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2.4 Die Neo-Avantgarde

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Mit dem Eintritt in die Postmoderne in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts kann eine Renaissance der Avantgarde beobachtet werden. Szabolcsi kommentiert dieses Ereignis im Jahr 1971 auf folgende Weise:

Things that were declared dead thirty years ago have risen from the dead; museum pieces come back to life once more. It certainly indicates that many of the questions the 'first avant-garde' posed have not been properly answered yet, and the problem of the function of art and the artist is far from being satisfactorily solved.1

Diese neue Avantgarde, auch Neo-Avantgarde genannt, kann mit Foster definiert werden als

loose grouping of North American and Western European artists of the 1950s and 1960s who reprised such avant-garde devices of the 1910s and 1920s as collage and assemblage, the readymade and the grid, monochrome painting and constructed sculpture.2

Die Neo-Avantgarde führt die historische Avantgarde nicht einfach weiter. Die Umstände avantgardistischen Schaffens hatten sich seit der historischen Avantgarde drastisch weiterentwickelt. Die Konsum- und Warengesellschaft der Nachkriegszeit hatte die Beziehungen zwischen Künstler, Material und Zuschauer grundlegend verändert.

Nach dem Zweiten Weltkrieg hatte sich der Kunstmarkt außerdem von Paris nach Amerika verschoben. Ab nun galt es, „d’affirmer que l’art européen était aussi périmé que la vocation historique de l’Europe sur le plan politique. L’art se ferait désormais à New York“3. Die Aufwertung der amerikanischen Neo-Avantgarde als originär, innovativ und ideologiefrei im Gegensatz zur (vermeintlich) ideologiegeladenen und historisch gewordenen Avantgarde der Alten Welt führte zu neuen Wegen in der Avantgardeforschung. Mit zunehmender Distanz (insbesondere auch im Kontext der 68er-Bewegung) zu seiner verheerenden jüngeren Geschichte war eine kritische Aufarbeitung der faschistischen Vergangenheit Europas möglich geworden. Die historische Avantgarde hatte, so empfanden es viele, ihren Teil zur Katastrophe beigetragen. Die Liebäugelei der Futuristen und der Surrealisten mit dem Faschismus bzw. dem Kommunismus und Aussagen wie die Bretons („L’acte surréaliste le plus simple consiste, revolvers aux poings, à descendre dans la rue et à tirer au hasard, tant qu’on peut, dans la foule.“4) hat man der Avantgarde bis heute nicht verziehen. Aufgrund ihrer strukturellen und programmatischen Parallelen (z.B. Gruppencharakter, parteiähnliche Organisation, Disziplin, Aktionismus, doktrinäre Haltung, Hang zu Esoterik, Anti-Positivismus, Mystik und Okkultismus, Gewalttätigkeit und Aggressivität) erhärtete sich der Totalitarismusverdacht gegenüber der historischen Avantgarde. Politisch manifestiert hätten sich ihre totalitären Tendenzen in ihrer Verflechtung mit repressiven Diktaturen wie dem Stalinismus5 oder später mit dem Terror6 der 1960er und 1970er Jahre oder sogar des 11. Septembers 2001. Man darf den totalen Anspruch der historischen Avantgarde (d.h. ihre Intention, das Leben durch die Kunst zu revolutionieren) allerdings nicht mit einem totalitären Anspruch gleichsetzen, denn damit würde man die Avantgarde in ihrem selbstkritischen Moment7 unterschätzen. Die historische Avantgarde wollte die Demokratie nicht abschaffen, sie war sogar auf sie angewiesen.8 Das Europa der zweiten Jahrhunderthälfte, dem die zwei Weltkriege noch im Nacken saßen, stand gesellschaftlichen Ganzheitsentwürfen – wie die Avantgarde sie vorgeschlagen hatte – jedoch misstrauisch gegenüber und stempelte sie als ideologiegeladen und tendenziell gefährlich ab.

Weitaus unverfänglicher erschien dagegen eine Beschäftigung mit bisher marginalen Aspekten der Avantgarde, wie z.B. avantgardistischen Verfahrensweisen, einzelnen Künstlern und Künstlergruppen oder Minderheiten innerhalb der Avantgarde. Auch in Folge des postmodernen Relativismus und Dekonstruktivismus hat sich die Avantgardeforschung somit in verschiedene Teilbereiche ausdifferenziert. Ein Forschungsstrang widmet sich beispielsweise den weiblichen Akteuren der Avantgarde, wie z.B. Claude Cahun, Dora Maar, Germaine Dulac, Hannah Höch oder Sonia Delaunay.9 Frauen waren von der Avantgarde und der Avantgardeforschung bis in die 1970er Jahre vernachlässigt worden. „L’avant-garde, un concept masculin?“10, fragt Bonnet im 2012 erschienenen Sammelband Genres et Avant-Gardes und zeigt, wie sehr die Avantgarde mit der Hegemonie und Valorisierung des Männlichen verknüpft war. Zwar waren Frauen als Objekte in avantgardistischen Schriften stark präsent, als kunstschaffende Subjekte spielten sie aber eine zweitrangige Rolle: sie hatten innerhalb der Avantgarde meist nur eine zuarbeitende Position inne oder waren in weniger prestigeträchtigen Disziplinen wie dem Kunsthandwerk tätig. In ihrer Einleitung zum selben Band bescheinigen Bridet und Tomiche der Avantgarde einen regelrechten „mépris de la femme“ (dieser „mépris“ ging übrigens nicht nur von Männern, sondern auch von Frauen aus, wie Claire Goll11 gezeigt hat) und plädieren gegen eine binäre und essentialistische Mann-Frau-Konzeption der Avantgarde.12 In der Postmoderne geht es also weniger um eine Gesamterfassung des Phänomens Avantgarde, sondern um die Untersuchung von Teilaspekten.

