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Am 28. Oktober 2012 starb Alma Fresemann, nicht ohne vorher einen scheinbaren Frieden mit Anja gemacht zu haben. Sie hatten eine neue Ebene gefunden, auf der sie einander begegnen konnten, doch sie bewegten sich auf sehr dünnem Eis.

Alma glaubte, dass ihre Strategie der Aufklärung doch die richtige gewesen war, denn Anja schien einen Großteil ihres Unmuts vergessen zu haben, als sie das nächste Mal wieder im Hospiz auftauchte. Stattdessen zeigte sie sich neugierig, fragte noch einmal nach dem Namen ihres Vaters, den sie sich beim ersten Mal in ihrer Wut nicht gemerkt hatte. Sie notierte ihn auf einem kleinen Zettel, daneben schrieb sie sich die Monate, in denen er in ihrem Bezirk gearbeitet hatte. Sie erzählte ihrer Mutter, dass sie nach ihm forschen wolle, und das schien die Kranke glücklich zu machen, obwohl es hier um eine Zukunft ging, an der sie nicht mehr würde teilhaben können. Anja überlegte, ob ihre Mutter nach dem Tod ihres Vaters wohl jemals den Wunsch gehabt haben mochte, Giacomo wiederzusehen, doch sie fragte nicht danach.

Anjas neue Abgeklärtheit hatte allerdings nichts mit Verzeihen oder neuer Vertrautheit zu tun. Sie war von ihrer Mutter enttäuscht, auf eine, wie ihr schien, so endgültige Art und Weise, dass sogar die Wut vorübergehend aus ihr gewichen war. Sie würde ihr Leben auf ein neues Fundament stellen müssen, also half es nicht weiter, eine gestörte Beziehung zu betrauern. Mit kaltem Blut ließ sich einiges vorspielen. Sie konnte lächeln, sich über den Alltag unterhalten, manchmal ein kleines Witzchen machen und ihre Rolle als fürsorgliche Tochter erfüllen.

Auch Almas Freude über die neue Qualität ihrer Begegnungen war nicht so ungetrübt, wie sie es aussehen ließ. Sie freute sich zwar über Anjas Interesse an ihrem leiblichen Vater, vielleicht würde eine Begegnung mit ihm ihr sogar Trost spenden können, wenn sie selbst nicht mehr da war. Sie hatte aber auch dessen Erbteil zu fürchten gelernt, als sie das schlafende Monster in Anja geweckt hatte, und am liebsten hätte sie nicht weiter über ihn gesprochen. Aber diese Angst verschloss sie in einem geheimen Winkel ihres Herzens, in dem sie schon andere Ängste weggeschlossen hatte.

Beide Frauen konnten mit dieser Situation leben, verbunden in dem Glauben, der anderen durch Schweigen einen Gefallen zu tun.

Als Alma starb, war Almuth gerade bei ihr, es war der friedlichste Tod, den das Leben für sie bereithalten konnte. Astrid und Almuth organisierten die Beerdigung, Anja konnte sich ganz auf ihre Trauer konzentrieren, die für sie selbst überraschend nicht so dünn ausfiel, wie sie erwartet hatte, auch wenn sie sie nicht so erschlug wie nach Antons Tod. Trotzdem sorgten sich ihre Schwestern mehr um sie, als sie sich selbst sorgte. Beide boten ihr ein Zimmer an, zumindest übergangsweise bis zum Abitur, damit sie nicht so allein wäre, doch Anja lehnte dankend ab. Das Haus war die letzte Konstante in ihrem Leben, außerdem lag es zentral in der Nähe der Schule.


Nach der Beerdigung mit anschließender Teetafel, während der Anja sich gefühlt hatte, als sei sie nur ein unbeteiligter Gast und irgendwie zufällig dort hineingeraten, saßen die drei Schwestern noch in der Küche ihres Elternhauses zusammen. Sie unterhielten sich über die Verwandtschaft, von denen sie viele das erste Mal seit Jahren gesehen hatten. Tante Erika trug ihr lange Zeit gefärbtes Haar jetzt zu einer schlohweißen Krone aufgetürmt, und majestätisch hatte sie als Älteste so etwas wie den Vorsitz der Trauergesellschaft übernommen mit „ihrem“ Friedhelm an ihrer Seite, was Astrid als äußerst anmaßend empfunden hatte. Von den Vettern und Kusinen aus Hamburg, wo Erika mit ihrer Familie lebte, fiel vor allem Nadja auf, die, inzwischen vierundzwanzig Jahre alt und Studentin der Islamwissenschaft, das Gesicht voller Piercings trug und ihre Dreadlocks an den Enden grün gefärbt hatte. Remo und Dirk, ihre Brüder, schienen sich daran gewöhnt zu haben, aber Tante Erika zwinkerte immer etwas irritiert, wenn sie sich mit ihrer Tochter unterhielt und die Perlen auf Nadjas Zunge beim Sprechen mit leichtem Klirren aneinanderstießen.

