Читать книгу Polderblues - Susanne Tammena - Страница 13
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ОглавлениеDie Fahrt mit dem Bus hatte Anja zwanzig Kilometer durch eine völlig zersiedelte Landschaft geführt, durch Dörfer, deren Neubaugebiete immer mehr aneinanderwuchsen, sodass deren Grenzen nur noch durch die gelben Schilder am Straßenrand zu erkennen waren. Doch seit Beene nach rechts von der Bundesstraße in Richtung Norden abgebogen war, wurde die Gegend immer einsamer.
Wie aufgereihte Perlen erschienen die Polderhöfe jetzt mal im Abstand von fünfzig, mal von fünfhundert Metern voneinander entfernt an der Straße, die sich über mehrere Kilometer schnurgerade durch die Wiesen zog. Dazwischen erstreckte sich das dazugehörige Land, der Hammrich. Meistens waren es Getreidefelder, hier und da durch ein Kohlfeld unterbrochen, aber manchmal auch Weideland für Milchkühe.
Die Straße säumten links und rechts lange Reihen windschief nach Osten geneigter Pappeln, die den Blick in den Himmel zwar etwas begrenzten, dem ewigen Westwind aber kaum Einhalt gebieten konnten. Am Rande der Gräben zur Landentwässerung, die die Weiden und Ackerflächen durchschnitten, wuchsen gelegentlich einige Büsche, die dem Mähwerk der Trecker entgangen waren. Doch insgesamt war das Land nur von grünem Flor bedeckt und ansonsten kahl.
„So kahl und nackt, dass die Enten, die sich im Winter auf die zugefrorenen Gräben setzen, vom rauen Wind einfach fortgeblasen werden“, erzählte Beene ihr.
Immer wieder hatte er in den letzten Wochen im Geiste den Fremdenführer gespielt, um ihr sein Zuhause zu präsentieren. Dass sie nun tatsächlich neben ihm saß und seinen Erzählungen lauschte, erschien ihm wie ein Wunder, und er redete seit ihrer Abfahrt aus Bunde beinahe ohne Unterlass. Dafür, dass er ihr ausgerechnet die Geschichte von den Enten im kältesten Winter erzählt hatte, hätte er sich allerdings sofort ohrfeigen können, nachdem es ihm herausgerutscht war. Schließlich wollte er sie nicht gleich das Fürchten lehren. Er schwieg einen Moment, bis ihm wieder etwas Positives einfiel, auf das er hinweisen konnte.
Jeder Hof stand auf einer leichten Erhebung, sodass die reich mit Türmchen, Lisenen und Gesims verzierten Giebel zwischen den gebeugten Pappeln hindurch hoch in die unendliche Weite schauten. Auf Land gebaut, das durch Eindeichungen vor dem Einfluss des Meeres geschützt wurde, war es für den Hochwasserschutz nicht mehr unbedingt nötig gewesen, die Gebäude auf Hügel zu setzen. Doch häufig stand auf den tief gelegenen Wiesen und Äckern im Winter wochenlang das Wasser. Wer es sich im neunzehnten Jahrhundert leisten konnte, baute sein Haus so hoch, dass nur in seltenen Fällen das Wasser im Hochkeller stand.
„Und ein Polderbauer konnte es sich leisten“, versicherte Beene. „Der fette Marschboden hat sie so reich gemacht, dass in der ärmeren Bevölkerung das Gerücht umging, auch ihre Kuhställe seien mit Perserteppichen ausgelegt. Sie wurden hier Polderfürsten genannt.“
Die Pappeln hatten noch nicht alle Blätter verloren, die verbliebenen rauschten im Wind und brachten das Sonnenlicht zum Flimmern. Anja konnte sich für die Stimmung, die dieses unruhige Schillern über die ansonsten so strenge Landschaft legte, weitaus mehr begeistern als für die Vorstellung eines Perserteppichs im Kuhstall. Glücklich versonnen über die sanfte Aufheiterung ihres trüben Gemütes lauschte sie Beenes Ausführungen über Land und Leute nur mit einem Ohr. Die Wärme im Auto hatte sie in milde Schläfrigkeit gehüllt.
In der Ferne war jetzt schon der Deich zu sehen, der in einem weiten Bogen das Land umschlang. Das Rheiderland endete nicht am Josefspolder. Nur wenige hundert Meter westlich der Straße verlief die Grenze zu den Niederlanden und dort setzte sich die Polderlandschaft unter dem Namen Reiderland fort.
„Nur das ‚h’ ist ihm an der Grenze abhandengekommen“, erzählte Beene lächelnd.
Es erschien ihm fast unglaublich, dass sie noch nie hier gewesen war, nur 20 Kilometer von ihrer Heimatstadt entfernt, aber so ging es wohl vielen Leeranern. Als der Deich nur noch etwa hundert Meter entfernt war, hatten sie das Hoftor erreicht und Beene bog nach rechts in die Einfahrt ein.
