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5.

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Die Luft im Abteil war heiß und stickig, und es fiel Beene schwer, einen klaren Gedanken zu fassen, der über eine Art Notfallprogramm seines Hirns hinausging, das ihn schon den ganzen Tag mit einfachen Befehlen versorgte und so zumindest den Totalausfall verhinderte. Seinen Onkel würde er erst am nächsten Tag besuchen, so viel stand fest, obwohl es seinem Herzen der dringlichste Anlass gewesen war, der ihn nach Ostfriesland führte. Die Vorstellung von Rikus im Krankenhaus, ein Bild, das ihn schmerzte und gleichzeitig mit wilder, wehmütiger Trauer erfüllte, schien wie ein Relikt aus den Tagen kindlicher Gefühlswelten, die ansonsten längst verschüttet lagen unter den Bergen an Sorgen, die er in den letzten Monaten angehäuft hatte. Wie ein roter, geradezu beglückend einfach zu verfolgender Faden hatte sich die Sorge um Rikus durch die letzten Tage gezogen, und Beene hatte sich fest vorgenommen, so bald wie möglich mit ihm zu sprechen, denn sein Besuch sollte eine Rückkehr und ein Neubeginn zugleich sein, der rote Faden nicht nur Sorge, sondern auch der Hoffnungsschimmer, der ihn aus seiner neblig grauen Depression leiten sollte. Aber für heute waren andere Gespräche wichtiger.

Beene hatte Hauke darum gebeten, ihn in Leer vom Bahnhof abzuholen, danach konnten sie in ein Café gehen und reden, bevor Hauke ihn zu seinen Eltern nach Charlottenpolder brachte. Eine Stunde Fahrt hatte er noch vor sich, der Regionalexpress hatte den Bremer Bahnhof gerade verlassen und war gestopft voll, wie immer. Wahrscheinlich würde es hinter Oldenburg besser werden. Nach Ostfriesland fuhren nie viele Menschen, es sei denn, es war Ferienbeginn, und die Touristen wollten nach Norddeich an die Küste.

Der Rucksackträger, der neben Beenes Sitzplatz im Gang stand und ihm bei jeder Bewegung sein Gepäckstück gegen die Schulter stieß, trug Tarnkleidung und Springerstiefel. Ein armer Rekrut mit schwerer Atmung und Schweißflecken unter den Achseln, dem fürs Umziehen die Zeit zu knapp geworden war, das Gesicht von Wärme und Anstrengung rot angelaufen. Beene schwankte einen Augenblick zwischen Mitleid und Widerwillen, wandte dann seinen Blick Richtung Fenster. Wer hatte den Kerl in seine Stiefel gezwungen? Niemand. Und wahrscheinlich hätte er auch entspannt einen späteren Zug nehmen können, dann wäre hier jetzt wenigstens etwas mehr Platz im Waggon.

Beene war nicht in der Stimmung, großzügig und duldsam zu sein. Die Enge schnürte ihm die Luft ab und er fühlte Panik in sich aufsteigen. Als die Luft vor seinen Augen zu flimmern begann, schloss er seine Lider und versuchte sich vorzustellen, er wäre allein in einem großen leeren Raum. Er zwang sich, tief ein- und auszuatmen, trotzdem schlug ihm weiterhin das Herz bis zum Hals und der Stoff seiner kurzen Hose fühlte sich unter seinen Händen so feucht an, dass er vermutete, ebenso Träger dunkler Flecken zu sein wie der Soldat neben ihm.

Der Zug fuhr im Delmenhorster Bahnhof ein, und wie durch ein Wunder stiegen der Soldat und zwei weitere junge Männer, die den Mittelgang blockiert hatten, aus. Beene entspannte sich ein wenig, ließ seine Schultern sinken und wischte sich den Schweiß von der Stirn. Es würde alles gut werden, versuchte er sich zuzureden. So wie die zunehmende Distanz, die er zwischen sich und Göttingen legte, erleichterte ihn auch der sich vergrößernde Raum um ihn herum, und das grelle Rot der Panik verblasste zu einem trübseligen Blaugrau.

Er hatte in den letzten Wochen an der Universität die Abschlussklausuren des vierten Semesters geschrieben und war in zwei von drei Fällen gescheitert. Die noch ausstehende Hausarbeit im sechsten Modul hatte er daraufhin gar nicht mehr angefangen. Er hatte das Semester nicht gepackt, wie auch schon zwei Klausuren aus dem vorhergehenden nicht, und würde im Oktober dort wieder anfangen müssen, wo er schon vor einem Jahr gestanden hatte. Ihm drohte ein schmerzhaftes Treten auf der Stelle, doch so weit wollte er es nicht kommen lassen. Wozu sollte es gut sein, sich durch ein Studium zu kämpfen, das ihm seit dem ersten Semester eine Qual gewesen war?