„Ich frage mich, wer sich von ihr jemals einen schlauen Rat einholen wird, da kann sie sogar den Doktor machen und es wird nicht passieren“, urteilte Almuth spöttisch.

„Sie hat ja noch ein paar Jahre, um sich anzupassen“, entgegnete Astrid, „Wenn man nicht gerade Tunnel in den Ohrläppchen hat, wachsen die Löcher bestimmt auch wieder zu, wenn man die Piercings herausnimmt. Glaube ich zumindest.“

Anja ging das Getratsche ihrer Schwestern auf die Nerven.

„Könntet ihr jetzt bitte gehen?“, fragte sie genervt. „Mir reicht’s.“

Astrid und Almuth schauten sie verblüfft an.

„Was ist denn mit dir auf einmal los?“, fragte Astrid vorwurfsvoll.

„Nichts“, antwortete Anja mit zitternder Stimme. „Ich bin müde. Und morgen will ich mich um wichtige Sachen kümmern, also lasst mich jetzt bitte allein.“

„Aha“, schnappte Astrid, „und was sind das für wichtige Sachen, dass du uns dafür rausschmeißen musst aus unserem eigenen Haus? Zufällig gehört es dir ja gar nicht allein!“

„Ich werde meinen Vater suchen“, entgegnete Anja trotzig, wobei sie verstohlen nach Reaktionen in den Gesichtern ihrer Schwestern suchte.

Astrid und Almuth wechselten einen schnellen Blick, und Almuth übernahm das Wort.

„Oh, wir wussten nicht, dass sie mit dir darüber gesprochen hat.“

„Aber dass ich ein Kuckuckskind bin, das wusstet ihr schon, oder was?“, fragte Anja scharf.

„Na ja“, Almuth wurde verlegen, „das wussten ja eigentlich alle.“

„Wer alle?“, hakte Anja nach.

„Na ja, unsere Familie, Tante Erika und Onkel Friedhelm, ihre Kinder. Ich war einmal in den Ferien bei ihnen in Hamburg, da haben wir uns darüber unterhalten.“

Astrid kam ihrer Schwester zu Hilfe.

„Eigentlich dachten wir, du wüsstest es selbst. Es war ja auch ganz offensichtlich.“

„Ganz offensichtlich, aha, ganz offensichtlich!“

Anja war in ihrer Verzweiflung laut geworden, Tränen standen ihr in den Augen.

„Wenn es so offensichtlich und klar und eindeutig war, hättet ihr ja auch ganz locker darüber sprechen können. Und mal mit mir reden, statt immer nur über mich.“

Anja war nicht so hilflos wütend, wie sie es bei ihrer Mutter im Krankenzimmer gewesen war, denn im Prinzip bestätigte das, was Almuth gerade erzählt hatte, nur ihre eigenen Vermutungen. Alle hatten es gewusst und sie wie ein kleines Dummchen behandelt. Aber sie wollte ihre Schwestern wissen lassen, dass sie mit dieser Behandlung nicht einverstanden war, und so schlug sie die Küchentür hinter sich zu und rannte in ihr Zimmer.

Zwischen Almuth und Astrid herrschte betretenes Schweigen. Nachdem Astrid noch einmal vorsichtig an Anjas Zimmertür geklopft und keine Antwort bekommen hatte, verließen die beiden gemeinsam das Haus. Anja würde sich schon wieder beruhigen, schließlich konnten sie beide am allerwenigsten für diesen Schlamassel, also konnte Anja auch nicht wirklich auf sie wütend sein. Sie würden ihr ein wenig Zeit zum Nachdenken lassen, dann würde sich schon alles wieder einrenken.

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