Beeindruckt blickte Anja an der Fassade des Hauses empor. Sicher, es war ein Bauernhof, aber man konnte deutlich den Reichtum erkennen, mit dem er einmal gebaut worden war. Die Verzierungen waren eines Schlosses würdig und die drei Türmchen an der Giebelfront aus dunkelrotem Backstein, zwei auf Traufhöhe und ein breiterer mittig am First, ließen deutlich erkennen, dass Adelshäuser hier Modell gestanden hatten.
Ein neueres großes Stallgebäude lag etwa um die halbe Hauslänge von der Straße zurückgesetzt, wobei die Hauslänge in diesem Fall fast fünfzig Meter ausmachte, denn das Herrenhaus ging an seiner Rückseite direkt in einen um etwa zehn Meter breiteren Stallanbau über. Der durchgängige First war 45 Meter lang und nur unterbrochen von den Schornsteinen, die oben aus dem Wohntrakt ragten.
Beene parkte das Auto an der Nordseite des Vorderhauses, an der eine breite Treppe aus großen Sandsteinblöcken zu einer gigantischen zweiflügeligen Eingangstür führte. Anja schätzte sie auf bestimmt zwei Meter Breite und drei Meter Höhe. Sie war dunkelgrün gestrichen und hatte ein großes Oberlicht, in dem kleine Buntglasscheiben mit ziseliertem Blattmuster zu Mosaikblumen zusammengesetzt waren. Nachdem Anja eine Weile gestaunt hatte, folgte sie Beene die Stufen hinauf. Schon fast enttäuschend erwies sich der in dem großen Portal zu öffnende Türflügel als eine Haustür mit normalen Ausmaßen.
In dem hohen Flur, der dahinter lag und das Haus einmal über die komplette Breite durchlief, standen eine große dunkle Kommode und ein Kleiderständer, und auf den Steinfliesen lag ein abgetretener Läufer, der den Boden fast vollständig bedeckte, ansonsten war er leer. An seinem Ende befand sich ein Fenster in der Außenwand, das ähnlich unterteilt und mit Buntglasscheiben verziert war wie die Eingangstür, links daneben führte eine geschwungene Treppe ins Obergeschoss.
Angezogen vom Licht ging Anja zum Fenster. Auf der Südseite des Hauses lag eine Obstwiese, an die sich zur Straße hin ein Bauerngarten anschloss, der völlig verwildert schien. Doch unter den Bäumen war ordentlich gemäht, und in einiger Entfernung ging der Garten in den offenen Hammrich über. Zwischen dem lichten Geäst der Apfelbäume sah Anja eine Wasserfläche glitzern.
„Oh, ein See!“, rief sie begeistert. „Kann man da schwimmen?“
„Nein, das ist nur eine etwas größere Pfütze“, erläuterte Beene. „Dort wurde früher einmal Klei abgebaut, für den Deichbau. Das Wasser ist nur ungefähr einen Meter tief, aber weil der Untergrund so lehmig ist, versickert es nicht. Und es ist hier auch nie so lange trocken, dass das Wasser ganz verdunsten würde. Wir nennen ihn Schwanenteich.“
„Hat das eine Bedeutung? Ich sehe keine Schwäne.“
„Doch, eigentlich waren immer welche da“, entgegnete Beene und stellte sich neugierig zu Anja ans Fenster, doch die leichte Berührung ihrer Schultern dabei, obwohl nur durch dicke Winterjacken gefühlt, machte ihn nervös. Die Erinnerung an den Eindruck, den ihre körperliche Nähe bei seinem Besuch in der Lessingstraße auf ihn gemacht hatte – sie hatten nebeneinander in der Hollywoodschaukel gesessen, dicht genug, um ihn von Zeit zu Zeit durch einen leichten Windstoß das Kitzeln ihrer Haare auf seiner Wange spüren zu lassen, und es war ihm jedes Mal wie eine von ihr sorgsam dosierte Zärtlichkeit vorgekommen, die in ihm den Wunsch nach mehr weckte – hatte dafür gesorgt, dass er bisher versucht hatte, etwas Abstand zu halten, aber das ließ sich auf die Dauer kaum durchhalten, ohne dass es komisch wirkte. Als sie angerufen hatte, war er begeistert gewesen, geradezu euphorisch, dass sie kommen würde, aber bereits auf der Rückfahrt von Bunde war dieses Hochgefühl verflogen. Was erwartete sie von ihm, weshalb kam sie ausgerechnet zu ihm? Nur weil er am Ende der Welt wohnte oder war er ihr tatsächlich auch sympathisch? Er konnte es nicht recht einordnen. Bei jemandem unterzuschlüpfen, war auf jeden Fall schon einmal ein Vertrauensbeweis, dieser Gedanke munterte Beene etwas auf.
