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2.5.6 Avantgarde als Pfeil aus der Zukunft

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Abb. 6

Mit dem „Projekt Avantgarde“ (1997) stellen Wolfgang Asholt und Walter Fähnders nicht nur, wie Bürger, die Linearität der Avantgarde mit der Vergangenheit, sondern auch ihre Linearität mit der Zukunft in Frage. Ihre Fragmenthaftigkeit verleihe der Avantgarde Projektcharakter. Dabei sei das Fragment nicht etwa Ausdruck einer verloren gegangenen Totalität, sondern ein Vorgriff auf eine zukünftige Totalität. Als eine Art Fragment aus der Zukunft finde das Projekt damit bereits in der Gegenwart eine imaginierte Vollendung, weil es seine künftige Vollendung bereits im Hier und Jetzt antizipiere. Somit sei das „Projekt Avantgarde“ – im Gegensatz zum Habermasschen Moderne-Projekt1, welches auf eine Vollendung in der Zukunft ausgerichtet ist – nicht mehr auf eine spätere Realisierung angewiesen, ihm komme im Gegenteil „als Gesetztes, als Imaginiertes bereits Realität, wenn nicht gar 'Vollendung', zu.“2 Diese „Gegenwartsorientierung“3 ist ein wichtiges Merkmal der Avantgarde, deren Projekt als „Skizze des Zukünftigen“4 im Hier und Jetzt bereits seine Erfüllung findet.

Dank dieser nicht-linearen Sicht wird die Avantgarde vom Vorwurf der Nicht-Einlösung ihres Programms entbunden, und es ist auch überhaupt nicht mehr entscheidend, ob sie ihre Intentionen tatsächlich realisiert hat. Die Avantgarde habe ihrem Projekt demnach nicht einfach „'naiv' gegenübergestanden“5, sie habe sich nicht blauäugig von der Institution Kunst rekuperieren lassen, sondern ihr Scheitern bereits mitgedacht. Dieses Mitdenken der eigenen Aporien bezeichnet Asholt als „avantgardistische Selbstkritik“6, welche die Avantgarde, zumindest punktuell, vor ihrem eigenen Scheitern und ihrer eigenen Vereinnahmung durch die Kulturindustrie bewahrt. Dank ihres selbstkritischen Moments habe die Avantgarde eine Grenzsituation einnehmen können, in der ein gleichzeitiges Produzieren und Negieren von Kunst (so wie Debord es für die Situationisten beansprucht hatte) wenigstens kurzzeitig möglich geworden sei. Was in Manns Konzeption noch unmöglich war, nämlich eine Positionierung außerhalb des Kreises, wird bei Asholt und Fähnders realisiert: in seltenen Momenten habe die Avantgarde „die Institution Kunst und Literatur […] verlassen, um sie von außen kritisieren zu können“7. Das Spannungsverhältnis zwischen diesen Positionen habe sie dabei durchaus realisiert.

Genau dieses Phänomen des plötzlichen Aufblitzens hat Michel Foucault in seiner Préface à la Transgression (1963) als Grenzüberschreitung beschrieben. Ihm zufolge ist das Verhältnis zwischen Transgression und Grenze nicht in oppositionellen Kategorien zu denken, es löst sich vielmehr von dialektisch-binären Einschränkungen und gleicht eher einem

éclair dans la nuit, qui […] donne un être dense et noir à ce qu’elle nie, l’illumine de l’intérieur et de fond en comble, lui doit pourtant sa vive clarté, sa singularité déchirante et dressée, se perd dans cet espace qu’elle signe de sa souveraineté et se tait enfin, ayant donné un nom à l’obscur.8

In dem kurzen, luziden Moment des „éclair dans la nuit“ wird die Grenze aufgehoben. Übertragen auf die Avantgarde könnte man davon sprechen, dass in ihrem utopischen Bestreben, Kunst in Leben zu überführen, ein punktuelles Gelingen dieses Vorhabens aufblitzt. Die Transgression bestätigt gleichzeitig die Existenz sowie die Absenz der Grenze.

Auch wenn die Avantgarde die Grenze nicht dauerhaft überschreiten konnte, ist es doch ihr großes Verdienst, „erstmals diese Grenze unübersehbar in den Mittelpunkt gerückt“9 zu haben. Die Radikalität der Avantgarde werde durch die Nicht-Einlösung ihrer Forderungen in der Zukunft nicht entkräftet, denn die Brisanz einer Utopie liege „nicht im fernen Gefilde, sondern gerade in der Nähe, in der Kritik der Gegenwart, der sie die Alternative aufzeigt.“10

Das poetische Theater Frankreichs im Zeichen des Surrealismus

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