf.“ Etwas Schmeicheln hatte noch nie geschadet. „Ich suche ein großes Anwesen in der Nähe von Hamburg. So abgelegen wie möglich. Da ich Schriftstellerin bin, brauche ich viel Ruhe, auch vor den Nachbarn. Sie verstehen, was ich meine?“

„Natürlich, Frau Lipphoff, ich verstehe Sie sehr gut. Ich habe viele Kunden, die ähnliche Objekte suchen.“

„Das Anwesen sollte ein großes Grundstück haben, gerne mit Nebengebäuden und großen Kellergewölben. Ich bin Weinliebhaberin und möchte mir einen schönen Weinkeller anlegen.“

„Ich trinke auch gerne einen guten Wein. Leider habe ich so ein Objekt im Moment nicht an der Hand. Ich werde mich jedoch für Sie umhören. Wie kann ich Sie erreichen, wenn ich etwas Geeignetes gefunden habe?“

„Ich werde mich bei Ihnen melden. Vielen Dank, Herr Markise. Auf Wiederhören! “

Sally legte etwas enttäuscht auf. Sie hatte gehofft, er würde gleich etwas Passendes für sie haben. Sie wusste genau, was sie wollte, denn das Anwesen musste ganz bestimmte Voraussetzungen erfüllen. Sie lehnte sich zurück. Das war der erste Schritt. Als Nächstes brauchte sie einige Männer, sozusagen aktive Mitglieder für ihre Organisation. Passive Mitglieder würden mit der Zeit genug dazukommen, da machte sie sich keine Gedanken. Aber sie brauchte Menschen in ihrem direkten Umfeld, denen sie Vertrauen konnte und die sie unterstützten. Maria und Pablo reichten da leider nicht. Diese Männer oder auch Frauen, die sie brauchte, mussten auch die innere Überzeugung zu ihrer Organisation haben, voll und ganz dahinterstehen. Nur so konnte es funktionieren. Die Bezahlung war dann eine angenehme Begleiterscheinung.

Sie setzte ihre Hoffnung zunächst auf Pablo. Er kannte viele Menschen, hatte viele Beziehungen und eine fantastische Menschenkenntnis. Er konnte gut reden und war immer sehr direkt.

Mit der Unterstützung ihrer Eltern war Pablo viel gereist. Er hatte in den unterschiedlichsten Organisationen mitgearbeitet, immer mit dem Bedürfnis, anderen Menschen zu helfen. Die deutsche Sprache beherrschte er inzwischen perfekt und er hatte dazu noch Englisch gelernt. In Mexiko pflegte er viele Freundschaften und er hielt Kontakt mit Leuten, die er durch die verschiedenen Hilfsorganisationen kennengelernt hatte. Er würde es schaffen, die richtigen Mitstreiter zu finden, davon war Sally überzeugt.

Am späten Nachmittag saß sie im Kaminzimmer. Maria hatte ihr einen heißen Kakao gebracht. Sally schloss die Augen und genoss, es schmeckte einfach fantastisch. Sie hatte Maria gesagt, dass sie mit Pablo reden wollte. „Du kannst dich natürlich gerne dazusetzen, Maria, wenn du möchtest.“ „Nein, besprich es mit Pablo, ich bereite das Abendessen vor. Pablo wird mir schon alles erzählen.“ Maria verließ den Raum. Zehn Minuten später erschien Pablo.

„Na Sally, was kann ich für dich tun?“ Er setzte sich in den Sessel schräg gegenüber.

„Wie ich gestern Abend schon sagte, alleine können wir unsere Organisation nicht führen. Für das, was wir vorhaben, brauchen wir so vier bis fünf Männer, es kann aber auch eine Frau dabei sein. Einer davon sollte ein Computerspezialist sein, ein Hacker, der wirklich was draufhat. Einer, der handwerklich sehr begabt ist, könnte auch nicht schaden. Der könnte dich unterstützen und entlasten, weil du dich zukünftig um andere Dinge kümmern wirst. Wenn einer dabei ist, der eine Kampfausbildung hat, wäre es auch von Vorteil, aber keine Bedingung. Sie sollten auch sehr familienbezogen sein. Was ich meine ist, wenn diese Männer eine Familie haben, würden sie mehr Verständnis für unsere Organisation zeigen. Das Alter oder die Nationalität spielen keine Rolle, sie sollten aber Deutsch sprechen können. Natürlich bekommen sie eine sehr gute Bezahlung. Ich würde auch ihre Familien finanziell sehr großzügig unterstützen, egal, in welchem Land sie leben. Aber das Geld ist nicht alles, die Männer müssen sich mit der Organisation identifizieren können, dieselben Ziele verfolgen. Sie müssen sich über das, was wir vorhaben, voll und ganz im Klaren sein. Mit Geld alleine werde ich oder werden wir die Männer auf Dauer nicht halten können. Nur mit der inneren Überzeugung für die Sache können wir die zukünftigen Mitglieder an uns binden. Absolute Verschwiegenheit ist Bedingung. Ich muss mich zweihundert Prozent auf diese Menschen verlassen können. Verstehst du, Pablo, das ist das Wichtigste überhaupt!“

„Natürlich verstehe ich, was du meinst. Wir wollen für die Gerechtigkeit kämpfen, aber wir machen uns auch strafbar. Das muss den Menschen klar sein, die sich mit uns einlassen. Wir stehen für eine gute Sache, ich bin überzeugt von unserer Organisation. Ich werde dir die Männer besorgen, die du brauchst. Und verlass dich darauf, sie werden hinter dir und deiner Sache stehen! Ich werde für die nächsten Wochen auf Reisen sein, denn ich habe da schon eine Idee, die uns weiterbringen kann.“

Pablo stand auf.

„Ich danke dir. Ich wusste, dass ich mich auf dich verlassen kann!“

Sally stand ebenfalls auf und ging auf Pablo zu. Er nahm sie in den Arm und hielt sie fest. Sally fühlte sich sicher. Pablo war wie ein zweiter Vater für sie und sie wusste, er würde alles für sie tun.

Ja, es würde „Gerechtigkeit für die Opfer“ geben!

Sie kam ihrer Sache immer näher.

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