Von ihrem Haar stieg ein leichter Blütengeruch in seine Nase, und er musste sich zusammennehmen, um nicht sein Gesicht in dieser traumhaften roten Wolke zu versenken. In den Bewegungen ihrer schlanken Gestalt lag eine leichte Anmut, die Beene bezauberte. Wenn er darüber nachdachte, war es schon der Schwung gewesen, mit dem sie sich im Zug über seine Beine hinweg auf den gegenüberliegenden Sitz hatte fallen lassen, der dunkelgrüne Stoff ihres Kleides für einen Moment zur Wolke gebauscht, der ihn sofort in ihren Bann gezogen hatte. Tief durchatmend trat er einen Schritt zurück und öffnete eine der beiden Türen, die in die vorderen Räume, die „guten Stuben“, führte.
„Hier ist die Upkamer“, sagte er betont sachlich, „das Wohnzimmer, das ich benutze. Man kann es aber vergrößern, indem man hier die Zwischentür öffnet, dann hat man einen richtig großen Partyraum.“
Er demonstrierte Anja, was er meinte, indem er eine große doppelflügelige Tür öffnete, hinter der ein Esszimmer zum Vorschein kam. Jeder Raum für sich genommen war schon fünfundzwanzig Quadratmeter groß, miteinander verbunden vermittelten sie ein Gefühl herrschaftlicher Großzügigkeit. Vier große zweiflügelige Fenster, deren Oberlichter mit Stichbögen versehen waren, boten nach Westen einen grandiosen Ausblick über die Straße in den Hammrich, ein fünftes auf der Nordseite des Doppelraumes den Blick in den Hof. Im Wohnzimmer befand sich auf der Südseite ein weiteres Fenster, das mit seinen Buntglasscheiben und Unterteilungen exakt dem Flurfenster entsprach.
„Wow, genialer Raum!“
Mit leuchtenden Augen streifte Anja an der Fensterfront entlang und ließ ihre Finger über die hölzernen Fensterbänke gleiten, auf denen mehrere Schichten dicker weißer Lack lagen, die älteste über hundert Jahre alt, und einige Millimeter Staub, der wahrscheinlich neueren Datums war.
„Sieht allerdings so aus, als könnte hier mal ein bisschen frischer Wind herein.“
Beene schaute sie verständnislos an. Mit einem verschmitzten Lächeln machte sie eine weitausholende Bewegung, die die gesamte Einrichtung einzuschließen schien, und zeigte ihm dann ihre schwarze Fingerspitze. Beene wurde verlegen.
„Na ja, ich bin hier nicht so oft. Und ich habe natürlich auch keine eigenen Möbel gehabt, als ich hier eingezogen bin. Das hier ist alles von Rikus, wahrscheinlich sogar noch von meinen Großeltern.“
In der Südwestecke des Raumes stand ein steifes dunkelbraunes Ledersofa mit zwei dazu passenden Sesseln, dazwischen ein niedriger Tisch aus rustikalem Eichenholz. Auf einem der Sessel lag eine lilafarbene Kunstfaserdecke als Sitzschoner. Auch die Esszimmermöbel waren aus dunklem Eichenholz und mit braunem Leder bespannt und sicher einmal sehr teuer gewesen. Jetzt wirkten sie nur noch altmodisch und klobig, ohne den Charme echter Antiquitäten zu besitzen. Ein leicht muffiger Geruch hing im Raum, der wahrscheinlich von den vielen Läufern und Brücken aufstieg, die um die Möbel herum und zum Teil darunter lagen. Ein buntes Sammelsurium falscher Orientteppiche in allen erdenklichen Farben und Mustern verdeckte zum Großteil die grau gestrichenen Fußbodendielen. Vielleicht haben die einmal im Kuhstall gelegen, dachte Anja und musste bei dem Gedanken grinsen.
Beene folgte ihren neugierigen Blicken und entschuldigte sich für das eine oder andere. Doch Anja winkte ab. Es tat ihr leid, ihn in Verlegenheit gebracht zu haben und wirklich grässlich fand sie nur den großen Wohnzimmerschrank, ebenfalls aus rustikalem Eichenholz mit kleinen gelben, in Blei gefassten Scheiben in den oberen Türen. Die Räume waren mit Raufaser tapeziert und weiß gestrichen,und an den Wänden hingen mehrere Seestücke, alle sehr dekorativ, und eine gerahmte Landkarte von der Emsmündung und vom Dollart. Es handelte sich offensichtlich um eine historische Karte, auf der die verschiedenen Stadien der Landgewinnung durch die Eindeichungen verzeichnet waren. Interessiert blieb Anja davor stehen und suchte den Josefspolder, wurde aber nicht fündig. Als hätte er ihre Gedanken gelesen, gab Beene ihr die Erklärung.
„Auf dieser Karte gibt es den Josefspolder noch nicht.“
Er trat zu ihr und zeigte auf die Gegend nördlich von Bunde.
„Das hier ist der Landschaftspolder, so heißt er aber erst, seit die Ostfriesische Landschaft das Gebiet dem Königshaus Hannover abgekauft hat. Oder den Preußen? Ich weiß es nicht mehr genau, aber auf jeden Fall im 18. Jahrhundert, bis dahin hieß er Königspolder, wie es hier steht.“
„Dann ist die Karte schon über zweihundert Jahre alt?“
Anja betrachtete sie mit neuer Ehrfurcht. Beene nickte.