Als er sich vor zwei Jahren für Sozialwissenschaften einschrieb, hatte er in einer seltsam abstrakten Art und Weise geglaubt, lieber mit Menschen umgehen zu wollen, als in einem Büro zu sitzen, und jetzt hockte er jeden Tag an seinem Schreibtisch und versuchte, sich die Methoden der empirischen Sozialforschung anzueignen. Wenn er gewusst hätte, wie theoretisch dieses Studium war, hätte er es niemals begonnen. Und inzwischen konnte er sich auch gar nicht mehr erklären, warum er jemals gedacht hatte, er wolle gern mit Menschen zu tun haben.

Von seinen Kommilitonen kannte er nach zwei Jahren kaum jemanden, die anderen Studenten bildeten für Beene ein Universum, in das er keinen Einlass fand. Sie standen in Grüppchen zusammen und hielten große Reden, jeder hatte etwas zu sagen und fühlte sich dazu berechtigt, seine Meinung zu äußern. Die unvorstellbare Selbstverständlichkeit, mit der seine Mitmenschen durchs Leben schritten, erstaunte und verunsicherte Beene gleichermaßen. Wenn er einen Hörsaal oder Seminarraum betrat, überkam ihn immer das Gefühl, erst einmal beweisen zu müssen, dass er sich hier sehen lassen durfte, so als wäre er ein ungeladener Gast auf einer Cocktail-Party. Und je kleiner und persönlicher die Runden waren, in denen seine Mitstudenten sich aufhielten, umso bezwingender war dieses Gefühl, nicht dazuzugehören.

Er war ein Junge vom Land, aber nicht der Sohn eines Bauern, als der er zumindest einen gewissen Hofstolz hätte entwickeln können, sondern nur der jüngste Sohn eines ostfriesischen Landmaschinenvertreters. Und dieser war nur deshalb nicht Bauer geworden, weil auch er nur der jüngste und damit nicht erbberechtigte Sohn gewesen war. Das war ein so grotesker Mangel an sozialem Hintergrund, dass es Beene unmöglich erschien, über sich selbst und seine Herkunft zu sprechen. Er glaubte, damit ganz sicher einige Lachsalven auszulösen, aber sein Fell war nicht dick genug, um das ertragen und gesellschaftlichen Profit daraus ziehen zu können. Witze auf seine Kosten vergifteten seine Seele, nagten an seinem Stolz, das wusste er aus der Schulzeit.

Manchmal sprach ihn ein Mädchen an, dem der schüchterne große Junge mit den braunen Locken gut gefiel, doch dann reagierte er so unsicher und wortkarg, dass es genauso schnell verschwand, als wenn er es laut beschimpft hätte. Er war einsam in Göttingen, so einsam, dass Beene diesen Zustand für nicht mehr steigerungsfähig hielt. Es war die finstere Fortführung der schon trüben Einsamkeit seiner Jugendzeit; seine Freunde, allen voran Hauke, hatte er auf der Grundschule kennengelernt, und seitdem niemanden mehr.

Inzwischen tröstete er sich damit, dass er die Menschen sowieso lieber nicht kennenlernen wollte, am wenigsten jene, um die es in seinen Studien ging. Und da es ein wissenschaftlicher Studiengang war, der für sich beanspruchte, über das gesellschaftliche Zusammenleben an sich zu lehren, bedeutete das anscheinend, dass ihm die ganze menschliche Rasse zunehmend zuwider war. Der Mensch war ein Rudelwesen und in seinen archaischen Verhaltensweisen noch nicht weit von den Bäumen entfernt, von denen er einmal gestiegen war. Witziger, genialer Individualismus spielte bei den Soziologen keine Rolle.

Nach allen zähen Vorlesungen, die er schon besucht und überstanden hatte, gab ihm die Lektüre eines – er musste es zugeben – spannenden Buches über die öffentliche Meinung und deren Bedeutung für die Gesellschaft den Rest, was seine Entfremdung vom Rest der Welt, insbesondere aber von den Soziologen anging. In diesem Buch stellte die Meinungsforscherin Elisabeth Noelle-Neumann etliche Studien vor, in denen die Beeinflussbarkeit des Menschen als soziale Wesen untersucht wurde.

