Читать книгу Polderblues - Susanne Tammena - Страница 3
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ОглавлениеDer tattrige Greis, der im Ansehen des Notars durch sein Gebrechen so tief gesunken war, litt keineswegs an Parkinson, sondern an den Folgen mehrerer Bandscheibenvorfälle im Brustwirbelsäulenbereich. Dabei war es vor dreißig Jahren sein ganzer Stolz gewesen, in seinem Milchviehbetrieb eine hochmoderne Melkschleuse einbauen zu lassen, deren Mittelgang einen Meter tiefer lag, um dem Bauern ein rückenschonendes Arbeiten zu ermöglichen. Es hatte ihm nichts genützt. Auf welche Expertenmeinung konnte man sich schon verlassen? Weder auf die der Handwerker noch auf die der Ärzte, heute wusste er das. Nach dem dritten Vorfall in nur fünf Jahren hatte ein eifriger Arzt im Frühjahr 2011 zur Operation geraten, und in völliger Unkenntnis der wirklichen Problematik willigte er ein und wähnte darin eine dauerhafte Lösung seines Problems. Die Bandscheibe konnte zwar entfernt werden, dabei wurde allerdings ein Nerv verletzt, und eben diese Verletzung führte zu dem Tremor im Nacken, den die Ärzte nach mehreren erfolglosen Behandlungsversuchen als irreversibel einschätzten.
Schlimmer noch war es, dass nur ein Jahr nach der Operation die Bandscheibe zwei Wirbel oberhalb der operierten Stelle aus den sie haltenden Bändern sprang, und das, obwohl er strengstens die ihm vom Arzt auferlegte 10-Kilo-Grenze beim Heben eingehalten hatte. Es war einfach beim Schuhanziehen passiert. Während er sich hinunterbeugte, rutschte sein Handstock, den er inzwischen immer bei sich trug, weil ihm der Tremor manchmal etwas Schwindel verursachte, von der Stuhllehne. Mit einer unbedachten Bewegung zur Seite versuchte er, ihn aufzufangen, um sich das spätere Aufheben auf allen vieren zu ersparen. Da durchzuckte ihn ein jäher Schmerz und ließ ihn aufschreien. Ich bin ein Wrack, dachte er und stöhnte zwischen zwei gepressten Atemzügen. Ich gehöre auf den Friedhof, mehr Zeit soll mir im Leben nicht beschert sein.
Mühsam kam er aus dem Sitzen in eine stehende Position, wobei der Rücken rund blieb und die Arme weiterhin in Richtung der Schuhspitzen baumelten, er vermochte sich nicht in eine andere Position zu bringen. Mit kleinen Trippelschritten schaffte er es bis zum Telefon im Arbeitszimmer und rief vor Schmerz zitternd einen Krankenwagen.
Hinrikus Boekhoff, von Nachbarn und Verwandten nur Rikus genannt – Freunde oder andere Bekannte gab es kaum – hatte sein ganzes Leben auf dem Polder verbracht. Sein Hof war der letzte auf dem Josefspolder, in einer Gegend, die so abseits und einsam war, dass es ein Notarzt niemals innerhalb der vorgeschriebenen neun Minuten schaffen würde, ihn zu erreichen. Im Norden und Westen wurde sein Land – fette grüne Wiesen, auf denen seine 100 Kühe grasten – nur noch vom Deich begrenzt, hinter dem der Dollart lag. Nach Süden und Osten hin schlossen sich der Landschafts- und der Heinitzpolder an den Josefspolder an, kilometerweite grüne Einsamkeit, in der nur eine Handvoll Bauern lebte.
Auf dem fruchtbaren Schwemmland der im achtzehnten und neunzehnten Jahrhundert eingedeichten Polder wurde vor allem Getreide angebaut, doch Rikus‘ Vorfahren waren aus Pogum gekommen, weiter östlich am Emsbogen gelegen, und hatten von dort ihre Vorliebe für die Milchwirtschaft mitgebracht. Das Leben mit dem Vieh war übers Jahr gesehen zwar anstrengender als der Getreideanbau und brachte nicht die gleichen Reichtümer, aber es folgte einem stetigeren Rhythmus, den Gezeiten gleich, und über Jahrzehnte hinweg hatte es den Boekhoffs ebenfalls ein gutes Auskommen gesichert, so zuverlässig, dass auch sie sich zu den Fürsten der Region zählen konnten. Doch das nützte Rikus jetzt wenig.
