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2 Avantgarde und Theater 2.1 Ursprung des Avantgardebegriffs

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Der Avantgardebegriff entstammt ursprünglich dem Militärjargon und wird im Brockhaus von 1892 folgendermaßen definiert:

Avantgarde (spr. awáng-, Vorhut, Vortrab), diejenige Abteilung eines marschierenden Truppenkörpers, welche dieser (das Gros) auf eine gewisse Entfernung vorschiebt, um sich gegen die Erkundung durch den Gegner und seine überraschenden Angriffe zu sichern sowie Nachrichten über denselben zu erhalten. […] Eine A. teilt sich nach vorwärts in immer kleiner werdende Abteilungen bis zu der ganz vorn marschierenden Spitze. Jede dieser Abteilungen hat den Zweck, der nachfolgenden stärkern eine größere Sicherheit und Zeit zu gewähren, um sich in Gefechtsbereitschaft zu setzen. […] Die vorgeschobenen kleinern Abteilungen haben sich nach der ihnen folgenden größern in betreff der Fortbewegung zu richten.1

Zeitlich-örtliches Voraussein, Linearität, Kampfbereitschaft, die Existenz einer kleinen Gruppe an der Spitze, auf die mit einiger Verzögerung das Gros folgt, das Erforschen eines unbekannten und gefährlichen Terrains – diese Charakteristika der militärischen Avantgarde werden später auch mit der künstlerischen Avantgarde assoziiert.

In den gesellschaftlichen Kontext ging der Avantgardebegriff erstmals im 19. Jahrhundert über. Die Forschung schreibt dem Saint-Simonisten Olinde Rodrigues (1825) sowie dem Fourieristen Gabriel-Désiré Laverdant (1845) die erste metaphorische Verwendung des Avantgardebegriffs zu. Beide thematisierten die Beziehung zwischen Kunst und Gesellschaft und sahen den Künstler-Seher in einer sozialen Vorläuferrolle. Die Verquickung zwischen militärischem und metaphorischem Avantgardebegriff ist noch bei Baudelaire zu beobachten. In seinem Vademecum Mon cœur mis à nu (1859-1866) macht er sich über die Affinität der Franzosen zu militärischem Vokabular lustig, spricht sich gegen engagierte Kunst aus und nennt die linksradikalen Schriftsteller abschätzig „[l]es littérateurs d’avant-garde“2.

Eine Politisierung des Avantgardebegriffs ist in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts zu beobachten. Im späten 19. und frühen 20. Jahrhundert verliert der Begriff allmählich seine militärische und politische Bedeutung und etabliert sich im literarisch-künstlerischen Feld, mit dem er nun ausschließlich assoziiert wird. Die Neo-Impressionisten gelten als erste Kunstbewegung, die sich selbst als Avantgarde bezeichnet hat. Im Rahmen der letzten Ausstellung der Impressionisten im Jahre 1886 präsentierten Maler um Georges Seurat, der in seinem Gemälde Un Dimanche à la Grande-Jatte als erster die neo-impressionistische Technik angewandt hatte, ihre Werke der Öffentlichkeit. In einem Artikel über diese Ausstellung schrieb der Kunstkritiker Félix Fénéon, der den Ausdruck „néo-impressionnisme“ erfunden hatte, über Seurat, Signac, die Pissarros und Dubois-Pillet, sie seien „à l’avant-garde de l’impressionnisme“3. Der Avantgardebegriff war damit mitten in der Kunst angekommen, auch wenn er aufgrund der Aufsplitterung der avantgardistischen Bewegungen in Ismen nicht als Eigenbezeichnung verwendet wurde. Spätestens mit dem Aufkommen der Neo-Avantgarde ab den 1950er Jahren ist der Avantgardebegriff im Mainstream gelandet, wo er heute omnipräsent ist.

Das poetische Theater Frankreichs im Zeichen des Surrealismus

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