„Älter als das Haus. Das wurde nämlich erst nach der letzten Eindeichung 1877 gebaut, als der Josefspolder entstand. Mein Opa hat die Karte von einem Oberdeichrichter geschenkt bekommen, mit dem er befreundet war, ich glaube, zu seinem vierzigsten Geburtstag. Komm, ich zeig‘ dir jetzt mal den Rest des Hauses.“
Vom Flur aus führten noch zwei kleinere Türen in die Räume, die weiter im Inneren des Hauses lagen: ein Arbeitszimmer, dessen Fenster sich zum Hof hin öffnete, und daneben eine innenliegende Gästetoilette, die wohl erst nachträglich eingebaut worden war. Im rechten Winkel zu dem großen Hauptflur zweigte dahinter ein schmaler unbeleuchteter Gang ab, der das ganze Haus der Länge nach zu durchlaufen schien, ohne ein Fenster oder Oberlichter in den Türen zu angrenzenden Räumen.
„Hier geht es in die Katakomben des niederen Volkes“, witzelte Beene und ging voran.
Direkt an der Ecke, auf der rechten Seite des dunklen Flurs, lag das Badezimmer, ein langer schmaler Raum, lichtdurchflutet durch ein großes Fenster an seiner Stirnseite. An der rechten Wand konnte man erkennen, dass die Treppe, die ins Obergeschoss führte, etwas in den Raum ragte. Unter dieser Schräge war die Badewanne eingebaut, Dusche, Waschbecken und Toilette befanden sich an der gegenüberliegenden Wand. Anja schätzte, dass das Bad vor etwa dreißig Jahren modernisiert worden war, die Kacheln waren neutral in beige gehalten.
„Vorsicht, Stufe!“, rief Beene, als sie sich, von dem hellen Licht im Badezimmer noch etwas geblendet, in dem dunklen Flur weiter vorwärtstastete. Tatsächlich hatte der Gang auf halber Strecke einen Absatz von zwei Stufen.
„Tut mir leid, die Glühbirne ist kaputt“, sagte Beene entschuldigend.
Hinter den Stufen lag zur linken Seite ein ungemütliches, in Grau gehaltenes Schlafzimmer. Die Fenster zum Hof waren mit Tüllgardinen verhängt, die über Jahrzehnte die Farbe von Staub angenommen hatten, aber vielleicht hatten sie diese Farbe auch schon immer gehabt. Beene konnte die Beklemmung, die Anja in dem Raum verspürte, von ihrem Gesicht ablesen und zog die Tür sofort wieder zu.
Dem Schlafzimmer gegenüber lag die Küche, und es war leicht zu erkennen, dass Beene hier sein Leben verbrachte. Die Einrichtung war zwar etwas aus der Mode gekommen, aber in freundlichen Farben gehalten. Ein alter Küchenschrank aus hellem Holz stand links neben der Tür, auf der rechten Seite befand sich eine Einbauküche, die etwa so alt war wie das Badezimmer, aber ebenfalls eine helle Holzfront hatte, die kaum gealtert zu sein schien. Das Beste war allerdings das Ostfriesensofa, das an der linken Wand des Raumes stand und von dem aus man in den Garten schauen konnte. Auf seinen Lehnen lagen einige zerknüllte Decken, die dazu einluden, es sich hier gemütlich zu machen. Das Sofa hatte eine normale Sitzhöhe und davor stand der Tisch mit einigen alten Holzstühlen darum herum.
Anja fiel auf, dass der Ausblick aus diesem Fenster anders war als der aus der Upkamer. Den Schwanenteich konnte sie von hier aus nicht sehen. Das musste wohl am Höhenunterschied liegen, denn in der Richtung, in der Anja das Gewässer vermutete, versperrten einige Weißdornbüsche den Blick. Sie stellte ihren Rucksack ab, dann ließ sie sich auf das Sofa fallen und legte ungezwungen ihre Füße auf einen der Stühle. Sie war mit einem Mal so erschöpft, dass sie glaubte, nicht länger stehen zu können.
„Ich mache erst einmal Tee, dann kannst du mir ja mal erzählen, was los ist“, sagte Beene aufmunternd und machte sich an den Schränken zu schaffen. Während Anja ihre Augen schloss, um die Sonne zu genießen, die ihr mitten ins Gesicht schien, und versuchte, den Stress des Vormittags von sich abfallen zu lassen, hatte Beene Zeit, sie noch einmal anzuschauen, ohne sich zu unverschämt zu fühlen. Sie war blasser als bei ihrem letzten Treffen, natürlich, es war schon fast Winter. Aber unter ihren Augen waren auch dunkle Ringe zu sehen und ihr Gesicht wirkte schmaler. Beene stellte die Teetassen auf den Tisch und kramte aus einem der Küchenschränke eine Packung Schokokekse hervor. Anja ließ sich nicht stören. Erst als Beene einen Stuhl vorzog, um sich zu ihr an den Tisch zu setzen, begann sie mit geschlossenen Augen und flacher, müder Stimme zu sprechen.