Eine Testreihe aus den fünfziger Jahren, von einem Team amerikanischer Wissenschaftler durchgeführt, verstörte Beene bei der Lektüre besonders. Dabei wurde den Testpersonen vorgegaukelt, es handele sich um einen Versuch über den Zusammenhang zwischen Schmerz und Konzentrationsfähigkeit. Der Proband sollte als Lehrer einem Schüler im Nebenraum, zu dem nur eine Verbindung über eine Sprechanlage, aber kein Sichtkontakt herrschte, Aufgaben stellen. Der Schüler im Nebenraum war verkabelt. Wenn er eine falsche Antwort gab, sollte der Lehrer ihm einen Stromstoß geben und die nächste Frage stellen. Die Stärke der Stromstöße sollte dabei gesteigert werden, die Anweisung dazu, wie hoch, gab der Wissenschaftler, der sich mit im Raum des Lehrers befand.

Würden die Lehrer ihre Schüler mit Stromstößen quälen, wenn es zu einem Versuch gehörte, zu dem sie sich vorher bereit erklärt hatten? Ja, das taten sie. Würden sie aufhören, wenn sie die ersten Schreie hörten oder erst, wenn die Stromstärke die deutlich am Drehschalter markierte, tödliche Höhe überstieg? Nein, viele hörten auch dann nicht auf. Gepeinigt, gequält wie ihre Schüleropfer, versuchten sie Einspruch zu erheben, aber letztendlich hörten sie doch auf den Versuchsleiter, denn schließlich hatten sie sich verpflichtet, der Wissenschaft zu dienen.

Was sie nicht wussten, die Lehrer: Sie selbst waren die Opfer. Es gab keinen Schüler im Nebenraum, die Antworten und Schmerzensschreie wurden von Band abgespielt und die eigentliche Forschungsfrage lautete: Zu wie viel Grausamkeit ist ein Mensch bereit, wenn es ihm von einer Autoritätsperson befohlen wird?

Von dem kleinen Prozentsatz derer abgesehen, die auf sozialen Druck weitgehend unempfindlich reagierten, war die Menschheit bereit, all ihr Wissen, all ihre Moralvorstellungen zu leugnen, wenn sonst Schmähungen und Isolation drohten, zu diesem Ergebnis kam die Meinungsforscherin in ihrem Buch. Den mündigen Bürger, diese hehre Vorstellung der Aufklärung, es gab ihn nicht. Vielmehr war der Einzelne beständig auf der Suche nach der Instanz, von der er sich vertrauensvoll leiten lassen durfte.

Nach der Lektüre war Beene weit davon entfernt, mit neuem Interesse für sein Studienfach erfüllt zu sein; er hatte seelisch schwer zu kämpfen. Für ihn waren nicht nur die Ergebnisse der Testreihen verstörend. Was ihn noch betroffener machte, war der Wissenschaftsbetrieb, der in der Lage war, sich diese Versuche auszudenken, der bereit war, den Einzelnen im Labor zu entlarven und an persönliche moralische Abgründe zu führen, nur um danach in Statistiken festhalten zu können, bei wie vielen es gelungen war. Wie konnte ein Wissenschaftler die absolute Unfähigkeit seines Probanden zu eigenverantwortlichem Handeln konstatieren, ohne sich gleichzeitig zu Tode zu schämen, dass er diesen auf so rücksichtslose Art bloßgestellt hatte? Beene erschien das menschenverachtend, kaum besser als die medizinischen Versuche, die das Dritte Reich unternommen hatte.

Wurden die Probanden im Nachhinein darüber aufgeklärt, dass sie nicht wirklich jemanden gefoltert hatten, sondern selbst beobachtet wurden? Über dieser Frage grübelte Beene die ganze Nacht, nachdem er das Buch zu Ende gelesen hatte. Und was war für diese eigentlich besser? Der Glaube, einen Menschen gefoltert zu haben oder das Wissen, dass man einen Menschen gefoltert hätte, nur weil man nicht aus der Rolle fallen wollte, und dass alle anderen jetzt wussten, was für ein brutaler Schwächling man war?

Sein Studienfach sezierte die Gesellschaft, ohne zu erkennen, dass diese aus verletzlichen Individuen bestand. Diese Erkenntnis machte Beene Angst. Ihn trieb ein geheimes Grauen aus den Hörsälen, die Vorstellung, er werde selbst bald auf dem Seziertisch liegen und auf seine Standhaftigkeit und moralische Größe überprüft werden, wenn er nicht so schnell wie möglich floh.