Beim letzten Mal hatte er seinen Hausarzt angerufen, dessen Sprechstundenhilfe ihm die freundliche Mitteilung machte, er könne um 11.20 Uhr zu einem Termin in der Praxis erscheinen. Daraufhin hatte er versucht, seinen Bruder Karl zu erreichen, der aber nicht zu Hause war. Seine Schwägerin versuchte, ihn auf den Nachmittag zu vertrösten, doch auf sein drängendes Bitten hin hatte sie sich ins Auto gesetzt und ihn dann direkt ins Krankenhaus nach Leer gefahren, der Notfall war zu offensichtlich gewesen.
Diese Schmach des Bettelns würde er sich dieses Mal ersparen. Er wollte nichts Böses über seine Schwägerin denken, sie war immer freundlich und hilfsbereit, aber so richtig warm werden konnte er mit ihr nicht. Nicht, dass er überhaupt in seinem Leben mit einer Frau richtig warm geworden wäre, aber so nannte man das wohl. Sophie schien aus Luft gemacht, statt aus warmem Fleisch und Blut. Und dann war sie auch noch Schriftstellerin, ein Beruf, der für Rikus so wenig begreiflich war wie der Aufbau einer Mondlandefähre. Früher hatte er sie einfach verhuscht genannt, aber das passte als Beschreibung nicht mehr zu einer Frau, die eine große Familie ernährte. Sie hatte es Karl sogar ermöglicht, seinen Beruf aufzugeben und sich ganz seinen Hobbys und den Kindern zu widmen. Und damit war Rikus in Gedanken beim schmerzlichsten Thema seines Lebens angelangt.
Er hatte keine Kinder, niemanden, der den Hof übernehmen konnte, auch niemanden, der ihn jetzt hätte ins Krankenhaus fahren können. Auf eine Frau hatte er gelernt zu verzichten, aber die Gewissheit, dass er ohne Nachfolger bleiben würde, bedrückte ihn schon seit vielen Jahren.
Seine Neffen Klaus und Heddo waren als Kinder oft bei ihm auf dem Hof gewesen. Mit dem Fahrrad waren sie die sieben Kilometer von ihrem Elternhaus am Charlottenpolder zu ihm herausgefahren, hatten ihm beim Kühe Treiben geholfen, später beim Güllen und Mähen. Das hatte so lange gedauert, bis die Mädchen interessanter wurden als die Trecker, und mit fünfzehn war endgültig Schluss gewesen. Und dieses Spiel hatte sich bei ihrem kleinen Bruder wiederholt. Klaus und Heddo hatten Beene schon einige Male mitgebracht und ihm dabei ganz nebenbei das Fahrradfahren über lange Strecken antrainiert, so wie es nur große Brüder können – ohne Mitleid mit seinen kurzen Beinen. Da war Beene erst fünf Jahre alt gewesen, und mit sechs kam er dann schon oft allein, trottete stundenlang hinter ihm her, besah sich alles genau und stellte selten, dann aber wichtige Fragen. Mit zehn war er eine gute Hilfe gewesen, mit vierzehn besser als mancher Hofhelfer. Aber Bauernjungen hatten es auch schwer. Wer in seiner Freizeit zu viel auf dem Trecker saß, der wurde in der Schule schnell ausgegrenzt. Er selbst war deswegen in der Volksschule immer mit den Söhnen der Feenders vom Nachbarhof und den Saathoffs aus Boen zusammen gewesen, und sogar Karl hatte sich erst während der Ausbildung einen anderen Freundeskreis zugelegt.
Soweit Rikus es wusste, war Beenes bester Freund noch immer Hauke Seitz, dessen Eltern in Weener eine Lackiererei hatten. Und Hauke hatte Beene auch auf andere Freizeitideen gebracht, Rollerfahren und Herumhängen hinter dem Supermarkt an der Hauptstraße, Rauchen und Biertrinken. Wirklich schade, er mochte den Jungen, doch in den letzten Jahren war er kaum noch vorbeigekommen.