„Meine Mutter ist gestern beerdigt worden.“
„Oh!“
Beene wollte noch etwas hinzufügen, was angemessen nach Beileid klang, doch Anja winkte ab.
„Nein, das ist nicht der Grund, aus dem ich hier bin. Eigentlich ...“, sie zögerte einen Moment, bevor sie sich entschied den Satz anders zu Ende zu bringen als ursprünglich vorgehabt, „... eigentlich möchte ich nicht darüber sprechen. Ich muss erst einmal selbst darüber nachdenken.“
„Okay, kein Problem“, beteuerte Beene. „Ich habe ja gesagt, hier ist Platz genug für zwei. Und zur Schule kannst du den Bus nehmen.“
„Ich habe mich abgemeldet“, entgegnete Anja.
Sie hatte ihre Augen noch immer geschlossen und die rötliche Dunkelheit, die sie dabei umgab, passte auf ergreifende Art und Weise zu der angenehmen Leere, die sie gerade in ihrem Innern fühlte. Sie wollte nur hier sitzen bleiben, den ganzen Rest ihres Lebens, alles andere war egal.
„Abgemeldet?“, fragte Beene erstaunt. „Aber wieso?“
Anja wollte nicht antworten, allein das Sprechen erschien ihr zu anstrengend, und noch viel anstrengender war es, die passenden Worte zu finden für ein Gefühl, das sie selbst noch nicht recht verstand. Sie zögerte ihre Antwort so lange hinaus, wie es ihr möglich erschien, ohne die Regeln der Höflichkeit zu verletzen, dann seufzte sie tief und rückte aus ihrer Sonnenecke etwas zu Beene an den Tisch heran.
„Ich wollte einfach komplett verschwinden, verstehst du? Mich unsichtbar machen, ohne wirklich abhauen zu müssen. Ich wüsste nämlich nicht, wohin ich sonst gehen sollte, also außerhalb von Leer. Und außerhalb der Familie. Wenn ich weiter zur Schule gehen würde, könnten meine Schwestern mich dort immer abfangen.“
„Hattet ihr Streit?“
„Ja, aber es ist auch nicht nur der Streit ...“
Anja zögerte.
„Ich brauche einfach eine Auszeit. Auch von meinen Freunden, von meinem Leben in Leer, von allem.“
Ihre Vorstellung vom Verlassen eines Kokons, der keinen Schutz mehr bot, ihre Idee von einem Neuanfang verschwieg sie Beene. Es erschien ihr doch zu pathetisch, zu gewichtig, außerdem hielt sie selbst den Josefspolder kaum für den richtige Ort, um ein neues Leben zu beginnen. Das Bild des Untertauchens passte hier besser.
„Okay.“
Beene insistierte nicht weiter.
Dann zählt sie mich wohl nicht zu ihren Freunden und ich bin gerade nur ein gutes Mittel zum Zweck, dachte er bei sich. Er versuchte, sich seine Enttäuschung nicht anmerken zu lassen, und wechselte das Thema.
„Wollen wir vielleicht noch einen Spaziergang zum Deich machen, bevor ich nachher melken muss? Oder möchtest du dich vielleicht etwas hinlegen?“
Die Vorstellung war sehr verlockend, aber Anja schauderte es beim Gedanken an das graue Schlafzimmer, also entschied sie sich lieber für den Spaziergang.
Auf dem Weg nach draußen schlossen sie die Besichtigungstour durch das Haus ab. Kurz hinter der Küche endete der dunkle Gang an einer Tür, die in die ehemalige Waschküche führte, und hinter dieser Tür gab es noch einmal zwei Treppenstufen, die sie innerhalb des Hauses wieder bis auf Höhe der Straße hinunterbrachten. Im hinteren Bereich des Raumes konnte man mit Brettertüren zu verschließende Holzeinbauten, die Butzen, erkennen, in denen früher das Gesinde geschlafen hatte, heute standen hier nur noch eine ganze Reihe Gummistiefel und eine Waschmaschine.
Hinter der Waschküche lag wieder ein Gang, der zur alten Melkkammer und in den Stallteil führte, in dem heute aber keine Kühe mehr standen, sondern nur noch Heu und Stroh lagerten, der Trecker und andere Maschinen untergestellt wurden und der für Anja eine weitere Überraschung bot.
Ostfriesische Bauernhäuser waren als Gulfhöfe konstruiert. Wie die Säulen einer Kathedrale trugen zwei Reihen schwerer Eichenständer die Dachkonstruktion des Stalls und unterteilten ihn räumlich in den mittig liegenden Gulf, die Diele und den Viehstall, die links und rechts davon lagen wie die Seitenschiffe in einer Kirche. Als Gulf wurde dabei nicht nur das gesamte Mittelschiff des Bauwerks bezeichnet, sondern auch jedes einzelne Geviert, dass sich aus zwei Ständerpaaren ergab, die durch Quer- und Längsbalken miteinander verbunden waren. Der Hof der Boekhoffs hatte sechs Gulfe. Jeder Gulf war neun Meter breit und sechs Meter lang, woraus sich die Gesamtlänge des Stalls von sechsunddreißig Metern ergab.