Ja, es war eine Flucht, eindeutig, und so saß er hier jetzt, verschwitzt, Panik im Herzen, die Augen vor der unerträglichen Realität noch immer geschlossen. Eine entspanntere Fahrt hätte seinem überstürzten Aufbruch und seiner inneren Verfassung so wenig entsprochen, dass er dieses stickige Großraumabteil irgendwie passend, fast schon angemessen fand. Ihm fehlte die innere Kraft zu dem Urteil, dass er zum Wissenschaftsbetrieb seiner Fakultät einfach nicht mehr dazugehören wollte, weil es ihn abstieß. Und somit war es keine große freie Entscheidung, das Studium abzubrechen, wie ein anderer es sich selbst und allen anderen glaubhaft gemacht hätte, sondern ein weiterer Schlag, den er einzustecken hatte.

Er fürchtete die Auseinandersetzung mit seinen Eltern. Sie hatten sich zwar nie für seine Berufswünsche interessiert, aber sie unterstützten ihn finanziell, und er vermutete, dass sie zumindest deshalb eine Erfolgserwartung an ihn hatten, eine Erwartung, die er heute endgültig würde enttäuschen müssen. Er hoffte, dass Hauke ihm bei dem Gespräch zur Seite stehen würde, Hauke war Spezialist darin, Meinungen zu äußern, immer bereit, Stellung zu beziehen, ohne sich mit Zweifeln an deren Allgemeingültigkeit zu belasten. Je länger Beene dagegen über ein Problem nachdachte, umso mehr erfasste er die Tatsache, dass die Welt komplex und ihre Fragen zu kompliziert waren, um sie mit kurzen Sätzen zu beantworten. So war es auch im Studium gewesen. Je mehr er lernte, desto besser konnte er all die tiefen Schluchten der Wissenslücken erkennen, die sich zwischen den Inselchen gesicherten Wissens auftaten, die er sein Eigen nennen konnte. Und diese Erkenntnis ließ ihn nicht nur zögern, sich feste Meinungen zu bilden, sie hinderte ihn auch daran, Entscheidungen zu treffen. Zu groß war die Gefahr, etwas Entscheidendes übersehen zu haben.

Bei Hauke schien dagegen immer alles leicht. Nach seinem Realschulabschluss hatte er eine Ausbildung zum Maler und Lackierer gemacht, um irgendwann den Betrieb seines Vaters zu übernehmen, sich dann jedoch entschieden, erst einmal woanders zu arbeiten, um Konflikte zu vermeiden. Keine Angelegenheit, die Hauke ins Schwitzen brachte. Er war jung, das Leben noch lang. Beene bewunderte die Leichtigkeit, mit der es seinem Freund gelang, Distanz zu schaffen, ganz ohne die räumliche Entfernung, die er selbst gemeint hatte, zwischen sich und seine Eltern legen zu müssen. Er hatte die zähen Familienbande bis zum Zerreißen gespannt, um sich selbst seine Eigenständigkeit zu beweisen und wurde jetzt mit dem elastischen Schwung eines Gummibandes in die Heimat zurückkatapultiert, als sei er völlig ohne Eigengewicht. Hauke hatte seinen kurzen Faden einfach durchgeschnitten.


Der Zug fuhr in Oldenburg ein, und wie erwartet leerte sich das Großraumabteil bis auf wenige Reisende, die sich neu über die nun großzügig vorhandenen Sitzplätze verteilten. Beene blieb allein in seiner Vierergruppe Sitze und konnte endlich seine langen Beine ausstrecken. Mit Erleichterung stellte er fest, dass sich auch sein Geist zu entspannen schien und offensichtlich bereit war, den neuen Raum um ihn herum mit Gedanken zu füllen.

In Oldenburg hielt der Zug immer fahrplanmäßig mindestens zehn Minuten. Warum, das wusste Beene nicht so genau, vielleicht Personalwechsel? Oder ein eingebauter Puffer, damit die Züge wenigstens manchmal pünktlich ankamen? Als er endlich abfahren sollte, öffnete sich noch einmal die Tür und ein rothaariges Mädchen kam atemlos ins Abteil und ließ sich Beene gegenüber auf die Sitzbank fallen. Sie legte ihr Handy neben sich aufs Polster und durchwühlte ergebnislos ihre Taschen, fluchte leise und steckte das Handy wieder weg. Kopfhörer vergessen, dachte Beene. Seine lagen irgendwo in seiner Reisetasche, und einen kurzen Moment überlegte er, ob er sie hervorkramen und verleihen sollte, dann verwarf er die Idee. Wahrscheinlich fand sie es abstoßend, die Stöpsel fremder Leute in ihre Ohren zu stecken. Die Rothaarige schaute aus dem Fenster. Die schräg ins Abteil scheinende Sonne leuchtete von hinten durch die lockigen Strähnen, die ihr schmales Gesicht einrahmten, und machten sie zu einer rotgoldenen Aureole.