Und jetzt studierte er Sozialwissenschaften, worunter sich Rikus ähnlich wenig vorstellen konnte wie unter Sophies Schriftstellerei. Doch sicherlich war es eine Tätigkeit, bei der man nicht vor die Tür trat, um den wunderbaren Duft frisch gemähten Grases einzuatmen, den der Junge früher so geliebt hatte. Aber er war ja nur der Onkel, er mischte sich da nicht ein.
"Er wird schon wissen, was er will", hatte Karl ihm geantwortet, als Rikus nach Beenes Zukunftsplänen gefragt hatte.
Sein Bruder hatte gut reden. Bei seinem Überschuss an Nachwuchs konnte er es sich leisten, den einen oder anderen aus den Augen zu verlieren. An den Hof und an ihn dachte er dabei aber anscheinend nie. Rikus schnaubte. Er hatte sich schwer auf dem Schreibtisch abgestützt, auf dem das Telefon im Arbeitszimmer stand, und langsam begannen seine Hände zu kribbeln. Als er jedoch versuchte, seine Position ein wenig zu ändern, durchzuckte ihn erneut der Schmerz und er bereute, es versucht zu haben.
Außer den Jungen hatte sein Bruder noch zwei Töchter. Elsa, die Älteste, war Krankenschwester geworden. Vielleicht hätte er sich mehr für das Mädchen interessieren sollen, dann hätte sie jetzt vielleicht ein Auge auf ihn gehabt, doch seit dem Tod der Großeltern war sie nicht mehr auf dem Hof gewesen. Insa, die Jüngere, musste jetzt ungefähr siebenundzwanzig sein und studierte noch immer Kunst in Groningen. Was man wohl tat, wenn man Kunst studierte, fragte Rikus sich nicht zum ersten Mal. Ob man sich Bilder in Museen anschaute und versuchte, die Maler zu verstehen? Das Wort studieren musste wohl einen tieferen Sinn haben, als das Malen zu üben. Das wäre doch eher ein Lehrberuf.
Es war nicht so, das Rikus für künstlerische Tätigkeit unempfänglich war. Im Gegenteil, er liebte schöne Bilder, besonders die Seestücke seiner Eltern, die in der Upkamer hingen. Gleichzeitig fürchtete er sich geradezu vor den seltsam verkrüppelten Gestalten eines Maxim Kantor oder den schmerzverzehrten Gesichtern Edward Munchs. Er hatte diese nie in Ausstellungen gesehen, aber Karl hatte einige Kataloge zur Lektüre neben der Toilette liegen, und die wenigen Motive, die er beim Durchblättern gesehen hatte, verfolgten in noch nach Monaten. Rikus verlangte es nicht nach den dunklen Seiten des Lebens, auch die Fernsehnachrichten stellte er oft ab, wenn zu viele Kriegsberichte gesendet wurden.
Er fühlte außerdem eine gewisse Ehrfurcht vor den großformatigen Gemälden seines Bruders, die mit kühnen Pinselstrichen und kräftigen Farben weite Landschaften zeigten, manchmal auch Tiere oder Details aus der Natur. Besonders das in Grün- und Grautönen gehaltene Bild der alten Pappelallee, durch deren Spitzen der rot geklinkerte Hof, sein Hof, schimmerte, hatte es ihm angetan. Es hing in Karls Diele, ganz allein an einer großen Wand.
Karl hatte nie Kunst studiert. Er hatte ausprobiert, wieder übergemalt, Neues probiert und dadurch gelernt. Das gefiel Rikus, das war grundsolide. Auch ein Lehrer, der Techniken vermittelte wie ein Steinmetz- oder Tischlermeister, konnte nützlich sein. Aber ein Professor, der vorn dozierte? Wie sollte der seiner Nichte etwas beibringen können? Ein Professor stellte sicher noch windigere Expertisen als ein Arzt. Insas lange Studienzeit, die noch immer nicht von einem Abschluss gekrönt war, schien Rikus recht zu geben. Und ein Bild hatte er von ihr auch noch nie gesehen.
Inzwischen lief ihm vor Schmerz der Schweiß in Strömen über Nacken, Brust und Bauch. Er konnte nicht richtig Luft holen, seine Lunge schien eingeklemmt zu sein, und sein nach unten hängender Kopf bescherte ihm inzwischen ein heftiges Flimmern vor den Augen. Er fürchtete schon, bewusstlos zu werden, als er endlich den Krankenwagen auf den Hof fahren hörte und aus dem Augenwinkel das Blaulicht wahrnahm.