Anja und Beene hatten den Gulf durch eine Verbindungstür betreten, die links neben dem großen Dielentor lag, durch das der Trecker vom Hof aus hereingefahren werden konnte, und Anjas Blick ging durch die volle Länge der Diele und zum zwölf Meter hohen First hinauf. Sie hielt für einen Moment die Luft an und bewunderte die Konstruktion des Ständerwerks. Parallel zu den großen Stützpfeilern wurden Diele und Viehstall jeweils noch von einer Reihe kleinerer Ständer durchzogen, die etwa zwei Meter vor den seitlichen Mauern verliefen und ebenfalls Längsbalken trugen.
Am oberen Ende eines jeden Ständers zweigten vier Querverbindungen ab, die schräg die aufliegenden Balken hielten. Diese sogenannten Kopfbänder wirkten wie aufgesetzte Kronen und hoben den Eindruck rechtwinkliger Verbindungen auf. Sie verliehen der gesamten Konstruktion etwas Rundes, Kuppelartiges, ein hohes breites Gewölbe lag mittig, zwei niedrigere und schmalere links und rechts davon. Insgesamt war es ein Meisterwerk der Zimmermannskunst, von dessen Existenz Anja vorher noch nie etwas gesehen oder gehört hatte.
„Wahnsinn! Sind alle Höfe hier so gebaut?“, fragte sie mit leuchtenden Augen und Beene nickte stolz.
Auf den Längsbalken ruhten in achtzig Zentimetern Abstand voneinander die Sparren. Nach oben liefen die Speere, die sich im First trafen und etwas unterhalb durch die querlaufenden Hahnenbalken zusätzlich miteinander verbunden waren, nach unten die Uplanger, die bis zu den niedrigen Seitenwänden hinunterreichten. Jeder dieser Sparren war mindestens acht Meter lang, insgesamt mussten es Tonnen von Holz sein, die hier verbaut waren.
In das Dach waren etliche Glasziegel eingelegt und diffuses Sonnenlicht zog in Bahnen durch den Raum und verstärkte den Eindruck geheimnisvoller Großartigkeit. Langsam gingen sie die Diele entlang.
Auf der Diele selbst stand nur der Trecker, doch im hinteren Bereich war seitlich der Kälberstall eingebaut, ein Bretterverschlag zwischen drei der niedrigeren Balken und der Außenmauer. Im mittigen Gulf waren große Heuballen aufgestapelt, die Blick und Durchgang von der Diele zum rechts liegenden Viehstall versperrten. Anja und Beene gingen bis zum ehemaligen Pferdestall an der rückwärtigen Giebelwand. Hier standen Gartengerätschaften und alte Plastikstühle herum sowie allerlei Kram, den Anja am ehesten für Sperrmüll hielt.
Ein Durchgang führte auf die andere Seite des Stalls, und wenn man von hier aus den Blick zurück auf das Wohnhaus richtete, konnte man einen Dachboden erkennen, der über den Wirtschaftsräumen lag und auf dem kleine rechteckige Strohballen gestapelt waren.
Auf der Südseite lag der ehemalige Kuhstall. Die Anbindestellen waren noch deutlich durch die in die Wand eingelassenen Ringe und die gemauerten Tränken erkennbar, der Boden war dort, wo das Vieh gestanden hatte, aufgemauert und mit Klinkern gepflastert. Zwischen Gang und Boxen lag die tiefe Rinne für den Mist, die bis zur Hintertür führte und dort in ein Rohr mündete, das unter der rückwärtigen Giebelwand hindurchlief.
Der Stall wurde seit Jahrzehnten nicht mehr benutzt und über allem lag eine dicke Schicht aus Staub, doch ursprünglich war alles einmal gut gereinigt worden, als die Tiere umzogen. Anja schaute sich die Tränken und Ablaufrinnen interessiert an, und Beene konnte ihr noch einige zusätzliche Dinge erzählen.
„Früher wurden die Ställe alle mit einem Gefälle von zwei Prozent gebaut. Das hat man gemacht, damit das Getreide vom Boden automatisch in Richtung Stall rutschte. Das lag früher dort oben.“
Beene zeigte nach oben, wo die Strohpacken lagen.
„Außerdem lief der Urin durch die Pinkelrinne automatisch nach draußen, und auch das Schieben des Kotes in Richtung Misthaufen war nicht so anstrengend.“
„Aber der First des Hauses läuft doch durch. Ist das Vorderhaus dann auch schief?“, fragte Anja erstaunt, doch Beene lachte.