Wegen der Sonne musste Beene blinzeln, und aus schmalen Schlitzen versuchte er unauffällig, das Mädchen zu betrachten. Sie trug ein ärmelloses, dunkelgrünes Sommerkleid, das ihr bis an die Knöchel reichte und dazu dunkle Ledersandalen, ihre Füße hatte sie auf den schmalen Vorsprung gestellt, in dem die Heizung untergebracht war. Die schlanken, nackten Arme umschlangen ihren Oberkörper, als müsste sie sich trotz der Hitze draußen wärmen. Für eine Rothaarige war sie gar nicht so blass, fand Beene, obwohl ihre Haut so aussah, als könnte sie sich nur zaghaft entschließen, eine sommerliche Färbung anzunehmen. In dem sanften, durchscheinenden Braunton lagen viele etwas dunklere Sommersprossen, auch in ihrem Gesicht fanden sie sich in einem schmalen Streifen, der vom Nasenrücken aus über beide Wangenknochen lief.

Beene fand sie beeindruckend schön. Er konnte seine Augen nicht von ihr abwenden, und als die Sonne hinter einer Wolke verschwand, gab er seine Blinzeltarnung auf und betrachtete sie ohne jede Zurückhaltung. Die schmale gerade Nase saß über einem vollen Mund, besonders die Oberlippe war ganz leicht aufgeworfen, sodass in dem blassen Flaum darüber ein kleiner Schatten lag. Ihr Mund hatte etwas Kindliches, und trotzdem war ihr Gesicht so ausdrucksstark, wie es bei geschlossenen Augen nur möglich war.

Das Mädchen bemerkte Beenes peinliches Starren nicht, sie schien völlig in sich versunken zu sein, ein wunderbares Forschungsobjekt für Betrachtungen menschlicher Eigenschaften, die einmal ausnahmslos zu erbaulichen Ergebnissen führten. So einfach, hell und klar konnte das Leben sein. In Beene wuchs die Freude über diesen unerwarteten Balsam für seine Sinne, bevor er überhaupt nur ein Wort mit der Schönen gewechselt hatte. Da nahm er plötzlich und mit einiger Betroffenheit die Träne war, die an der schmalen Nasenwurzel entlang und um ihren Flügel herum kullerte und im Schattenbett der Oberlippe hängenblieb. Das Mädchen versuchte, ihre reglose Körperhaltung beizubehalten, doch ganz gelang es ihr nicht. Die sanften Wölbungen ihrer Schlüsselbeine zuckten einige Male und verrieten ein unterdrücktes Schluchzen.

Diesmal zögerte Beene nicht. Er kramte in seiner Reisetasche und holte eine Packung Papiertaschentücher hervor, die er ihr entgegenhielt. Er wollte dazu etwas sagen, doch zuerst musste er einen Kloß im Hals hervorräuspern. Das Geräusch reichte aus, damit sie ihre Augen öffnete.

„Danke“, sagte sie spröde und schnäuzte sich leise. Dann wandte sie den Blick ab und schaute in die vorüberfliegende Landschaft hinaus. Beene betrachtete sie weiter, unsicher, ob er noch etwas sagen sollte, sicher war ihr das Ganze peinlich und jedes Wort eines zu viel, aber andererseits schien ihm sein Schweigen unhöflich, sein Starren ebenso, doch wenn er jetzt seinen Blick senkte, würde es die Peinlichkeit der Situation nur noch verstärken. Sie schien seinen Blick zu spüren, denn sie knabberte ein wenig nervös an ihrer Unterlippe, bis sie sich zur Offensive entschloss.

„Was?“, fragte sie unwirsch und bestätigte damit Beenes Befürchtungen.

„Es geht dir wohl nicht gut, oder?“, fragte er dämlich zurück. Etwas Besseres fiel ihm nicht ein.

„Nein, offensichtlich nicht“, sagte sie kurzangebunden und schaute wieder aus dem Fenster.