Aus heutiger Sicht sind sowohl die historische als auch die Neo-Avantgarde historisch geworden. Trotz allem wird in der Forschung zwischen den beiden Avantgarden unterschieden. Drei unterschiedliche Perspektiven haben sich in der Beurteilung der Beziehung zwischen historischer und Neo-Avantgarde etabliert: 1. die Neo-Avantgarde als wirkungslose Kopie der historischen Avantgarde (z.B. Gehlen, Enzensberger, Bürger, Kuspit); 2. die Neo-Avantgarde als erfolgreiche Realisierung der avantgardistischen Intentionen (z.B. Foster); 3. die Neo-Avantgarde als neues Paradigma, das mit Moderne und Avantgarde bricht und diese sich einverleibt (z.B. Krauss, Hassan).

Im mit der historischen Avantgarde vertrauten Europa ist die Neo-Avantgarde eher negativ konnotiert als Kopie und uninspirierter Abklatsch ihres historischen Vorgängers. Davon zeugt bereits das Präfix „Neo“, das der Avantgarde nach 1945 ihre Originalität, Kreativität und Radikalität abspricht. Der Soziologe Arnold Gehlen hat in seinem Aufsatz Über kulturelle Kristallisation (1961) erklärt, dass die letzten großen Ereignisse in der Kunst sich um 1910 herausgebildet hätten und die Kunst seitdem in einen Zustand der Kristallisation eingetreten sei, d.h. „denjenigen Zustand […], der eintritt, wenn die darin angelegten Möglichkeiten in ihren grundsätzlichen Beständen alle entwickelt sind.“13 Diese Entwicklung begründet Gehlen damit, dass die verschiedenen gesellschaftlichen Domänen im Zuge der Spezialisierung in ihre Fachbereiche verwiesen worden waren und nun nicht mehr imstande seien, global gültige weltanschauliche Theorien anzubieten. Die Ideengeschichte sei damit abgeschlossen, wir seien im Posthistoire angekommen:

Es ist außerordentlich unwahrscheinlich, daß noch weitere Grundlagenveränderungen im System sind, und deshalb ist der Begriff Avantgardismus eigentlich etwas komisch, er ist überholt. Die Bewegung geht ja gar nicht nach vorwärts, sondern es handelt sich um Anreicherungen und um Ausbau auf der Stelle, wer heute von Avantgardismus spricht, der meint nur Bewegungsfreiheit als Programm, aber die ist ja längst zugestanden.14

Der große Überbau der Wissenschaften und Künste sei ausformuliert und starr, einzig eine Weiterentwicklung im Detail sei noch möglich. Kristallisation bedeutet also Stillstand und Stagnation im Großen, was eine Weiterentwicklung im Kleinen jedoch nicht verhindert. Im Vortrag Erörterung des Avantgardismus in der Bildenden Kunst (1965) erklärt Gehlen, dass diese Weiterentwicklung im Kleinen in der neuen Avantgarde der Nachkriegszeit stattfinde. Während die frühen Avantgardisten noch „Toreöffner in ein unbetretenes Gebiet“ gewesen seien, hätten sich avantgardistische Verhaltensweisen heute im Zuge einer „Ritualisierung“15 stabilisiert und stereotypisiert, die Avantgarde sei zum Establishment geworden und habe ihren revolutionären Gehalt verloren. Enzensberger geht noch härter mit der Neo-Avantgarde ins Gericht: “Jede heutige Avantgarde ist Wiederholung, Betrug oder Selbstbetrug.“16 Er, der auch nicht viel von der historischen Avantgarde hält, gesteht dieser aber immerhin zu, die Verantwortung für ihre Ergebnisse übernommen zu haben. Die Neo-Avantgarde aber wiederhole nicht nur ihren Vorgänger, sie sei nicht einmal mehr bereit dazu, für ihr Tun zu haften. Zu einer ähnlichen Einschätzung der Neo-Avantgarde kommt Bürger. Nachdem die Institution Kunst ihre Widerstandsfähigkeit gegenüber Angriffen auf sie durch die Absorption der historischen Avantgarde bewiesen und damit ihre Grenze zum Leben wieder gezogen hatte, habe die Kunst nach der historischen Avantgarde ihr radikales Potential verloren. Bürgers Fazit fällt eindeutig aus: „Neoavantgardistische Kunst ist autonome Kunst im vollen Sinne des Wortes, und das bedeutet: sie negiert die avantgardistische Intention einer Rückführung der Kunst in die Lebenspraxis.“17 Bürger spricht im Hinblick auf die Neo-Avantgarde von einer falschen Überführung der Kunst in eine spätkapitalistische Gesellschaft, in der die Kunst zwar praktisch geworden sei, aber nicht mehr „Instrument der Emanzipation, sondern der Unterwerfung“18 unter Warenästhetik, Unterhaltung und das Diktat des Konsums. Die Neo-Avantgarde werde so „zur sinnleeren Veranstaltung, die jede mögliche Sinnsetzung zuläßt.“19 Ebenso äußert sich der amerikanische Kunstkritiker Donald Kuspit20, der der Neo-Avantgarde Inhaltsleere, intellektuelle Rhetorik, reinen Unterhaltungswert und Aneignung vorwirft. Im Gegensatz zur historischen Avantgarde, die sich durch ihre therapeutische Heilkraft der tiefsten inneren Bedürfnisse des Menschen angenommen habe, besitze die Neo-Avantgarde keine transformativen Kräfte mehr. Diese Position, die die Neo-Avantgarde als rein ästhetische Kopie der radikalen historischen Avantgarde betrachtet, ist besonders in der europäischen Avantgardeforschung verbreitet.

