Читать книгу Das poetische Theater Frankreichs im Zeichen des Surrealismus - Susanne Becker - Страница 17
2.5.4 Avantgarde als Rand eines Kreises
ОглавлениеAbb. 4
Aufgrund der Rekuperation, Konsekrierung, Domestizierung und Musealisierung der Avantgarde wurde spätestens ab der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts ihr Tod proklamiert. Paul Mann hat in The Theory-Death of the Avant-Garde (1991) den vermeintlichen Widerspruch aufgezeigt zwischen den zahlreichen Für-Tot-Erklärungen der Avantgarde und gleichzeitig einer reichhaltigen Produktion an avantgardistischer Kunst und Avantgardekritik. Ihm zufolge bedeutet der Tod der Avantgarde nicht ihr Ende, sondern koinzidiert vielmehr mit ihrer produktivsten Phase:
The death of the avant-garde is not its termination but its most productive, voluble, self-conscious, and lucrative stage. […] The death of the avant-garde is its theory and the theory of the avant-garde is its death.1
Anstatt der Rekuperation zum Opfer zu fallen, sei die Avantgarde selbst schon ein Prozess ständiger Rekuperation, Assimilation und Absorption innerhalb einer „discursive economy“2, ein Prozess also, der die eigene Widersprüchlichkeit schon mitdenke. Der einzige Ausweg für eine echte Negation sei das Positionieren außerhalb dieses Diskurses, was jedoch ein unmögliches Vorhaben sei. Die Avantgarde wollte sich außerhalb des Systems positionieren, habe aber verkannt, dass es gar kein Außen gibt. Als „the outside of the inside“3 führt die Avantgarde eine liminale Existenz am Rande des Systems, von dem es im Laufe der Zeit vereinnahmt wird. Mit seiner Innen-Außen-Konzeption bringt Mann eine räumliche Komponente ins Spiel, die anhand eines Kreises veranschaulicht werden kann. Die Avantgarde befindet sich am äußeren Rand des Kreises. Eine Positionierung außerhalb des Kreises ist unmöglich, der Kreis kann sich aber ausdehnen und sich das, was einst an seinen Rändern lag, einverleiben.
Ein Jahr später schlägt der Kulturtheoretiker Boris Groys (1992) eine ähnliche Konzeption vor. Für ihn gliedert sich die Welt einerseits in das kulturelle Gedächtnis, das in Bibliotheken, Museen und Archiven aufbewahrt wird, andererseits in den profanen Raum, der aus allem besteht, was wertlos, uninteressant und irrelevant erscheint. Die Grenze zwischen profanem und kulturellem Raum könne nicht ausgelöscht, aber doch verschoben werden. Zwischen dem profanen und dem kulturellen Gegenstand herrsche keine Wesens-, sondern eine Wertdifferenz. Innovation geschehe dann, wenn eine „Umwertung der Werte“4 stattfinde, d.h. wenn das Profane in einem Akt der Valorisierung in den kulturellen Raum oder das Kulturelle in einem Akt der Profanisierung in den profanen Raum übertrete. Mit seiner Konzeption der Innovation als Umwertung der Werte nimmt Groys, ähnlich wie Mann, Abstand von der gängigen Vorstellung des Neuen als etwas, das alle Grenzen überschreitet und noch nie zuvor dagewesen ist. Vielmehr weise das Neue sowohl Merkmale des kulturellen Archivs wie auch des Profanen auf. Groys erteilt damit auch eine Absage an den postmodernen Pluralismus, der eine kulturelle Hierarchie negiert. Ihm zufolge bleiben das Kulturelle und das Profane als zwei voneinander getrennte Bereiche bestehen, und auch wenn die Grenzen zwischen beiden nicht fix sind, kann es nie zu einer Aufhebung kommen. In ihrem Freiheitsdrang habe die Avantgarde das kulturelle Archiv auslöschen wollen, habe letztendlich aber nur das Profane aufgewertet und das kulturelle Archiv erweitert.