Ein Gespräch war also nicht erwünscht, wie Beene es erwartet hatte, dennoch fiel es ihm schwer, einfach zu schweigen.

„Mir geht es auch nicht besonders“, sagte er daher etwas unüberlegt in dem Wunsch, Gemeinsamkeit zu schaffen.

Die Schöne verzog ihren Mund und Beene stieg das Blut in die Wangen. Sicher dachte sie jetzt, er gehöre zu den Leuten, die einen nur deshalb nach dem Befinden fragen, um sich dann über die eigenen Wehwehchen auszulassen. Sie schaute ihn geradeheraus an, und in ihren Augen, die durch den Tränenschleier so dunkelgrün wie ihr Kleid zu leuchten schienen, war Widerwille zu erkennen. Doch anscheinend hin- und hergerissen zwischen dem Wunsch, in Ruhe gelassen zu werden und dem Bedürfnis, auf sein Verhalten zu reagieren, entschloss sie sich, zu sprechen.

„Meine Mutter stirbt gerade an Krebs, sie liegt in Oldenburg im Klinikum“, sagte sie leise.

Beene senkte beschämt seinen Blick. Mit einer solchen Offenbarung hatte er nicht gerechnet. Das war hart, so viel härter als seine eigenen Sorgen, dass er das Einzige tat, das ihm angesichts der Pietätlosigkeit, mit der er das Mädchen zu diesem Geständnis getrieben hatte, übrigblieb: Er hielt seine Klappe. Nicht einmal eine Floskel brachte er über die Lippen. Ein Gespräch mehr, dass er nicht hatte führen können, es kam kaum noch darauf an. Es waren nur noch vierzig Minuten bis Leer, die würde er auch schweigend überstehen.

Doch die nun eintretende Stille schien wie ein Vakuum, das gefüllt werden wollte und die Wörter förmlich aus dem Mädchen heraussog. Sie wollte gar nicht mehr schweigen, sondern den Kummer aus ihrer übervollen Seele fließen lassen, und dieser naive Typ schien genau der richtige, um sich das anzuhören, schon als Strafe dafür, dass er meinte, sie dumm anquatschen zu müssen.

„Sie stirbt und lässt mich einfach allein“, begann sie und schüttete dem zunächst verdutzten und dann immer betroffeneren Beene ihr Herz aus, bis der Zug schon Augustfehn passiert hatte und nur noch zehn Minuten Fahrtzeit blieben.

Sie erzählte ihm von ihrer Angst, bald ganz allein im Leben zu stehen, aber auch von einer unerklärlichen Wut, die sie in sich trug und die es ihr fast unmöglich machte, einen Besuch bei der Mutter zu ertragen, die doch eigentlich liebevolles Mitgefühl von ihr erwarten konnte, wo sie stattdessen nur Lust verspürte, die Einrichtung des Krankenzimmers zu zerschlagen.

Beene hörte schweigend zu und unterbrach sie kein einziges Mal, und nachdem sie geendet hatte, blieb er sprachlos, erstaunt über ihre Offenheit. Sie betrachtete Beene einen Augenblick neugierig, sein trotz des Sommers schmales, blasses Gesicht unter dem dunklen, verwuschelten Haar, seine schmalen Schultern, die langen Arme und Beine. Dann fragte sie ihn mit echtem Interesse in der Stimme, wie er heiße und ob er aus Leer komme.

„Ich heiße Beene Boekhoff und komme aus der Nähe von Bunde“, antwortete er, und als müsse er noch eine Statusmeldung hinzufügen, ergänzte er: „Ich bin Bauer.“ Die Lüge war ihm locker über die Lippen gegangen, Beene nahm es als ein gutes Zeichen. Es war das Thema, das er gleich mit Hauke besprechen wollte. Ob er den Hof von seinem Onkel Rikus übernehmen sollte, jetzt, da er das Studium nicht mehr fortsetzen wollte. Das wäre eine identitätsstiftende Aktion, dann wäre er endlich irgendetwas, auf das er sich berufen konnte, und diese neue Identität probierte er jetzt einfach schon mal aus. Sein Gegenüber lachte.

„So viele B, Wahnsinn! Du siehst gar nicht aus wie ein Bauer.“

„Nein? Wie denn?“

„Eher wie ein Student.“

Beene schluckte, dann erzählte er ihr die Wahrheit. Während er sprach, schienen ihm seine Pläne sehr einleuchtend und schlüssig, und anscheinend war auch die schöne Rothaarige überzeugt, denn als er schwieg, sagte sie leichthin:

„Cool, ich heiße übrigens Anja.“

Sie fand einen Bauern cool? Das beflügelte ihn, und er strahlte sie an wie ein kleiner Junge.