Dagegen haben Forscher im anglo-amerikanischen Raum die Neo-Avantgarde und Postmoderne gegenüber der historischen Avantgarde aufgewertet. Der amerikanische Kunsthistoriker Hal Foster nimmt mit seiner Idee der „deferred action“21 Abstand von einer linearen Betrachtungsweise der Beziehungen zwischen historischer Avantgarde und Neo-Avantgarde und verwirft Kategorien wie „vorher-nachher“, „Ursache-Wirkung“ und „Ursprung-Wiederholung“. Die Tragweite der Avantgarde könne nie zum Zeitpunkt ihrer Entstehung, sondern immer erst mit zeitlicher Verzögerung erfasst werden. Es sei die Neo-Avantgarde, nicht die nihilistisch-anarchistische historische Avantgarde, die die Institution Kunst zuerst analysiert und kritisiert habe. Damit sei die Neo-Avantgarde „less neo than nachträglich“22. In Opposition zu Bürgers Verdikt über die Neo-Avantgarde findet bei Foster eine Aufwertung der Neo-Avantgarde statt, die das Projekt der historischen Avantgarde nicht gar beendet, sondern zum ersten Mal aufnimmt: „rather than cancel the project of the historical avant-garde, might the neo-avant-garde comprehend it for the first time?“23

Vertreter der Postmoderne gehen noch einen Schritt weiter und gestehen der historischen Avantgarde nicht einmal mehr eine erhebliche Vorleistung in Bezug auf die Entwicklung der Neo-Avantgarde zu. So setzt Rosalind Krauss in ihrem im Jahr 1985 veröffentlichten Essay über die vermeintliche Originalität der Avantgarde den Bruch in der Kunstwelt nicht mit der Moderne/Avantgarde (die sie miteinander gleichsetzt), sondern mit der Postmoderne an.24 Wenn Ihab Hassan der Moderne noch eine gewisse Persistenz zugesteht, so ordnet er die historische Avantgarde endgültig der Geschichte zu: „Once full of brio and bravura, these movements [d.h. die historischen Avantgardebewegungen] have all but vanished now, leaving only their story, at once fugacious and exemplary.“25 Die Postmoderne sei im Vergleich zur historischen Avantgarde „cooler, less cliquish, and far less aversive to the pop, electronic society of which it is a part, and so hospitable to kitsch.“26 Bei Hassan findet eine komplette Aufhebung der historischen Avantgarde in der Postmoderne statt. Auffällig ist, dass sein Kriterienkatalog für die Postmoderne (mit Punkten wie “Play”, “Chance”, Participation”, “Anti-narrative”27, “Fragmentarisierung” und “Performanz”28) nahezu identisch auf die historische Avantgarde übertragen werden könnte.

Eine vermittelnde Position besetzt Hubert van den Berg29, der für die Gleichwertigkeit der beiden Avantgarden eintritt. Er übt Kritik am „Neo“-Präfix, das die Neo-Avantgarde als zweitklassige Kopie der historischen Avantgarde abstempelt. Obwohl sie mittlerweile genauso historisch sei wie ihr Vorgänger, werde der Neo-Avantgarde ihre geschichtliche Relevanz abgesprochen. Um jedes Werturteil auszuschließen, plädiert er dafür, von der Avantgarde vor bzw. der Avantgarde nach dem Zweiten Weltkrieg zu sprechen.

Wie sich die theoretischen Überlegungen zur Avantgarde seit ihrer Entstehung entwickelt haben, soll im Folgenden betrachtet werden.

Das poetische Theater Frankreichs im Zeichen des Surrealismus

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