„Nein. So richtig schief sind zwei Prozent auch noch nicht. Aber wenn du genau hinschaust, kannst du von außen den kleinen Knick am First sehen, dort wo der Stall beginnt. Die Stallkonstruktion hält übrigens auch ganz allein. Sie ist zwar mit dem Vorderhaus verankert, aber man könnte ringsherum alle Wände einreißen und trotzdem würde das Ständerwerk weiter das Dach tragen. Es ist so sicher konstruiert und mit Balkenmaßen versehen, die weit über dem liegen, was man heute für erforderlich hält, dass es den stärksten Stürmen standhält.“
Sie waren zurück in die Diele gegangen und Beene öffnete das Tor zum Innenhof. Auf der gegenüberliegenden Seite lag der neue Kuhstall, ein einfacher Zweckbau, schmucklos geklinkert und mit kleinen Betonrahmenfenstern versehen, aus dem ein strenger Geruch nach Silage, Mist und vergorener Milch drang, bei dem sich Anja sofort der Magen umdrehte. Obwohl sie nichts sagte, sah Beene es ihrem Gesicht an, dass er sich die Frage sparen konnte, ob sie ihn sich anschauen wolle.
Sie gingen über den Hof zurück zur Einfahrt, um zum Deich zu gelangen. Nach etwa zwanzig Metern verengte sich die Straße zu einem einspurigen Weg, der nahtlos in den Deichwehrweg überging. Kurz bevor sie den Deich erreichten, mussten sie über ein Metallgatter klettern, an dem zu diesem Zweck auf beiden Seiten Trittstufen angeschweißt waren.
„Rikus hat einen Schlüssel zum Tor, aber ich weiß nicht genau, wo er liegt“, sagte Beene entschuldigend.
Sie gingen noch etwa hundert Meter weiter, bis eine befestigte Auffahrt – die Deichrampe, wie Beene erklärte – vom Weg abzweigte und sie in sehr mäßiger Steigung den Deich hinaufführte. Anja wäre am liebsten auf direktem Weg zur Deichkuppe hochgerannt, aber das Gras war nass und von Schafskötteln durchsetzt, auch wenn im Moment keine Tiere zu sehen waren, sodass sie freiwillig auf der Rampe blieb. Als sie endlich oben ankamen, war die Aussicht enttäuschend. Vor ihnen erstreckte sich kilometerweit gelbes Schilfgras, und Wasser sah man nur weit entfernt am Horizont glitzern.
„Hier ist ja gar kein Wasser!“, rief Anja, die sich betrogen fühlte, obwohl Beene nur von Deich und nicht von Wasser gesprochen hatte. Aber was sollte man auch sonst hinter einem Deich vermuten?
„Ich hatte jetzt echt erwartet, dass hier die Nordsee dranschwappt.“
„Nein, das tut sie hier schon lange nicht mehr“, erklärte Beene. „Außer bei Sturmfluten natürlich, denn dazu ist der Deich ja da. Aber der Dollart verlandet in dieser Ecke schon seit Hunderten von Jahren. So sind auch die Polder entstanden. Immer wenn ein Teil der Bucht so weit verlandet war, dass sie bei normalem Hochwasser nur noch knapp überspült wurde, versuchte man, sie einzudeichen. Auf der Landseite hob man tiefe Gräben aus, um das Land dauerhaft zu entwässern. Manchmal ging alles gut, manchmal eroberte sich eine Sturmflut auch das Land zurück, wenn die Deichbauer nicht schnell genug waren. Heute werden zwar keine Polder mehr angelegt, aber die natürliche Verlandung geht weiter, unterbrochen von starken Sturmfluten, die manchmal ein bisschen was davon wieder wegreißen.“
„Ich dachte immer, die Menschen hätten dem Wasser hier Stück für Stück den Raum streitig gemacht, es sozusagen mit Bollwerken zurückgedrängt, um Lebensraum für Siedler zu schaffen“, bemerkte Anja mit einem verlegenen Lächeln über ihre naive Vorstellung von der Geschichte der Landgewinnung.
Beene lachte.
„Nein, so dramatisch war es, glaube ich, nicht. Dramatisch war wahrscheinlich das fünfzehnte Jahrhundert, als die Nordsee hier Land gefressen und bestimmt zwanzig Siedlungen mitgerissen hat. Damals ist der Dollart erst entstanden. Und dann haben die Cosmas- und Damiansflut 1509 und die Antoniflut 1511 ihn richtig groß gemacht. Wo lange Zeit Menschen gewohnt hatten, stand auf einmal das Wasser bis Bunde.“
„Aber das verstehe ich nicht so ganz“, hakte Anja nach. „Warum hat damals die Nordsee das Land gefressen und heute spuckt sie es dort wieder aus?“
Sie deutete mit einer weiten Armbewegung auf den Schilfgürtel vor ihnen.
„Das lag am Boden. Das Wasser hat damals Moorgebiete weggeschwemmt, die wahrscheinlich nicht eingedeicht und nicht einmal richtig entwässert waren. Genau weiß ich es nicht mehr. Das was hier jetzt anlandet, sind aber Kleisedimente, daraus wird sehr fruchtbarer Marschboden, wenn man ihn eindeicht. Und wenn er trocknet, ist er hart wie gebrannter Ton. Die Deiche sind daraus gebaut, nichts ist haltbarer. Selbst wenn eine große Sturmflut einen Teil des Deichvorlandes hier mitreißen würde, ganz würde es nicht verschwinden und in den Jahren danach wieder angeschwemmt werden.“
„Dann hat sich das Meer selbst einen Strick gedreht, indem es das weichere Moorland weggespült hat. Es ist an seiner eigenen Gier gescheitert“, schlussfolgerte Anja, während Beene sie amüsiert betrachtete.