„Ich würde dich Angel nennen, bei deinen Haaren.“

Anja lachte wieder, ihre Trauer war wie weggeblasen. „Quatsch, Teufel haben rote Haare. Und Angel klingt doch total albern, dann nennen einen nachher alle Angie.“

Sie schüttelte sich theatralisch.

Beene spielte den Beleidigten:

„Finde ich nicht. Ich werde dich immer Angel nennen.“

Das war forsch, dachte Beene, doch Anja blieb völlig entspannt.

„Ich wohne in der Lessingstraße 10, das ist in der Siedlung hinter dem Gymnasium. Wenn du Lust hast, kannst du ja mal vorbeikommen. Ich bin ja jetzt eh immer allein.“

Das war eine herbe Wahrheit, doch Anjas Stimme klang nicht mehr bedrückt. Kurz darauf fuhr der Zug im Leeraner Bahnhof ein.

Hauke stand auf dem Bahnsteig und wartete. Anja stieg vor Beene aus und drehte sich mit zum Gruß erhobener Hand noch einmal um, bevor sie im Bahnhofsgebäude verschwand. Hauke pfiff leise und grinste Beene an.

„Ich bin mit ihr verabredet“, sagte Beene.

Es klang beinahe überrascht, als würde er sich dessen gerade erst richtig bewusst.

„What?“, rief Hauke und klopfte sich auf den Oberschenkel. „Du hast ein Date mit Anja Fresemann? Ich fass‘ es nicht, wer hätte gedacht, dass so ein Aufreißer in dir steckt?“

„Ich hab‘ sie nicht aufgerissen“, widersprach Beene genervt. Er wollte nicht, dass Hauke diese bedrückend traurige und gleichzeitig so wunderbare Begegnung auseinandernahm und als gelungene Anmache hinstellte.

„Wir haben uns gut unterhalten und dann hat sie gesagt, ich solle mal bei ihr vorbeikommen.“

Hauke grinste noch immer breiter als ein Frosch.

„Woher kennst du sie denn überhaupt?“, fragte Beene, um davon abzulenken, dass er hochrot angelaufen war.

„Aus dem Miracle natürlich, sie ist jedes Wochenende da. Geht in die Zwölfte am Gymnasium und ist für unsereins unerreichbar. Dachte ich jedenfalls bisher immer.“

„Ich habe sie da noch nie gesehen“, sagte Beene und versuchte sich zu erinnern, wann er das letzte Mal im Miracle gewesen war, der Großraumdisco am Stadtrand, die einmal edel gewesen, inzwischen aber vor allem für seine Dealer und die Kampfbesäufnisse der Besucher bekannt war.

„Du bist ja auch nicht mehr hier. Anja hatte ihren Einstand wahrscheinlich, als du schon weg warst.“

„Ich komme jetzt wieder“, eröffnete Beene das Thema, das ihm auf der Seele brannte, wobei ihm die Tatsache, dass Anja in Leer wohnte, die Vorstellung einer Rückkehr nach Ostfriesland noch verlockender erscheinen ließ. Er erzählte Hauke mit knappen Worten, dass er sein Studium abbrechen werde und den Hof seines Onkels Rikus übernehmen wolle, der inzwischen arbeitsunfähig sei und keinen Nachfolger habe. Hauke schaute ihn entgeistert an.

„Du spinnst ja wohl völlig! Wozu hast du denn dann Abi gemacht? Um jetzt Bauer zu sein? Heute übernimmt kein Mensch mehr freiwillig einen Hof, nicht mal von den eigenen Eltern.“

Beene widersprach:

„Doch, denk an Markus Deckena und Wolf Feenders.“

Das waren ehemalige Mitschüler von ihnen, die die Höfe der Eltern einmal übernehmen würden, auf denen sie heute schon mitarbeiteten.

„Falsch“, schnappte Hauke, „ich habe letzte Woche noch mit Markus gesprochen. Der Hof wirft inzwischen so wenig ab, dass sich seine Eltern seine Mitarbeit eigentlich gar nicht mehr leisten können. Er bekommt ein Taschengeld zu Hause. Und so sieht es überall aus.“

„Das sind aber auch alles kleine Klitschenhöfe, der Hof von Rikus ist riesig, mit viel Land, und das Haus ist top in Schuss.“

Beene versuchte sich mit Überheblichkeit zu retten, doch das war nicht seine Art, und er wirkte nicht überzeugend. Hauke schüttelte nur seinen Kopf und Beene seufzte.

