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2.5.7 Avantgarde als ineinander ragende Ecken und Kanten
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Das traditionelle Bild der Avantgarde war das einer linearen Bewegung, die sich von einem Zentrum (Europa) nach außen ausgedehnt hat. In Apollinaires L’Esprit Nouveau et les Poëtes wird diese Ansicht deutlich:
La France, détentrice de tout le secret de la civilisation, […] est […] devenue pour la plus grande partie du monde un séminaire de poëtes et d’artistes, qui augmentent chaque jour le patrimoine de sa civilisation. […] Les Français portent la poésie à tous les peuples.1
James Harding (2006) hat diese eurozentrische Auffassung als falsche und ideologiegeladene Einflussthese zurückgewiesen. Er datiert das Emporkommen der Avantgarde auf die kolonialistische Blütezeit, in der “edge-to-center/center-to-edge relationships”2 üblich waren. Er verwirft die lineare und binäre Avantgardekonzeption, die in Kategorien wie „vorher-nachher“, „Europa-Rest der Welt“, „Zentrum-Rand“ denkt. Ihm zufolge ist das Bild der Avantgarde als „cutting edge“, die in den leeren Raum hineinragt, obsolet. Die Avantgarde sei kein hegemonisches und homogenes Konstrukt mit Zentrum in Europa, von dem aus sie sich in die nicht-europäische Welt verbreitet habe.
Stattdessen schlägt Harding ein transnationales, nicht-lineares und dezentriertes „rough edges“-Avantgardekonzept vor, „whose territorial coordinates were always already heterogeneous, dispersed, and diversely located in moments of contestation.“3 Die Ecken und Kanten ragten ineinander über und löschten sich gegenseitig aus, ihre Friktion produziere avantgardistische Aktivität. Dieses heterogene und geographisch zersplitterte Modell erkläre auch die Simultaneität von avantgardistischen Praktiken innerhalb und außerhalb von Europa. Damit bricht Harding mit der traditionellen Idee von der Avantgarde als einem überwiegend eurozentrischen, weißen und männlichen Phänomen. Der Gedanke wird später von Listengarten und Knopf aufgegriffen, die in ihrer Anthologie des Avantgardetheaters davon ausgehen, dass
the relationship among the avant-garde(s) and the mainstream(s) are never simple or stable. They reveal multiple tensions between negation and appropriation, resistance and acceptance, rebellion and compromise4.