Читать книгу Das poetische Theater Frankreichs im Zeichen des Surrealismus - Susanne Becker - Страница 11
2.3 Die historische Avantgarde
ОглавлениеDie Übertragung der Charakteristika des ursprünglich militärischen Begriffs (zeitlich-örtliches Voraussein, Linearität, Kampfbereitschaft, Erkundung eines unbekannten Terrains) auf die aktuelle kommerzielle „Avantgarde“ muss daher scheitern, denn wie kann die Avantgarde eine Vorhut sein, wenn das Gros sie schon erreicht hat? Was kann sie erkunden, wenn alles bereits erforscht ist? Wie kann sie Gefechte liefern, wenn es keinen Feind mehr gibt? Wie kann die Avantgarde gegen das Establishment kämpfen, wenn sie längst Teil des Establishments geworden ist? Welches Terrain kann sie erobern, wenn sie das ganze Gebiet bereits eingenommen hat? Wie kann der fortschrittsorientierte Gedanke der Avantgarde überhaupt noch bestehen, wenn die Idee einer linearen Geschichtsschreibung spätestens nach dem Zweiten Weltkrieg obsolet geworden ist? Kurz: wozu dient eine Avantgarde, wenn alles bereits Avantgarde ist? Eine relative Konzeption, die Avantgarde und Mainstream in Dichotomien wie alt-neu, traditionell-modern, konventionell-innovativ, vorher-nachher, reaktionär-subversiv, vorne-hinten denkt, wirft Probleme auf.
Dies hatte Ionesco in seinem Discours sur l’avant-garde (1959) schon früh festgestellt: „on ne peut s’apercevoir qu’il y a eu avant-garde que lorsque l’avant-garde n’existe plus en tant que telle, lorsqu’elle est devenue arrière-garde“1. Auch Hans-Magnus Enzensberger hat sich hierzu in seinem vielbeachteten Essay Die Aporien der Avantgarde (1962) geäußert:
Das Modell, an dem sich die Vorstellung der Avantgarde orientiert, ist untauglich. Das Voranschreiten der Künste in der Geschichte wird als lineare, eindeutige übersichtliche und überschaubare Bewegung gedacht, in der jeder seinen Platz, Spitze oder Troß, selber bestimmen könnte. Ungedacht bleibt, daß diese Bewegung vom Bekannten ins Unbekannte führt; daß mithin nur die Nachzügler angeben können, wo sie sind. […] Das avant der Avantgarde enthält seinen eigenen Widerspruch: es kann erst a posteriori markiert werden.2
Genauso problematisch wie die Vorher-Nachher-Dichotomie ist die Alt-Neu-Figur, denn das Neue wird immer irgendwann alt, und die Möglichkeiten des Neuen sind nicht unbegrenzt. Für Richard Schechner etwa, der nicht von einer, sondern gleich von fünf Avantgarden spricht3, ist der Avantgardebegriff als Bezeichnung für aktuelle Entwicklungen in der Kunst obsolet geworden, da die Innovation und das Neue endlich seien:
We can […] see how very far the current avant-garde is from the historical avant-garde. The current avant-garde is neither innovative nor in advance of. Like a mountain, it just is. Although the term 'avant-garde' persists in scholarship as well as journalism, it no longer serves a useful purpose. It really doesn’t mean anything today. It should be used only to describe the historical avant-garde, a period of innovation extending roughly from the end of the nineteenth century to the mid-1970s (at most). […] A Rubicon has been crossed. […] The limitless horizons of expectations that marked the modern epoch and called into existence endless newness have been transformed into a global hothouse, a closed environment. I do not agree with Baudrillard that everything is a simulation. But neither do we live in a world of infinite possibilities or originalities.4
Viel ratsamer ist es also, den Avantgardebegriff als Epochenbegriff für einen genau abgesteckten Zeitraum zu verwenden: die sogenannte „historische Avantgarde“ bezeichnet „die einzelnen, historisch, national-regional wie gesamteuropäisch und international agierenden Bewegungen und Ismen zwischen dem futuristischen Aufbruch 1909 und dem Zweiten Weltkrieg“5, insbesondere also Futurismus, Dadaismus und Surrealismus. Die Avantgarde muss ihren Avantgardismus somit nicht mehr anhand von langen und deshalb wenig aussagekräftigen Kriterienkatalogen (wie es beispielsweise von Beyme6 in seinem 12-Punkte-Programm vorgeschlagen hat) unter Beweis stellen, sondern ist als ein historisch klar eingegrenztes Phänomen zu begreifen, dessen Anfang und Ende dank der avantgardistischen Manifeste7 zeitlich genau datiert werden können. Mit Marinettis erstem futuristischen Manifest, das am 20. Februar 1909 im Pariser Figaro veröffentlicht wurde, wird „die Geburt der Avantgarde eingeläutet“8. Mit dem Ende des Surrealismus gilt die historische Avantgarde als abgeschlossen, d.h. offiziell im Jahr 1969 (drei Jahre nach Bretons Tod), in Wahrheit aber bereits ab Mitte der 1930er Jahre, als der Surrealismus seinen Zenit nach einem gescheiterten Ausflug in die Politik überschritten hatte.
Der eng gefasste und vor allem in der europäischen und insbesondere deutschsprachigen Forschung verbreitete Begriff der historischen Avantgarde macht eine wissenschaftliche Betrachtung der Avantgarde als Gesamtphänomen überhaupt erst möglich. Die avantgardistischen Ismen lassen sich trotz ihrer Vielfalt auf einen kleinsten gemeinsamen Nenner reduzieren:
1 der Gruppencharakter;
2 der Versuch, Kunst in Lebenspraxis zu überführen;
3 die Auflösung der traditionellen Triade Künstler-Kunstwerk-Rezipient.9