„In Wahrheit breche ich das Studium ab, weil ich es nicht gepackt habe. Und ohne Abschluss, was soll ich da schon machen? Der Hof wäre eine Möglichkeit, Geld zu verdienen. Und ich hätte endlich eine Orientierung im Leben.“

„Was heißt nicht gepackt? Du hast doch bestimmt eine zweite Chance oder so, wenn du mal eine Arbeit verhaust, oder?“

„Es waren schon im letzten Semester zwei und diesmal auch. Ich müsste ein ganzes Jahr wiederholen.“

„Aber ich dachte, du willst studieren, um aus diesem Scheiß-Ostfriesland hier herauszukommen. Und jetzt gibst du so schnell auf?“

„Versuch doch mal, mich zu verstehen“, Beene Tonfall wurde bettelnd. „Ich studiere da herum und weiß nicht einmal, wofür. Ein Soziologe – weißt du eigentlich, was der macht? Der hockt den ganzen Tag am Schreibtisch und überlegt sich Theorien, mit denen er die Welt erklären kann. Oder er denkt sich fiese Experimente aus, um Machtstrukturen oder so zu beweisen. Sowas muss man aber nicht beweisen. Wer so was erforscht, der gibt nur den Diktatoren dieser Welt Gebrauchsanleitungen in die Hand.“

„Oder denen, die sie stoppen wollen.“ Hauke ließ nicht locker.

„Außerdem hättest du dir so was ja wohl vor dem Studium überlegen müssen.“

„Ich wusste ja nicht, was ich machen soll. Ich hatte auch keine Ahnung, wie es an der Uni ist. Alle labern schlau herum, reden von Demos und linken Aktionen, um die Welt zu retten, aber wenn in der Cafeteria das Klo verstopft ist, fühlt sich kein Arsch verantwortlich, den Hausmeister zu holen.“

Widerwillig musste Hauke lachen.

„Und, hast du den Hausmeister geholt?“

„Nein“, musste Beene zugeben, „aber ich habe auch nie richtig dazugehört. Auch deswegen möchte ich den Hof übernehmen. Damit ich endlich weiß, wer ich bin, wo ich hingehöre, wofür ich im Leben arbeite. Als kleiner Junge war ich immer bei Rikus auf dem Hof und er war immer nett und hat mir viel beigebracht.“

Der wilde, wehmütige Schmerz durchzuckte ihn erneut. Ein einfacher roter Faden. Von hier aus direkt zurück in die Kindheit. Oder wohl eher umgekehrt. Ein roter Faden, der ihn zurückholte, ihm den Weg wies wie der Ariadne im Labyrinth.

„Aber deswegen musst du ja nicht gleich Bauer werden. Studier‘ doch etwas anderes.“

Doch jetzt hatte Beene zu der Überzeugung gefunden, die er brauchte, um auch anderen seine Pläne erklären zu können.

„Du hast gut reden. Du bist Lackierer geworden, genau wie dein Vater. Mein Vater hat aber nichts, was er mir einmal vererben kann, nicht einmal eine Vorstellung davon, was wichtig ist im Leben. Er hat immer nur Bilder gemalt, solange ich denken kann und noch nie eins verkauft. Und meine Mutter schreibt Bücher, das ist auch keine Lebenshilfe. Ich kann weder das eine noch das andere. Und ich will auch nicht mein ganzes Leben im Büro hocken. Also warum nicht Bauer werden? Vor allem, wenn gerade ein Hof abzugeben ist.“

„Okay“, Hauke seufzte, „ich geb‘ mich geschlagen. Es klingt nur völlig absurd, dass der schlauste Junge aus meiner Grundschulklasse jetzt Bauer wird.“

Beene nickte erleichtert. Er hatte Hauke nicht als Ratgeber gebraucht. Er hatte für sich selbst entschieden und ihn dann auch noch überzeugt. Jetzt fühlte er sich seit langer Zeit zum ersten Mal großartig.

Sie saßen noch immer im geparkten Auto auf dem Bahnhofsvorplatz. Das Café konnten sie sich jetzt sparen, also fuhr Hauke Beene nach Hause zu seinen Eltern. Die Fahrt verlief schweigsam, jeder hing seinen Gedanken nach. Als Beene in Charlottenpolder aus dem Auto stieg, grüßte er nur kurz; in der nächsten Zeit würden sie sich wieder öfter sehen.

Polderblues

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