„Wenn du es als eine Schlacht zwischen dem Meer und den Menschen betrachtest, mag das stimmen. Aber ich glaube, das Meer verfolgt keine Ziele, am wenigsten eine Vorstellung vom Sieg gegen die Menschheit. Das Meer denkt nicht, es ist einfach nur da, im ewigen Gezeitenrhythmus, mal mehr, mal weniger. Manchmal nimmt es etwas und reißt es mit sich fort, eine zufällige Laune der Natur. Und in diesem Fall hat es uns mal etwas geschenkt.“
Anja lachte.
„Eigentlich bin ich auch gar nicht so dramaversessen. Ich war nur enttäuscht, weil der Deich einfach nicht hält, was er verspricht.“
Mit gespieltem Trotz stampfte sie auf die Deichkrone.
„Vorsicht!“, warnte Beene mit vorgetäuschtem Entsetzen. „Sowas dürfen hier nur die Schafe mit ihren schmalen Füßchen machen und kein ausgewachsenes Ostfriesenweib.“ Anja boxte ihn kumpelhaft in die Seite und schaute sich dann nach allen Seiten um.
Auch im Westen, direkt hinter der Grenze, war ein Deich zu sehen. Dahinter lag allerdings kein Meer, sondern die Westerwoldsche Aa, die hier in den Dollart mündete und durch eines der vielen friesischen Wasserbauwerke, das Nieuwe Statenzijl, sicher vor den wilden Fluten der Nordsee geschützt war. Der kleinere Deich ging im Norden nahtlos in den Seedeich über, wodurch dessen Fortsetzung entlang der niederländischen Küste und auch das Siel vom Haus aus nicht zu sehen gewesen waren. Von ihrem erhöhten Standpunkt aus konnten sie nun erkennen, dass es auf der niederländischen Seite keinen Deich entlang des Flüsschens gab, aber anscheinend trauten die Ostfriesen der Niederländischen Sielbaukunst nicht allzu viel zu und meinten, sich noch einmal extra schützen zu müssen. Doch auf Anjas Frage konnte Beene diesmal nur mit seinen Schultern zucken.
„Keine Ahnung, wieso auf dieser Seite ein Deich ist und drüben nicht. Mein Wissen reicht nur bis zur Grenze“, gab er selbstironisch zu und musste lachen.
„Woher weißt du überhaupt diese ganzen Sachen über Landgewinnung und so? Interessierst du dich für Heimatgeschichte?“
„Nein, Heimatkunde. Ich hatte eine tolle Grundschullehrerin, die es uns erklärt hat. Und die Jahreszahlen und Namen habe ich wegen der Karte im Wohnzimmer nachgelesen, als ich hierhergezogen bin.“
„Wow, phänomenales Gedächtnis“, sagte Anja anerkennend. „Und was sind das für schräge Namen, Damiansflut und so?“ Beene zuckte mit seinen Achseln.
„Ich glaube, das sind katholische Heilige, und die Fluten hießen so, weil sie an den Namenstagen dieser Heiligen stattgefunden haben. Klingt auch besser als ‚Die Flut vom 10. Dezember‘ oder so. Ich weiß die Daten aber nicht genau.“
Beene zeigte auf eine große Holzhütte auf Stelzen, die in einiger Entfernung mitten im Schilf stand.
„Dort können wir demnächst einmal hinwandern, das ist die Kiekkaaste, ein Vogelbeobachtungshaus vom NABU. Von dort aus kann man auch über das Wasser schauen.“
Beene schaute auf seine Armbanduhr.
„Aber jetzt muss ich zurück, gleich kommt Hermi zum Melken.“
Anja schaut ihn fragend an.
„Wer ist das denn?“
„Ein leicht debiler Hofhelfer, den ich von meinem Onkel geerbt habe. Den kann ich leider nicht allein machen lassen.“
Die beiden machten sich auf den Rückweg. Dabei schauten sie in südlicher Richtung über das Grünland des Hammrichs, das sich hier noch viel weiter und flacher zu erstrecken schien als das Schilf auf der anderen Seite des Deiches. Über sie hinweg flog in Form einer langgestreckten Eins eine Schar Gänse, die sich anschließend schnatternd auf den Wiesen jenseits des Hofes niederließen.
„Die ersten Graugänse“, stellte Beene mit melancholischer Stimme fest. Der Winter kündigte sich an und bis zu den Enten auf den frostigen Gräben war es auch nicht mehr lang hin. Während sie zurückgingen, verabredeten sie, dass Anja schon einmal Kartoffeln schälen könnte, solange Beene melken musste; eine klassische Trennung der Zuständigkeitsbereiche, wie Anja lachend feststellte. Ihre depressive Stimmung war wie weggeblasen, sie fühlte sich so gut wie schon lange nicht mehr.